Streben nach der Erkenntnis

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VATERS HEIMKEHR

An einem Abend – zwei Jahre nach Kriegsende – holte ich meine Mama, wie fast jeden Tag, vom Gemeindeamt ab. Es war 20 : 00 Uhr und bereits ziemlich dunkel. Wie üblich, ging ich zu dem rechten Hochparterrefenster, hinter dem ihr Arbeitsraum war, stieg auf die Sohlbank des darunter befindlichen Kellerfensters und klopfte dreimal an das Fensterglas. Von innen kam die äußerst fröhliche Antwort: „Koooooomme gleich, Klausmann.“ Ich wartete. Da es mir aber zu lange dauerte, ging ich die paar Stufen hoch, durch die Haustür und dann rechts rein durch die Tür, an der Gemeindeamt stand. Ich trat ein in einen großen Raum, welcher aber, schon nach reichlich zwei Metern, durch einen Tresen von dem übrigen Arbeitsbereich getrennt war. Es war so, wie ich es eigentlich schon kannte – ich sah Frau Walther, welche wie immer (anders hatte ich sie eigentlich noch nie gesehen) äußerst fleißig arbeitete. Sie hatte handschriftliche Unterlagen vor sich liegen, wobei sie den linken Teil in die Höhe hielt, etwas suchte und dann in eine Tabelle übertrug. Mutti stand daneben und sagte in etwa so: „Ursula, du musst den Umsatz in Getreide, Ergebnis pro Bauer, auflisten und das hier dann in der Tabelle erfassen.“

„Das ist aber mit einer unheimlichen Sucharbeit verbunden, Gretel, wie kommt das Kreisamt nur auf den Termin morgen?“ Mutti holte mitleidvoll tief Luft. „Du weißt, Ursula, für mich bist du der wahre Bürgermeister. Ich bin morgen früh pünktlich da und helfe dir. Jetzt muss ich erst mal mit dem Klaus gehen.“

„Ja, ja, Gretel, gehe nur – ich tue mein Bestes!“ Für mich war aber kaum zu übersehen, dass Muttis Freundin Ursula arg strapaziert wirkte und abgekämpft war. Als wir zusammen gingen, sagte ich ihr dies. „Ach, mein kleiner Klaus, das Leben ist manchmal gar nicht so einfach. Die Ursula ist eine ganz liebe Freundin von mir und wahnsinnig ehrgeizig. Sie will immer alles allein machen, ist aber nicht die schnellste. Bei der Sache, die sie jetzt bearbeitet, durfte ich ihr nicht helfen. Da hat sie ganz einfach ihre schon fast krankhafte Strebsamkeit, alles allein schaffen zu wollen, in etwa so: Da muss ich durch – wenn ich dies allein für das Kreisamt fertig bringe, fragen die sicherlich, wer das denn so rasch zusammengestellt hat und ich habe dann meinen Platz hier im Gemeindeamt gesichert. Eventuell hat ja die Gretel Recht, wenn sie sagt, ich sei der eigentliche Bürgermeister – und nicht der Jupp. Vielleicht werde ich sogar dazu berufen?

Als wir zusammen ein paar Minuten gelaufen waren, erschreckte uns plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit. „Gretel, bist du es?“

