Streben nach der Erkenntnis

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„Genauso machen wir das, Klaus!“ Leider zogen Tante Friedel, Onkel Herbert, Helga und Lothar am nächsten Tag auf die Juchhé in Kleinwaltersdorf. Die Juchhé war der Bahnhof Klewado, welcher mindestens zehn Kilometer fernab, nach einer unbebauten Straße Richtung Hainichen, lag. In der Nähe dieses Bahnhofs waren eine Handvoll Häuser und in eines davon zog die Familie Schulze. Gleich nebenan war auch ein relativ großer Betrieb Müller und Straßburger als Landhandelsfirma, wo mit Holz, Kohle, Getreide und Düngemitteln gehandelt wurde. Das bot sich bei der Nähe des Bahnhofs an, denn hier war der Transport auf Gleisen günstig. Offensichtlich hatte mein Onkel, der Schulze, Herbert, eine Arbeit gefunden. Uns Kindern wurde ja auf diesem Gebiet recht wenig erzählt. Nun war ich also allein mit meinem Kummer zu den negativen Plänen von Oma gegenüber Opa. Ich konnte ja auch nichts weiter tun. In meiner Not erzählte ich es dem Kornblume, Erik, der aber auch nicht recht weiter wusste und den es offensichtlich auch nicht sehr interessierte. Also besuchte ich, außer Frida, vor allem unseren Opa und versuchte, auf ihn einzuwirken, dass er alles etwas sauberer und weniger gefährlich gestalten sollte. Er hörte sich auch meine Ratschläge wohlwollend an, schaute lächelnd und gütig auf mich. „Du bist ein guter Junge, Klaus. Komm nur mal öfter zu mir. Du wirst schon sehen – es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und ich versuche schon, den Priem nicht mehr an der Jacke abzuwischen. Mach’s gut – bis zum nächsten Mal, mein junger Freund.“ Ich freute mich über seine Bemerkungen, wollte dies gern Lothar mitteilen, er war ja aber weg und ich konnte ihn nicht einmal per Telefon erreichen. Eine Woche später hatte ich ein teuflisches Erlebnis. Ich war bei Oma, sie hatte mir gerade Erdbeerkompott gegeben und nebenbei erwähnt, dass dann meine Eltern und die Friedel kommen würden. Ich freute mich und das war so etwas von falsch. Sie kamen auch wirklich, auch Tante Friedel, wie angekündigt. Allerdings war in ihrer Begleitung Frau Dr. Erler-Dieda, die ich ja schon von meinem Nabelbruch her kannte. Sie klopften an, kamen herein und sprachen mit Oma. Ich verstand nicht alles, sie flüsterten geheimnisvoll, und ich war, wie immer, zu zurückhaltend, hatte aber begriffen, dass Opa von der Frau Doktor eine Spritze erhalten sollte. Plötzlich kam in mir Angst und Misstrauen hoch. „Verzeihung, weshalb soll Opa eine Spritze bekommen?“ Freundlich wandte sich die Ärztin zu mir hin. „Dein Opa ist sehr krank und aus diesem Grunde muss er ein Medikament gespritzt bekommen.“

„Damit er wieder gesund wird?“ Frau Dr. Erler-Dieda schniefte etwas unsicher. „Na ja, so richtig gesund wird dein Opa nicht wieder. Wir wollen aber das Beste für ihn. Nun geh mal zur Seite. Wir wollen jetzt rüber zu ihm gehen.“ Ich räumte das Feld, ging aber hinterher. Opa lag im Bett und schlief. Mutti sagte zu ihm: „Vater, da du krank bist, gibt dir jetzt die Frau Doktor eine Spritze.“ Opa schaute zu Mutti, sah die Ärztin und drehte sich willig um, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass die Spritze in den Po gegeben würde. Mit gemischten Gefühlen sah ich Opas Hintern. Bereitwillig zog er die Schlafanzughose nach unten und ich sah seinen blanken Popo. Er war weiß, fast wie ein Blatt Papier und ich war sehr erstaunt, denn Opa sah immer sehr braun aus. Auf der Stelle kamen in mir starke Mitleidsgefühle hoch, denn ich ahnte Schlimmes. Und Opa, das kleine Dummerle, tat immer alles, was höher gestellte, in diesem Fall sogar eine Frau Doktor, von ihm verlangten. So was aber auch! Die Ärztin knallte brutal und rücksichtslos die Spritze in eine Backe hinein und bat Opa, aufzustehen und sich anzuziehen, was dieser, leider Gottes, auch sehr devot und bereitwillig tat. Misstrauen und Angst stiegen richtiggehend, wie eine Welle von unten beginnend, in mir hoch. „Da soll nun wohl Opa in ein Krankenhaus?“, wollte ich mit ziemlich erregter Stimme wissen. Jetzt schaltete sich Tante Friedel ein. „Der Junge (so anonym hatte meine nette Tante noch nie von mir gesprochen, ich wurde immer unruhiger) sollte doch mal von hier weggehen!“ Prompt kam Mutti auf mich zu, legte mir eine Hand auf die Schulter und wollte mich wegschieben. Jetzt wurde ich aber doch zickig. „Mama, komm! Lass das! Ich will hier dabei sein und den guten Opa betreuen. Nicht, dass hier etwas Falsches passiert!“ Plötzlich rief Vater draußen vom Gang: „Klaus, komm doch mal schnell her – du sollst mal runter zur Selma Kornblume kommen. Die hat für Erik und dich etwas Leckeres gebraten.“ Nun wurde ich doch ziemlich unsicher, vor allem deshalb, weil alle mich so komisch anschauten. Das konnte ich noch nie leiden und machte mich immer verlegen und unsicher. Also ging ich zu Frau Kornblume und sah, dass sie eben erst etwas in die Pfanne legte. Es war also noch nichts gebraten und einfach eine Lüge von Vati. Voller negativer Gefühle rannte ich auf den Hof und konnte gerade noch sehen, wie Opa in ein weißes Auto mit rotem Kreuz, also ein Krankenwagen oder so etwas, hineingeschoben wurde. Jetzt war aber für mich das Maß an Halbwahrheiten und Lügen erreicht. Mir schossen die Tränen aus den Augen und ich rannte dem Auto hinterher. „Opa, guter Opa – pass ja auf, was die mit dir machen! Komm schnell wieder zurück, guter, lieber Opa!“ Ich heulte jämmerlich und ließ mich auch nicht beruhigen. Ich war tief verletzt, ging auch nicht zu Selma hinein. „Die müssen doch alle komplett verrückt sein! Ich soll jetzt etwas Leckeres, in der Pfanne Gebratenes essen, wo der Opa doch jetzt in das Unglück fahren muss! Unverschämtheit!“

Alle, die mich anfassten – Mutti, Vater und selbst Selma – und versuchten, mich zu beruhigen, schob ich empört weg. Mutti war ratlos, sie weinte plötzlich auch. „So habe ich meinen lieben Klausmann noch nie gesehen. Er ist doch so ein folgsames Kerlchen. Was haben wir nur falsch gemacht?“ Im Unterbewusstsein hörte ich das und antwortete mit der in mir vorhandenen, kochenden Wut „So schlecht habt ihr euch noch nie gegenüber Opa und auch mir gegenüber benommen. Ich werde dem Lothar alles erzählen und erwarte, dass Opa in ein paar Tagen wieder gesund zurück ist! Wenn nicht, so wird es die Oma, die an allem schuld ist – ihr aber auch – mit uns zu tun bekommen. Ihr seid Lügner und behandelt den Opa ganz schlecht.“ Mutti kam tränenüberströmt zu mir gerannt und wollte mich drücken. Ich schob sie erneut weg, rannte schluchzend – „Ich will nichts mehr von dir wissen, Mama!“ – davon.

In der nächsten Zeit hatte ich es nicht einfach, da sich alle mir gegenüber, bis vielleicht auf Frau Kornblume und Erik, anders verhielten als sonst. Mutti war traurig und lieb, Vater ernst und lieb, Tante Fridel war auf ihrer Juchhé und Oma schaute an mir vorbei – wenn sie mich einmal anschaute, dann äußerst giftig. Wer sich natürlich nett wie immer zeigte, das war Tante Frida. Also saß ich häufig in ihrem Zimmer und machte Schularbeiten. Das baute mich ein klein wenig wieder auf, lenkte mich ab. Ich getraute mich gar nicht zu fragen, wann Opa denn nun endlich zurückkäme. So vergingen Wochen. Zufällig wurde ich Zeuge, wie Mutti sich mit ihrer Schwester unterhielt. „Ich habe dort angerufen und mir wurde gesagt, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehen würde.“

„Ist er denn gesund?“

„Offensichtlich ja.“

„Trotzdem habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Geht es dir nicht ähnlich?“