„Kann das wahr sein? Herbert, duuuuuu etwa?“ Dann stürmte Mutti zu dem fremden Mann und umarmte ihn fest und inniglich. Beide strichen dem anderen, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, mit ihren Händen über den Kopf, die Schultern, die Brust, den Bauch und sogar den Hintern. Mich verwunderte diese gegenseitige Abtasterei (heute würde ich sagen – es war schon fast ein Abscannen der Figur des anderen) enorm. Ich war wieder einmal unbeteiligt und begriff nur scheibchenweise. Außerdem ließen mich die beiden ziemlich lange, sehr lange – sie hatten ja offensichtlich ihre Befingerungsaufgaben exakt zu erfüllen – abseits liegen. Es erschallten laute Freudenrufe, danach wurde geschmatzt und geknutscht – es nahm kein Ende. „Und ich erst! Wir haben uns so ewig lange nicht gesehen!“ Erneute Umarmung, Umarmung lösen, neue Umarmung, schmatzender Kuss, glucksender Kuss, ein Kuss, den man nicht hören konnte. Ich wartete – steif und beleidigt. Heute als Erwachsener würde ich so formulieren: Ich wartete ziemlich entnervt und überlegte bereits ernsthaft, ob ich nicht vielleicht besser zur Ursula, also Frau Walther, zurückgehen sollte, denn da wäre ich sicherlich besser aufgehoben. Da plötzlich: „Hier ist auch der Klaus.“ Na, so etwas, an mich erinnerte man sich also auch noch – ganz toll, waren so meine Gedanken. Der Mann, wo ich nun wusste, wer es war, kam zu mir, umarmte mich, kramte in der Jackentasche und drückte irgendwas in meine Hände. Es fühlte sich an wie kleine Bausteine mit Ecken und Kanten. „Klaus, für dich, zum Spielen.“ Mutti drängte. „Komm, Herbert’l, wir gehen ins Gemeindeamt, damit wir uns einmal anschauen können.“ Bravo, bezaubernd, es geht rückwärts. Da hätte ich auch gleich zur Ursula gehen können. Mutti schloss zweimal auf und machte Licht. Frau Walther war nicht da. Ich erfuhr am nächsten Tag, dass sie die gesamte Arbeit mit nach Hause genommen hatte. Nun ging die Knutscherei aber erst richtig los. Ich war verblüfft, hatte ja aber die Bausteine mit Ecken und Kanten. Letztlich entpuppten sie sich als kleine Männlein, Zwerge, Bauern, Ringer, Reiter und Pferde aus Holz, hübsch geschnitzt, sie gefielen mir. Dann wandte sich der Mann an mich. „Groß geworden, Klaus, wie geht es dir? Gefällt es dir in der Schule? Hast du ordentliche Zensuren?“ Natürlich gefiel mir die Fragereihe keineswegs. Außerdem kam mir der Mann, der offensichtlich vorgab, mein Vater zu sein, äußerst fremd vor. Schemenhaft konnte ich mich besinnen, dass ich ihn einmal gesehen hatte, als er kurz auf Urlaub war. Mal sehen, wie sich die Sache mit ihm so anlässt und entwickelt, beruhigte ich mich selbst. Anschließend gingen wir dann nach Hause, wo sich alles um unseren neuen Gast, also meinen Vater, drehte. Mutti brachte mich auch nicht ins Bett wie sonst, sein Kommen war also nicht unbedingt ein Vorteil für mich. Am nächsten Morgen war der Neue nicht mit beim Frühstück anwesend. Auf meine Frage antwortete Mutti: „Vati musste jetzt erst einmal schlafen – der hat ja unheimliche Anstrengungen und Entbehrungen hinter sich. Kannst du das verstehen, Klausmann?“ Ich konnte. Zum Mittagessen war Vater dabei und sogar Mutti schaute kurz einmal für zehn Minuten zu uns herein. Das hatte es bisher noch nie gegeben – sie war immer den gesamten Tag im Gemeindeamt und kam erst am späten Nachmittag nach Hause. Plötzlich sagte Vater – zuvor kniff er mir zweimal freundlich in die rechte Wange: „Ich würde mir heute gern einmal das Dorf anschauen, das Gemeindeamt, wo Mutti arbeitet und so weiter und so fort. Du kommst doch mit, Klaus?“

„Das wird schlecht gehen, ich muss noch im Rechnen ein paar Aufgaben lösen und ein kurzes Gedicht lernen.“

„Wir beschränken uns nur auf eine Stunde oder vielleicht nur fünf Minuten darüber. Ich kann dir ja dann auch mit helfen.“ Zunächst liefen wir ins Oberdorf. Plötzlich kam uns eine Lehrerin meiner Schule entgegen. Ich schaute hin und sagte „Guttten Dooaach!“ Mein Vater nahm (elegant – das muss ich schon sagen) seine deutsche Mütze ab, indem er sie an dem großen Schild mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ergriff, vom Kopf zog und dann schräg nach vorn neigte. Er selbst beugte sich auch etwas vor und schaute die Frau während des Vorbeigehens mit dem Hut in der Hand die gesamte Zeit an. Als wir vorbei waren, setzte er seine Mütze wieder auf und es ging ein fürchterlicher Skandal los. „Klaus, was war denn das? Was stehst du denn hier rum! Stell dich mir gegenüber, schaue mir ins Gesicht und antworte! Wer war das?“ Ich war geschockt, stellte mich aber brav ihm gegenüber hin. „Luss moool, das war nur die Schabracken von unserer Schule, die alte Ziiiiiesche!“, entgegnete ich und spuckte empört zur Seite. Vater holte stoßartig Luft, stotterte vor Aufregung und stürzte Folgendes hervor: „Für dich ist das immer noch die Frau Schabracke, die du höflichst zu grüßen hast. Was macht sie denn in der Schule?“