„Gretel, bist wieder mal viel zu weich. Es ging doch nicht anders und die Oma hat unbedingt Recht. Hier wäre noch etwas Schlimmes passiert. Wir mussten doch handeln!“ Nun war es heraus – ich wusste Bescheid. Mit der Aussage, dass Opa gesund sei, fiel es mir Achtjährigem wie Schuppen von den Augen. Jetzt wusste ich, in welchem Ausmaß ich und auch Lothar hintergangen worden waren, denn es wurde uns erzählt, dass er wegen einer Krankheit ins Krankenhaus müsste. Diesmal wurde ich nicht zerrig, heulte auch nicht – mein Schmerz war aber viel größer als zuvor und dies vor allem, weil ich zweifach belogen worden war. Es kam sogar so weit, dass ich mich abends im Bett hin und her wälzte und Mühe hatte, einzuschlafen. Im Geiste sah ich Opa und hörte von irgendjemand, dass er krank sei und dann wiederkäme. Ich sah seine weißen Pobacken, er schlummerte, konnte sich nicht wehren und wurde schmählich hintergangen. Die Spritze wurde rücksichtslos in seine weiße Pobacke hineingehämmert – mir tat der Opa wiederum unendlich leid. Noch nie hatte ich solche Empfindungen in mir gespürt. Ab jetzt war alles anders. Ich war nicht mehr der kleine Klausmann, den man hintergehen konnte, ohne dass ich es erkannte. Menschlich war ich von Mutti, Vater, Tante Friedel und Oma zutiefst enttäuscht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gelebt, ohne mir tiefere Gedanken zu machen, ohne Fragen zu stellen. Übergangslos war ich von einem Moment in den nächsten gewechselt. Große Fragen hatte ich mir nie gestellt. Aber jetzt hatte ich Witterung aufgenommen, machte mich auf, meine Persönlichkeit zu finden. Die gleichen Gefühle, die ich damals als Junge auf dem Bauerngut hatte, verfolgen mich heute noch als Erwachsener. Wenn ich dieses Bild sehe, werde ich immer ganz niedergeschlagen, denn das war das Ende, das eindeutige Ende von Opas einigermaßen geordnetem Leben. Viel später – da war ich schon fünfzehn Jahre alt – erfuhr ich von meinen Eltern, dass Opa in ein Heim für Behinderte, wie sie es nannten, eingeliefert worden sei. Sie wollten mir auch erklären, weshalb dies notwendig geworden war. Entrüstet und beleidigt winkte ich nur ab. „Die Zusammenhänge sind mir schoooon bekannt.“ In meinem Berufsleben war ich zuletzt fast zwanzig Jahre als Bauunternehmer tätig. Da hatte meine Firma einen Auftrag erhalten, zwei Häuser an der Außenfassade in der Oberlausitz, im Krankenhaus Großschweidnitz, zu sanieren. Vom Auftraggeber wurde ich informiert, dass diese Gebäude als Irrenanstalten gebaut worden waren und noch in Funktion sind. Sie waren generell denkmalgeschützt und es gab sehr, sehr viele in Gesamtdeutschland. Dort erfuhr ich auch, dass die Patienten mittels Schocktherapie (Elektroschocks) behandelt werden. Ich fragte nach, weshalb dies erfolgen würde, und bekam von einem lustigen Menschen die flapsige Antwort: „Na, damit sich die Synapsen im Kopf, welche offensichtlich alle etwas verrückt sind, wieder ordnen!“ Ich konnte diese lustige Bemerkung nicht so heiter einordnen, da ich an unseren Opa denken musste und außerdem erfahren hatte, dass manche durch die stupide Behandlung in diesen Heimen erst verrückt gemacht wurden, obwohl sie einigermaßen normal hineingekommen waren. Nachdenklich und bedrückt dachte ich so für mich: Die bringen hier in der Irrenanstalt die Synapsen der Patienten in Unordnung, diese Schweine! Mein Onkel Heinel, mit dem ich in den letzten fünf Jahren seines Lebens (er wurde neunzig Jahre alt) im Briefverkehr stand und öfter telefonierte, wurde bei meinen Schilderungen über die Einlieferung seines Vaters unruhig und machte sich große Vorwürfe. „Weißt du, Klaus, ich habe mich viel zu wenig um meinen Vater gekümmert! Gib mir doch mal die Adresse und die Telefonnummer von Hochweitzschen!“ Allerdings musste ich meinen Onkel auf Folgendes hinweisen: „Onkel Heinel, der Opa ist aber ja nun schon lange tot und du kannst ihm jetzt kaum noch was Gutes tun!“ Ich schilderte ihm auch, dass mein Vater Opa einmal in dieser Anstalt besuchte. Dabei kam es zu folgendem Vorfall. Nachdem sie sich ein wenig unterhalten hatten, ging Opa mit seinem Kopf ganz nahe an meines Vaters Ohr und flüsterte aufgeregt: „Herbert, ich weiß genau, wo hier der Ausgang ist. Da können wir beide abhauen! Herbert, komm schnell, damit es ja niemand merkt!“ Als ich diese Bemerkung von Opa aus meines Vaters Mund hörte, kam wieder kurzzeitig die alte Stimmung und Empörung, die aber längst einer tiefen Traurigkeit gewichen war, da alles ja ohnehin keinen Sinn mehr hatte und Vergangenheit war, wieder in mir hoch. Selbstverständlich teilte ich auch meinem Onkel die letzten Sätze seines Vaters mit.