„Die ist Klassenlehrerin und gibt Deutsch und Mathe“, entgegnete ich. Vater holte noch immer schwer Luft. Ich hatte den Eindruck, dass ihn irgendetwas schwer getroffen hatte. Aber was? „Also – ich stelle fest, sie ist eine Lehrerin. Sie ist deine Lehrerin in Deutsch und Mathe, wie heißt das im Langtext?“

„Demzufolge Mathematik.“

„Also pass auf“, seine Schnappatmung war immer noch da, wurde aber geringer, „wenn du irgendjemand triffst, vor allem Vorgesetzte wie Lehrer, betrifft aber letztlich jedermann, hast du freundlich zu grüßen, deine Mütze abzunehmen und deutlich und laut „Guten Tag, Frau Schabracke“ zu sagen. Verstanden? Dabei haste dich leicht zu verneigen und beim Vorbeigehen zu ihr hinzuschauen! Du darfst erst wegschauen, wenn du vorbei bist! Außerdem – sächsisch kannst du mit deinen Kumpels reden. Es heißt Guten Tag und außerdem – gespuckt wird überhaupt nicht, noch dazu, wenn du mit deinem Vater oder mit einem Erwachsenen irgendwo lang spazierst“, dozierte er mit ziemlichem Ingrimm. Ich spürte, dass ihm vor Erregung fast die Stimme versagte.

Auf der Stelle hatte ich den Kanal voll und war störrisch. Ohne ihn war das alles bisher ordentlich gelaufen. Ich konnte mit meinen Kumpels und Freunden tun und lassen, was ich wollte – Räuber und Gendarm spielen, mit dem Katapult schießen, mit Pfeil und Bogen, sogar mit Gewehren, konnte reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist, ob nun sächsisch oder nicht, war egal. Spucken durfte ich auch. Die Frage an meinen Vater war eigentlich, ob das alles bisher Gewesene falsch und verboten war. Es konnte doch nicht alles plötzlich anders sein. Früher wurde ich nie so angeschrien und angemeckert. Ich dachte grimmig für mich: „Wärest du doch dort geblieben, wo du hergekommen bist!“ Dann war plötzlich Stille – bei Vater und bei mir. Mit Sicherheit hatte er mein Mienenspiel verfolgt, wurde etwas unsicher und plötzlich ziemlich sanft im Gesichtsausdruck „Die Schabracken, äh, Verzeihung – nein, so was aber auch – also, die Frau Schabracke, kannst du wohl überhaupt nicht leiden?“ Ich verzog angewidert und schmerzhaft das Gesicht „Die zieht mich immer an dem einen Ohr nach oben aus der Bank und dabei verdreht sie das noch, die doofe Gans. Andere, aber auch vor allem sie, schlagen mit dem Rohrstock auf unsere Fingerspitzen – das tut übelst weh!“ Mich beruhigte, dass Vater jetzt offensichtlich Verständnis, zumindest ein wenig, für meine Situation, erkennen ließ. Er schaute jetzt so, wie ich mir das wünschte, nämlich mitfühlend. Als er allerdings hörte, wie die Schabracken mich am Ohr traktiert und wie mit dem Rohrstock ohne Rücksicht auf unser zarten Finger zugehauen wird, funkelten seine Augen, auf der Stirn bildete sich in der Mitte senkrecht nach unten ein unheimlich dickes Blutgefäß.