 

TRAURIGER ABSCHIED VOM BAUERNGUT

Onkel Heinel war mit seiner Familie bereits umgezogen, Tante Friedel mit ihrer ebenfalls – nun stand das Gleiche für uns an. Meine Eltern informierten mich, dass wir ins Mitteldorf umziehen würden. Ich nahm es zur Kenntnis. Noch heute wundere ich mich, wie gleichmütig, willig, ich solche Veränderungen als gottgegeben zur Kenntnis nahm. Aus heutiger Sicht war ja damit ein äußerst wichtiger Lebensabschnitt zu Ende gegangen. Als Baby war ich Städter in Chemnitz und wurde urplötzlich ein Dorflude auf einem Bauernhof mit völlig anderen Abläufen als in der Stadt. Ich lernte kennen, wie Tiere versorgt werden, wie man Milch gewinnt und diese an eine Molkerei abliefert, genauso, dass Hühner Eier legen, wie gesät, geerntet und weiterverarbeitet wird. Mit dem Einsatz der Kriegsgefangenen hatte ich auch begriffen, wie Menschen mit anderen umgehen und sie ausnutzen. Es war schon eine geballte Ladung an neuen Dingen, Wissen und Erfahrungen, die ich kennenlernen durfte. Das Wesentlichste war sicherlich die Erkenntnis, wie hart Menschen arbeiten müssen, um für sich und andere der Natur Lebensmittel abzugewinnen. Es war aber auch interessant und schön, diesen Prozess zu erleben. Ohne diese philosophischen und theatralischen Betrachtungen anzustellen, verabschiedete ich mich von unserem Bauerngut. Dies tat ich relativ nonchalant, da ich als Kind die Bedeutung dieses Abschnittes noch nicht ermessen konnte. Ich ging zu meiner Lieblingskuh Elsa, drückte ihren Kopf an den meinen, hörte ihr freundliches Brummen und Schnaufen und wischte mit der Hand die paar Spritzer und den Schleim ab, den ich bei diesem freundlichen Akt von ihr abbekommen hatte. Das war meiner guten Elsa scheinbar zu wenig, denn plötzlich schleckte sie, wie in alten Tagen, mein Gesicht von unten nach oben zweimal ab. Mutti, gut, dass du es nicht sehen konntest. Das gehört nun aber eben mal zu einem so lieben Abgang dazu. Zum Abschied klopfte ich ihr noch einmal auf ihren mächtigen Hals. „Lebe wohl, meine gute Elsa!“ Bei meinem Verabschiedungsrundgang besuchte ich auch die Hühner, an der Spitze Huppenan, den es immer noch gab. Als er mich sah, ging er mit dem Kopf wieder stark nach unten, breitete die Flügel aus und demonstrierte mit diesem düsenflugzeugähnlichen Aussehen seinen ungebrochenen Angriffswillen. Ich ging schnell zur Seite. Er beruhigte sich. Natürlich war ich vor allem bei Schimmel und Lore, welche ich übermächtig liebte, vor denen ich aber immer noch Angst wegen ihrer übermächtigen Größe hatte. Ich brachte es gerade fertig, sicher mit sehr ängstlichem Gesicht, beide etwas am Kopf, links und rechts ihrer großen Nase, zu streicheln. Dies gelang mir aber nur, weil ich im Nachbarstall auf einen Schemel gestiegen war und von dort, durch eine Mauer getrennt, diesen meinen Liebkosungsakt ausführen konnte. Als ich zur Tür hinauslief, ging Schimmel mit den Vorderläufen in die Höhe und wieherte wild. Nun wurde mir doch etwas arg traurig ums Herz und ich überlegte, wie ich den beiden noch etwas Gutes tun könnte. Also ging ich zu Frau Kornblume in die Küche, holte mir eine große fette Möhre, zerteilte diese in der Mitte und ging noch einmal zu Schimmel und Lore. Das Spüren der weichen Lippen, ihres Atems sowie das leichte Schmatzen, als sie die halbe Möhre von meiner flachen Hand aufnahmen und verschnurbsten, tat mir richtig gut. In der Tür drehte ich mich noch einmal um und sah, dass mir die beiden äußerst interessiert mit nach vorn stehenden Ohren nachschauten. Jetzt ging es mir doch mächtig an meine Kinderseele. Allerdings überlegte ich mir, dass ich doch häufig hier sein würde, um Erik zu besuchen. Vor allem musste ich Tante Frida und Oma betreuen. Ich besuchte auch die Schweine, die mich, wie immer, schmatzend und grunzend lautstark begrüßten, aber auch die Tauben unterm Dach, um die ich mich eigentlich fast nie gekümmert hatte. Ihr Gurren war mir allerdings sehr vertraut und beruhigte mich immer sehr. Als ich über den Hof ging, stürzte sich ein Gänserich auf mich, vor dem mich aber Tell schützte, indem dieses kleine, tapfere Kerlchen einen Gegenangriff startete. Ich bedankte mich bei Tell für sein immer freundliches Wesen mir gegenüber, was er mit heftigem Schwanzwedeln, starkem Gebell und ständigem Hin- und Herspringen freudig quittierte. Zum Dank gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn, was ich bei Opa schon einmal beobachtet hatte. Dann waren die Menschen dran. Ich drückte Erik die Hand. „Wir sehen uns ja dann in der Schule“, und verabschiedete mich von seiner Mutter. „Alles Gute für Sie, Frau Kornblume.“