 

Später erfuhr ich von Mama, dass sie sich immer ängstigt, wenn er diese Zornesader bekommt. Dieser Jähzorn richtete sich aber, Gott sei Dank, gegen die Praktiken der Schabracken. Damals wusste ich noch nicht, dass jetzt der wahre Eulenausdruck bei meinem Vater zu Tage kam. Mir fiel erst jetzt auf (wann früher hätte ich das auch feststellen können?), dass er ein ziemlich dunkler Typ ist – schwarze Haare, immer etwas gebräuntes Gesicht, braune Augen. Später, als ich dann seine Mutter Frida in Dresden kennen lernte, dämmerte mir, wer der Ursprung dieses Aussehens war, nämlich die Oma Eulenberger. Außerdem wurde mir später klar, was das bedeutete, wenn Mutti sagte, „Ich habe manchmal den Eindruck, Klaus, dass du in der Klinik vertauscht worden bist.“

„Wieso denkst du so etwas Sonderbares?“

„Na, eben deshalb, weil du eigentlich nichts von der Eulenfamilie geerbt hast. Aber mach dir nichts draus, Klaus, da hast du eben die Gene von mir.“ Mehr als einmal erwähnte Mama auch: „Du bist etwas zart, Klaus, eigentlich hättest du ein Mädchen werden müssen. Es wäre auch insgesamt besser gewesen.“ Außerdem kann ich mich noch ganz deutlich besinnen, dass Mutti in meiner Kindheit mehrfach zu mir sagte: „Wenn du jetzt schon ein richtiger Mann wärest, mein Typ wärest du nicht, Klaus. Eigentlich schade, dass du nicht so hübsch geworden bist.“ Ich machte mir aber darüber nie einen Kopf oder wäre gar beleidigt gewesen. Es interessierte mich einfach nicht. Feststellen musste ich aber, dass Mama später, als ich erwachsen war, mehrfach erstaunt sagte: „Du bist ein sehr hübscher junger Mann geworden, Klaus, zum Verlieben. Das hätte ich nie gedacht, wo du doch als Kind gar nichts in dieser Richtung geboten hast.“

LAIENHAFTE GROSSFAMILIE AUF DEM BAUERNGUT – LÖST SICH AUF

Bis auf Tante Friedel, die sich gut in das bäuerliche Geschehen einfügte, und eventuell noch Oma, war für alle anderen die Arbeit auf dem Hof hier ein Laienspieltheater. Bevor sich unsere für die landwirtschaftliche Arbeit offensichtlich ungeeignete Großfamilie auf dem Bauerngut auflöste, bekam sie sogar noch kurzfristig Zuwachs. Zusätzlich zu meinem Vater kam auch Onkel Herbert, Friedels Ehemann, in unsere Gemeinschaft. Sie schauten sich auf dem Gut um und halfen mit Rat und Tat da, wo es Not tat. Eigenartigerweise hatte mein Vater großes Interesse an den Schweinen gefunden. So schleppte er mit sichtlicher Freude die gedämpften Kartoffeln, mit Kleie und Milch versetzt, in den Schweinestall und rief schon beim Eintreten „Hey, hey, ihr Säue und Leckermäuler. Batsch, batsch, es gibt wunderbares Feinschmeckerfutter.“ Dann schüttete er sein Gourmetessen in die bereitstehenden Tröge und ergötzte sich königlich über das Geschmatze, Gerülpse und Geschnorchel der Säue.

Bei ihrem Antrittsbesuch besuchten die beiden Neuen auch Tante Erika in ihrem Zimmer. „Welches Kind schreit denn so, Erika?“, erkundigten sie sich. „Macht euch nur keinen Kopf – das ist mein Sohn Helmut. So einen Schreier hatte ich noch nie. Na ja, da wird die Lunge kräftig.“ Die beiden nahmen es zur Kenntnis, sprachen noch über dies und jenes mit Erika und verabschiedeten sich dann. Ihnen ließ aber das erbärmliche Schreien des kleinen Kerlchens keine Ruhe. Spontan gingen beide in das Weinzimmer und sahen, wie sich das Baby mit hochrotem Kopf hin und her wälzte, heulte und winselte. Die beiden waren sich sofort einig. „Komm, Herbert, wir wickeln es aus!“

„Ist doch klar, Herbert.“ Sie wickelten und wickelten – der Kleine schaute aufgeschreckt, aber interessiert zu. Das Wimmern nahm ab. Das Baby lag in der eigenen Kacke und da das offensichtlich noch nicht genügte, war auch schöne, gelbe Pinke dabei. Von beiden Ausscheidungen war die zarte Babyhaut knallrot und schon richtig zerfressen. „Das kann ja wohl nicht wahr sein, Herbert!“ Wer das zu wem sagte, war absolut unwichtig, denn erstens waren sie sich in der Sache einig und zweitens hießen sie bekanntermaßen beide Herbert. „Wie kann eine Mutter so herzlos sein – es ist nicht zu begreifen!“ Die beiden entfernten die aggressiven Medien inklusive Windel, säuberten, wuschen nach, trockneten und schauten sich fragend an. „Hier muss irgendwie Creme oder etwas anderes zur Heilung darauf!“

„Ist auch meine Meinung!“ Einer von den beiden Herberts strahlte und rief laut: „Ich habe hier etwas gefunden und zwar Kinderpuder für den zarten Popo – haben wir ein Glück! Ich kenne nämlich die alte Grundregel, Herbert, die da lautet: Auf eine feuchte Wunde kommt trockenes Puder – auf eine trockene Wunde Creme.“ Nun kam die größte Hilfsaktion. Sie puderten und zuckerten mehrfach. Der kleine Bullermann wurde zwischen Daumen und Zeigefinger sanft hochgehoben und das komplette, kleine Nachwuchsgerät wurde, links und rechts, unten und oben, genauso sorgfältig behandelt wie das übrige zarte Hinterviertel des Babys. Während dieser Aktion hatte das Flehen des zarten Helmut längst aufgehört und war regem Interesse gewichen. Es war schon interessant, wie zwei erwachsene Männer, es waren schließlich sogar Väter, sich so um den kleinsten Nachwuchs kümmerten. Als die Puderaktion mitten in ihrer stärksten Phase war und eben die Aktion mit dem sanften Hochheben zwischen Daumen und Zeigefinger ablief, war nicht nur Interesse vom Baby vorhanden. Nein, es zwitscherte, lachte fröhlich und dankbar in die Gesichter der beiden Helfer. Dabei drehte es begeistert das Köpfchen hin und her und schlug mit den kleinen Ärmchen um sich, dass es nur so eine Freude war, zuzuschauen.

Mit strahlenden Gesichtern gingen die beiden Helfer von dannen. Allerdings schüttelten sie auch die Köpfe und ein Herbert sagte: „Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, dass der mütterliche Trieb über die Gene so stark ist, dass es nie im Leben etwas Fürsorglicheres gibt als eine Mama für ihren Nachwuchs. Offensichtlich hat hier die Geneübermittlung versagt. Sie las in einer Illustrierten, während ihr Baby nach ihr schrie.“

„Herbert, halten wir ihr doch mal Folgendes zugute – daneben lag auch Strickzeug!“

Alle Familienväter, außer Oma, Opa und Tante Frida, die sich schon zur Ruhe gesetzt hatte, bemühten sich um eine gesicherte Zukunft außerhalb unseres Bauerngutes – zukünftige Arbeit, Wohnung, eben um eine möglichst sinnvolle Bleibe mit ordentlicher Arbeit und Sicherheit für die kommende Zeit. Am schnellsten in diesem Bemühen war wieder einmal Onkel Heinrich. Er hatte eine Anstellung in Zwickau als Verantwortlicher – oder vielleicht auch schon damals so genannter Amtsleiter für Tiefbau – erreicht. So rasch wie ihm das gelungen war, war auch die komplette Familie, inklusive Tante Marie, Nachwuchs Elisabeth und Helmut, von dem sicheren Bauernhof verschwunden. Auf alle Fälle waren diese sechs Jahre auf dem Gut eine Rettung für uns alle in schweren Kriegs- und Nachkriegszeiten. Wenn ich heute an diesen Abschied zurückdenke, macht mich das schon ziemlich traurig. Viele Jahre hatte uns dieses Anwesen unter Leitung von Hilfsbauer Alfred Straßburger, meinem Opa, Zuflucht, Nahrung, Schutz und familiäre Gemeinschaft geboten. Für mich war besonders angenehm, dass ich damit Cousins und andere Freunde um mich hatte, mit denen ich spielen und irgendetwas unternehmen konnte. Nun hatte es ausgedient – es hatte seine Pflicht erfüllt und – wurde weggeworfen. Alle suchten etwas Neues, Besseres, entsprechend ihres Könnens und ihren Wünschen Geeigneteres. Verständlich war das schon. Onkel Heinel war Bauingenieur, mein Vater Kaufmann, Ei Gott, bei Onkel Herbert weiß ich das gar nicht so genau. Auf alle Fälle war keiner der Taugliche für die Bestellung von Feldern, Getreideanbau und die Viehwirtschaft.