„Komm doch mal her, Klaus, jetzt drückst du mich noch einmal tüchtig und jetzt esst ihr beiden erst einmal jeder euer Butterbrötchen, was ich euch gemacht habe, und trinkt die heiße Milch. Eine Forelle konnte ich dir jetzt nicht braten, vielleicht fängst du nochmal eine und bringst sie mir. Uns würde es sehr gefallen, wenn du öfter einmal zu uns reinschaust. Du wirst sowieso häufig bei Tante Frida und bei deiner Oma sein und da freuen wir uns dann, wenn du uns besuchst. Wie gefällt es dir denn in eurem neuen Zuhause?“

„Na ja, ganz gut, ich hab auf alle Fälle einen kürzeren Weg zur Schule.“ Als ich nun, mit den besten Wünschen von Frau Kornblume versehen, von der Küche durch den Flur, zur Haustür hinaus, über den Hof und dann durch unser (was heißt hier unser – Kornblums hatten das Gut gepachtet) Holzbogentor lief, wurde mir doch etwas blümerant, unwohl und schmerzvoll ums Herz. So würde ich zumindest heute als Erwachsener meine damaligen Gefühle als kleiner Knirps von acht Jahren beschreiben.

Unsere neue Bleibe war direkt neben dem Mittelgasthof und der Fleischerei Leistner gelegen, nur einhundert Meter entfernt vom Dorfteich, auch Schenkteich genannt. Gleich dahinter war der Fußballplatz; ein Rasenplatz, zumindest dort, wo Rasen war. Meist waren aber nur ziemliche Erdlöcher zu sehen, mit einem Wort – es war ein Huckelplatz par excellence, wo man große Chancen hatte, sich die Fußgelenke zu brechen. Unser neues Haus befand sich auf einer ziemlichen Anhöhe, direkt vor dem erwähnten Fußballplatz, welche über einen ziemlich steilen Anstieg, der schräg von dem Vorplatz des Mittelgasthofes abging, zu erreichen war. Von unserem Haus hatten wir eine gute Übersicht auf den Mittelweg und angrenzende Felder und Wiesen, der auf der anderen Seite von Klewado bis nach Freiberg führte.

Schon seit längerem merkte ich, dass meine Eltern angespannte Debatten führten. Mich jungen Burschen bezogen sie natürlich nicht ein, aber, bedingt durch unsere kleine Wohnung, hörte ich fast alles mit. Zunächst begriff ich noch nicht, um was es sich drehte. Ich hörte, wie sie gemeinsam das Zeugnis der Firma Otto Weber von Radebeul lasen. Diese Firma hatte irgendwie buntes Glas im Angebot. Ich hörte:

Sie waren zuerst in Leipzig und in den letzten zwei Jahren als Hauptvertreter für die Kundschaft in Chemnitz und Westsachsen tätig. Herr Eulenberger hat es durch seinen Fleiß und seine Beharrlichkeit verstanden, für dieses Gebiet in der zweiten Jahreshälfte 1934 12 Prozent mehr Umsatz zu erreichen. Sie können stolz darauf sein, entscheidend zu diesem Ergebnis beigetragen zu haben, wobei wir auch mit unserer Anerkennung nicht zurückhalten wollen. Wenn Sie in diesem Sinne Ihre Arbeit fortsetzen, dann werden wir immer mit Ihnen zufrieden sein und Sie werden im Leben ein gutes Vorwärtskommen haben.