ARMER OPA

Tante Frida hatte sich schon seit einigen Jahren aufs Altersteil zurückgezogen. Sie hatte ihre Bleibe im ersten Stock des Wohnhauses ganz außen am Giebel der Südseite, da, wo wir immer nach knochenharten Brötchen und nach dem Doktorbuch fahndeten. Ähnlich gestaltete sich der neue Wohnraum für Oma Martha und Opa Alfred. Allerdings zogen sie im ersten Stock genau auf die entgegengesetzt andere Seite und zwar den Giebel Nord. Zwischen beiden Wohnungen war ein Abstand von (Gott sei Dank, wie sich später herausstellte) weit über 25 Metern. Sie hatten beträchtlich mehr Wohnraum als Frida, na ja, sie waren auch zwei Personen. Oma und Opa hatten auf der einen Seite des Ganges zwei Zimmer und auf der anderen Seite die Stube und daneben eine längliche Küche. Die zwei nebeneinanderliegenden Zimmer wurden als Schlafzimmer genutzt, wobei Oma behauptete, sie könne mit Opa niemals in einem Zimmer schlafen. Es würde immer klingen, als wenn eine Rotte Waldarbeiter mehrere Hektar Wald zersägen würden. Opa wurde von ihr immer mehr in die kleine Küche gedrängt, wo er sich aufzuhalten hatte – bis auf den Zeitraum, wo sie dort den Ofen fürs Kochen und die Schränke für das Geschirr benötigte. Da kein fließendes Wasser vorhanden war, musste Opa ran. „Alfred, immer muss ich dich auffordern und dann noch hundertmal erinnern, dass du Wasser holen musst. Und zwar mindestens zwei Eimer und zwar – sofort – auf der Stelle!“ Opa stöhnte meist, zündete sich erst einmal umständlich seine Tabakspfeife an und entgegnete: „Gemaaach, gemaaach, Maaaarrrrtha – du kommst mir immer wie ein Feldwebel oder, besser noch, ein General, vor. Die kommandieren genauso rabiat wie du und lassen einen nicht einmal so ein kleines Bedürfnis erledigen wie die Pfeife mit Tabak zu füllen und anzuzünden. Wir haben ja auch nicht mehr so viel toll Schönes auf dieser Welt zu erwarten – da lass mir doch die kleine Freude. Ich lass dir doch auch deinen Willen, wenn du heimlich vom geräucherten Schinken isst bzw. wenn du, falls ausnahmsweise einmal vorhanden, dein Lieblingsessen saure Heringe in dich hineinschlürfst. Hinzu kommt, dass mir zwei Eimer Wasser auf einmal zu viel sind – das packe ich bei dieser verflucht steilen Treppe vom Erdgeschoss hier hoch nicht mehr. Nur, wenn ich meine letzten Körner mobilisiere. In einer Stunde kommt doch der Herbert, vielleicht kann er das für uns erledigen.“

„Du machst es dir verdammt bequem, Alfred“, brüllte Oma cholerisch, „wenn ich täglich für uns das Essen mache, kann ich auch nicht auf den Herbert warten. Also – bewege dich und zwar hurtig!“ Opa knurrte dann sehr, sehr ärgerlich. Manchmal fluchte er sogar laut und verließ erst einmal das Zimmer, um Zeit zu gewinnen. Häufig ging er dann zu seiner Schwester Frida und – das dauuuueeeerte und dauuuueeeerte, bis er zurückkam. Immerhin war es eine verdammt weite Strecke bis zu Frida, und der Schnellste war Opa nun wirklich nicht mehr. Um die Sache zu Ende zu erzählen – der Herbert kam nicht in einer Stunde, da er auf dem Feld arbeitete und nicht abkömmlich war. Also ging die fürchterliche Streiterei zwischen Alfred und Martha weiter. Opa blieb nichts weiter übrig, als wenigstens einen Eimer Wasser zu holen. Mir tat er immer leid, wie er prustete, schnaufte und Mühe hatte, mit seiner Last die nächste Stufe zu erklimmen. War er oben auf der Etage angekommen, hatte er ja immerhin noch eine ziemliche Strecke bis in ihre neue Wohnung zu laufen. Häufig war ich bei Opa oben, um mit ihm zu schwatzen oder, was zwar selten vorkam, aber immerhin, Mensch ärgere dich nicht zu spielen. Wiederholt passierte es, dass ich, schon bei Annäherung an die Wohnung, dunkle Stimmen, mal laut, mal leise, hörte. Lief mir jetzt Oma, die auf der anderen Seite kampierte, über den Weg, hörte ich von ihr verächtlich: „Der redet schon wieder – mit irgendwelchen Leuten. Einfach furchtbar, der Kerl!“ Vorsichtig und leise öffnete ich die Tür zur Stube. Nun konnte ich Opa deutlich hören, denn die Küchentür stand offen. „Jaawollllll, Herr General, ich werde mit meiner Kompanie den Feind rechts umgehen, indem wir, verdeckt vom Wald, lang marschieren und ihn dann von hinten angreifen. Wieso haben Sie Bedenken? Die erste Reihe kniet nieder und schießt – die anderen schießen im Stehen und ich halte mir auch eine Reserve! Nur Mut, Herr General!“ Leise trat ich in die Stube und hörte zu. „OOOpa, mit wem redest du denn da? War das nicht gerade ein General, von dem du Befehle erhieltest? Wer war denn das?“ Opa war keineswegs über mein Kommen erschrocken. Er drehte sich langsam zu mir herum. „Ach, duuu, Klaus, schöööön.“ Opa Alfred freute sich immer sehr, wenn ich auf der Bildfläche erschien. Er hatte eine sehr dicke schwarze Filzjacke an, welche vorn sieben Knöpfe hatte. Entweder er trug sie offen oder es war mal hier und mal da ein Knopf geschlossen. Nie sah ich eine ordnungsgemäß zugeknöpfte Jacke. Die langen Hosen waren auch aus so einer Art braunem Filz. Sie wurden mit einem dicken, schwarzen Lederriemen in der Hüfte gehalten – aber wie? Er machte den Riemen nie ganz straff und das Ende kam nicht in die dafür vorgesehenen Schlaufen, nein, es hing einfach äußerst leger, na ja, eigentlich sehr liederlich, herab. Auch in der Wohnung trug er stets eine flache Schildmütze aus dickem Stoff, die ich schon von seiner Arbeit im Haus und auf dem Feld kannte. Sonst, bei der Arbeit, trug Opa ständig schwarze Stiefel, welche nie eine Bürste, geschweige denn Schuhcreme, gesehen hatten. Er onkelte ziemlich stark, was mich immer sehr verwunderte, denn ich kannte dies nur von kleinen Kindern und war immer der Meinung, dass dies bei Erwachsenen niemals vorkommt. Hier in der Wohnung hatte er natürlich keine Stiefel, sondern Filzpantoffeln an den Füßen. Seine Sachen waren alle fürchterlich veräuft. Irgendwelche grauen Schmierflecke waren an den Hosenbeinen und vor allem an der Jacke. Daneben hatte er aber noch viele braune und schwarze Schmierflecke, welche allesamt mit seiner Pfeiferei zusammenhingen. Oft schaute ich ihm zu, wenn er die Pfeife reinigte. Da kam ja richtiger braunschwarzer Teer aus den Bohrungen seiner Schmaucheinrichtung