„Herbert, das ist ja bombastisch. Ich wusste schon immer, dass ich mit dir einen exzellenten Könner geheiratet habe!“

„Nun aber Schluss, Gretel, das ist alles Gewäsch, wenn mich die Firma Knorr, Heilbronn, bei denen ich ja zuletzt vor dem Krieg gearbeitet habe, nicht erneut weiter beschäftigt.“

„Ist ja richtig, Herbert, wir gehen gemeinsam noch einmal deine Bewerbung durch, wooobei …“ Mutti stockte, ihre Verwirrung erzeugte plötzlich fürchterlich viele Falten auf ihrer Stirn, „du dich ja eigentlich gar nicht neu bewerben müsstest, denn du warst ja, natürlich vor dem Krieg, angestellt. Sicher brauchst du nur zu schreiben – Bitte um Weiterbeschäftigung bei Ihnen, der Firma Knorr oder so ähnlich, Herbert.“

„Das ist natürlich richtig, Gretel, nur, wäre es nicht gescheit, wenn ich mich parallel dazu hier in der Gegend, zum Beispiel in Freiberg, als Kaufmann bewerbe?“

„Unbedingt, Herbert, tue das! Ich merke, dass du mich dazu nicht brauchst – ich bereite jetzt das Abendessen vor.“

Dann war erst einmal Ruhe mit diesem Thema. Aber schon in einer Woche setzte es sich, nur noch aufgeregter, fort. „Du, die Grube in Freiberg hat sich gemeldet. Ich soll dort nächste Woche vorsprechen.“ Strahlend antwortete Mama: „Herbert, ich hab große Hoffnung, dass wir wieder Wasser unter den Kiel bekommen!“ Ebenfalls überglücklich ging er darauf ein. „Wurde ja auch endlich Zeit – nach diesem unseligen Krieg und all den Sorgen. Auf dem Bauerngut hatten wir zwar eine gute Bleibe mit stabiler Versorgung, aber aus einem Kaufmann kann man so schnell keinen Bauer machen! Übrigens, Gretel, bist du unter die Seefahrer gegangen, weil du vom Kiel und Wasser darunter sprachst?“

„Ach, lass mal, wir hatten neulich in der Gemeinde so ein Thema, weil den Kiesbauers ihr Sohn in der Kriegsmarine war. Uns wurde avisiert, dass er in Kürze zurückkehrt. Er hat seiner Mutter einen fünfseitigen Brief geschrieben, den unser Bürgermeister geöffnet und uns vorgelesen hat. Da war viel vom Kriegsgeschehen auf See und der Hoffnung, dass immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel sein soll, die Rede. Er hatte so lieb an seine Mutti geschrieben. Wir haben fast die gesamte Zeit geweint und geschluchzt.“

„Wieso das, verstehe ich nicht, wenn der Sohn zurückkommt, ist das doch eine Freude.“

„Ach, Herbert, du weißt wieder nur die Hälfte. Man merkt richtig, dass du nicht in Kleinwaltersdorf gelebt hast. Hier sind während des Krieges nur zwei Häuser zerstört worden und eines war das von den Kiesbauers. Sie ist dabei umgekommen – fürchterlich, traaagisch, unheimlich trauuurig!“

Noch vor dem Termin in der Grube Freiberg erhielt Vater einen ziemlich dicken Brief von der Firma Knorr. Aufgeregt nestelte er daran herum, besah ihn von allen Seiten. Mutti sah man die Ungeduld und den Vorwurf gegenüber Vater an, so langatmig zu reagieren. Sie zog ein langes Gesicht, drehte erstaunt ihre Knopfaugen heraus und wunderte sich. Noch immer sagte sie nichts. Nun wurde es selbst Vater zu lang und er schaute hilfesuchend zu mir, der ich ihm gegenüber in der Stube am Tisch über meinen Hausaufgaben saß. Ich begriff schnell und reichte ihm einen Bleistift, den er rasch unter dem Kuvertverschluss hineinschob und hektisch nach oben riss. Laut knisternd zerriss der Verschluss. Ich fand – ziemlich liederlich. Muttis Gesicht veränderte sich aus der Vorwurfsausführung in ein normales, mir geläufiges, aber neugieriges. „Nun, los, Herbert, wird Zeit, dass du aus dem Knick kommst! Gib mir mal rasch her!“ Erstaunt, aber willig, reichte Vater ihr den Briefinhalt. Danach war längere Zeit Ruhe. Mutti las und Vater ärgerte sich schrittweise offensichtlich immer mehr. „Nun gib mal her oder lies vor! Du denkst wohl, ich hab nicht mitbekommen, wie vorwurfsvoll du vorhin geschaut hast, nur, weil ich ein bisschen überlegt habe. Jeder Mensch hat das Recht, auch mal in sich zu gehen. Schließlich war ich dort angestellt und nicht du. Lies endlich vor!“

 

„Herbert, die von Heilbronn loben dich über den grünen Klee, haben dich aber entlassen!“

„Gretel, jetzt langt’s! Du liest jetzt vor – aber ohne zu kommentieren! Denken kann ich schließlich selbst!“ Er sah, dass ich zusah und zuhörte und gab, ziemlich barsch, an meine Adresse von sich: „Weißt du, Klaus, man darf es, also, ich meine, wir Männer, dürfen es nicht mit der Gleichberechtigung der Frauen übertreiben. Du siehst ja hier selbst, was da für emanzipatorische Vorherrschaftsgebaren entstehen. Du solltest dir das für die Zukunft merken!“ Mutti schüttelte ziemlich energisch den Kopf, wollte kontern, aber man spürte, dass ihr der Inhalt des Briefes jetzt wichtiger war. Sie begann: „Hier erst mal das Zeugnis, Herbert“, sah mich an und ergänzte, „und Klaus. Herr Herbert Eulenberger, geboren 21. 11. 1908, stand vom 1. März 1938 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht im September 1939 als fest angestellter Reisender in unseren Diensten … wurde er mit unsere Vertretung in Chemnitz betraut. Während seiner, leider nur eineinhalbjährigen praktischen Tätigkeit für unsere Firma hat sich Herr Eulenberger als geschickter Verkäufer erwiesen, der infolge seiner Beliebtheit bei der Kundschaft ansehnliche Umsätze erzielte. Seine Haltung war stets einwandfrei, auch seine verbindliche Art im geschäftlichen Verkehr mit der Leitung unseres Außendienstes war erfreulich. Wir hegten die Erwartung, dass sich Herr Eulenberger zu einer unserer besten Reisenden entwickeln würde. Leider unterbrach der Krieg den weiteren Einsatz. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich zu unserem Bedauern nach Kriegsende so entwickelt, dass wir uns gezwungen sehen, Herrn Eulenberger, wie die meisten früheren Mitarbeiter im Außendienst nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft zu entlassen. Wir wünschen Herrn Eulenberger alles Gute für seinen ferneren Lebensweg.“

Mensch, Vater, du musst ja wirklich richtig gut gewesen sein!“, entfuhr es mir. Ich sah, dass Vater sich über meine Bemerkung freute. „Schau mal hier, Herbert“, sie hielt ihm das Papier vor die Nase, „hier in deinem Anstellungsvertrag. Erstens … erhält gegen Erfüllung der Vertragspflichten ein monatliches Gehalt von RM 350 und zweitens an Reisearbeitstagen folgende Spesen: RM 4 bei Tätigkeit am Wohnort einschließlich der Auslagen für Straßenbahn, RM 5 für Abstecher in die Umgebung, wenn abends Rückkehr zu dem Wohnsitz möglich ist, RM 10 für eigentliche Reisetouren, wo auswärts übernachtet werden muss. Außerdem vergüten wir das Eisenbahnfahrgeld 3. Klasse.“

Als ich jetzt diese Zeilen schrieb, musste ich schmunzeln. Die 3. Klasse gibt es schon lange nicht mehr. In Gedanken sah ich ganz deutlich deren herrlich körpergerecht geformten Sitze aus meist hellem, tadellosen Holz und darüber die grünen Netze, die in Stahlhalterungen hingen. Meine Frau erzählte mir, dass, wenn sie an die Ostsee fuhren, diese Netze nicht für Koffer genutzt wurden. Vielmehr legte ihre Mutti Decken darauf und sie konnte wunderbar süß neben ihrer ein Jahr jüngeren, vierjährigen Schwester bis nach Rostock schlafen.

Die Diskussion um Vaters hervorragende Leistung bewegte mich und veranlasste mich zu der Bemerkung: „Das wird ja immer toller, Vater – Respekt! Deine Arbeit wird ja enorm anerkannt. Aber sag bitte mal: Ihr habt da also in der Firma Weber und Knorr nichts hergestellt, ich meine, keine Produkte gefertigt?“

„Aaaaber, Klaus, die Firma Weber stellte buntes Glas her, für verschiedene Anwendungen, und die Firma Knorr Fertigsuppen, Maggi, Knorrsauce, Salatkrönung, Spaghetti, während des Krieges Zichorie als Kaffeeersatz und vieles andere mehr.“

„Ja, ja, Vater, aber du hast sie nur vertrieben?“

„Na klar, das war aber schwierig genug und verlangte immer eine enorme und vor allem geschickte Überzeugungsarbeit. Wie kommst du denn darauf?“

„Der Herr Jesus, dein Freund, erzählte unlängst in der Schule, wie wichtig es ist, Produkte herzustellen, die das Land braucht – von Brot und Brötchen über technische Geräte bis hin zu Autos und so weiter. Er sprach auch über den Vertrieb dieser Waren und wie wichtig der Handel sei. Doch prägte er auch den Satz: Allerdings ist es so, dass man mit Handel und Wandel immer mehr Geld verdienen kann als mit richtiger, ehrlicher Arbeit!“ Vater überlegte, zog plötzlich den Unterkiefer nach unten, verkniff die Augen und zeigte ein unheimlich beleidigtes Gesicht. „Also, Kleener, werde erst einmal erwachsen und leiste selbst etwas! Da wirst du sehen, wie schwer das ist! Eigentlich eine Frechheit von dir! Die Firma Knorr hatte einen Bienenkorb, Symbol für ein „fleißiges Völkchen“ als Markenzeichen der Firma und so handelten wir alle, ob sie nun in der Fabrik etwas herstellten oder vertrieben! Ende, Schluss!“ Schlagartig wurde ich mir der Bedeutung meines Satzes bewusst – obwohl, ich hätte ihn in jedem Fall angebracht, da er mir so gefiel und ich mein Wissen auch loswerden wollte. Mutti schaute, etwas besorgt und ängstlich, auf Vater und versuchte, die gerade wunderbare Stimmung, die in extremem Lob der Leistung meines Vaters gipfelte, zu bewahren. „Klausmann, ob nun Herstellung von Erzeugnissen bzw. deren Vertrieb – es muss alles mit Fleiß, Geschick und Intelligenz in die Reihe gebracht werden!“ Etwas kleinlaut warf ich ein: „Ja, ja, Mutti und Vati, das ist keine Frage! Ich wollte nur den Satz vom Jonas, der ja nun wirklich euer Freund ist, loswerden.“ Schon ein klein wenig besänftigt meinte Vater: „Mit dem Kerl werde ich ein ernstes Wörtchen zu reden haben! Machen wir doch einfach mal weiter mit dem anderen Schreiben, Gretel. Während ihr diskutiert habt, habe ich parallel mal weiter geblättert. Das ist ja mehr als beeindruckend, wie die Firma Knorr zu ihren Mitarbeitern – und das war alles vor dem Krieg – steht! Wahnsinn!“

Dieses Schreiben der Firma Knorr vom 4. Februar 1948 liegt nach 66 (!!!) Jahren jetzt vor mir. Es ist wirklich mehr als beeindruckend. Damit ich nicht wieder versucht bin, so viel zu kommentieren, gebe ich hier die wesentlichsten Inhalte wieder. Nachdem wir seit Jahren ohne jedes Lebenszeichen von Ihnen waren, war uns Ihre Nachricht, dass Sie jetzt endlich aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind, eine rechte Freude. Leider müssen wir aber nach unseren bisherigen Erfahrungen die Befürchtung hegen, dass Sie nicht ohne gesundheitlichen Schaden die Leidensjahre überstanden haben. Wir wünschen Ihnen aufrichtig, dass Sie körperlich sowie seelisch die Widerstandskraft aufbringen mögen, um nun auch die tiefgreifenden Veränderungen, die inzwischen in unserer Heimat stattgefunden haben, zu verkraften und den Anschluss an das neue und so viel schwerere Leben in dem zertretenen Deutschland finden. Wie aus Ihren Zeilen hervorgeht, haben Sie sich schon ohne jede Illusion den nüchternen Einblick in die jetzigen Verhältnisse verschafft und entheben uns damit der schweren Aufgabe, Sie von der vorläufigen Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung zu überzeugen. Unser Heilbronner Werk ist zwar mit einem 50-prozentigen Kriegsschaden über das Kriegsende hinweggekommen. Werk Posen und unsere sämtlichen Läger haben wir verloren. Von unserer Berliner Tochtergesellschaft sind wir getrennt, von Wales ganz abgeschnitten. Wie Sie schon haben feststellen können, ist die russische Zone für uns wie ausländisches Gebiet in das wir nicht liefern dürfen und nicht liefern können. Der Einsatz von Reisenden in der russischen Zone wäre ein Unsinn. Von unserem früheren Reisenden Kuhn in Gotha werden Sie von uns auch noch die Übergangsentschädigung erhalten. Wir haben aus vorstehenden Gründen weder heute noch in absehbarer Zeit eine Beschäftigungsmöglichkeit für Sie und müssen Ihnen deshalb mit diesem Schreiben unsere Kündigung aussprechen. Obwohl die Verhältnisse es verbieten, dass Sie ihre Arbeitskraft unserer Firma während der Kündigungszeit zur Verfügung stellen, gewähren wir Ihnen nach unseren Richtlinien für die Dauer von vier Monaten eine Übergangsentschädigung in Höhe von 75 Prozent Ihres letzten Bruttogehaltes von RM 350, also brutto RM 262,50.