heraus. Aber wohin denn damit? Ein Teil floss in einen Glasaschenbecher, ein Teil auf den Tisch und viel war auch an seinen Händen hängen geblieben. Letzteres war ja für Opa kein Problem – er schmierte es einfach an die Jacke oder die Hose. Über den Teer auf dem Tisch und dem Aschenbecher gab es prompt am nächsten Tag fürchterlichen Ärger mit Oma Martha. Demgemäß sahen auch seine Hände aus. Diese riesigen Pranken trugen unheimliche Vertiefungen und Schwielen, in denen sich natürlich der Dreck der Zeit angesammelt hatte. Die Hände sahen immer gelb und leicht schwarz aus. Das Schlimmste aber, was sich in letzter Zeit als übelstes Ärgernis herausgestellt hatte, war, dass sich Opa in der kalten Jahreszeit auf den eisernen Ofen setzte, um etwas mehr Wärme in seinen Körper zu bekommen. Die Hosen waren, um die Hüfte herum, vor allem natürlich am Allerwertesten, ziemlich stark angesengt. Ihn störte das natürlich üüüüüberhaupt nicht. Sein Schnauzbart, von Menjoubärtchen konnte man weiß Gott nicht reden, war ungepflegt. Die Haare wurden selten gestutzt und reichten schon weit über die Oberlippe nach unten. Außerdem waren sie stark gelblich gefärbt – das Rauchen, was ihm unheimlich starke Freude bereitete, brachte eben auch so seine Nachteile mit sich. Das Schönste an Opa waren aber – trotz allem – seine sonnige Ruhe, seine Verträglichkeit und seine stahlblauen Augen, die verständnisvoll auf den Betrachter schauten. Wenn ihm aber doch einmal etwas zu viel wurde und etwas generell gegen seinen Strich ging, zum Beispiel, wenn Oma ihn immer wieder bissig attackierte, wurden die blauen Augen grau und es sprühten dunkelrote Funken daraus hervor. Außerdem nahm er zu einem solchen Anlass seine Hände, die er meist tief in den Hosentaschen vergraben hielt, heraus und donnerte zur Erhöhung der Wirksamkeit seiner Sätze mehrfach mit seinen Riesenfäusten auf den Tisch. Eines steht fest und daran ist nicht zu rütteln – Lothar und ich liebten Opa abgöttisch. Wir wurden aber auch immer mehr Zeuge, wie er verstärkt in die Kritik geriet. Aus diesem Grund versuchten wir, Opa zu helfen und ihn zu beeinflussen „Opa, du musst dir mehr deine Hände waschen – so richtig mit viel Seife und mit Bürste und kräftig schrubben. Und dann darfst du deinen Saft von der Pfeife nicht auf deine Jacke und die Hosen schmieren – niemals, bitte, bitte, bitte! Sich auf den Ofen zu setzen ist auch nicht sinnvoll. Du brennst noch einmal an und wir haben keinen Opa mehr!“ Lothar ergänzte plötzlich noch etwas deftig: „Außerdem darfst du deinen Rotz aus der Nase oder sonst woher, ebenfalls nicht an deine Jacke oder Hose schmieren.“ Da Opa traurig zu Lothar schaute, ergänzte dieser: „Wir wollen dir doch nur helfen, Opa. Das musst du doch auch einsehen und vor allem bekommst du immer mehr Ärger mit der Oma und den anderen. Davor möchten wir dich gerne bewahren.“ Wir gingen so weit, dass wir sogar mit Oma Martha über Opa redeten. „Oma, du musst auch etwas Verständnis für Opa haben. Er raucht nun mal gerne und da schmiert er eben dieses schwarze Dreckszeug überall herum. Sei doch so gut und hilf ihm einfach! Gib ihm ein Tuch und sage und zeige ihm, dass er damit alles abwischen soll, auch, dass er diesen Pfeifenreiniger nicht überall herumliegen lassen kann, denn außen an dem Ding ist ja dieses schwarze Teergelumpe dran.“ Generalfeldmarschall Martha wollte uns immer unterbrechen und redete in unsere Argumentation hinein. Sie konnte einfach nicht zuhören und andere Meinungen akzeptieren. Da Lothar und ich dies aber wussten (wir hatten uns schon vor dem Gespräch eingehend unterhalten und etwas Strategie gemacht), sprachen wir einfach weiter mit der Bemerkung: „OOOOma, bitte, lass uns doch auuuuuch mal reden. Wir haben uns das genau überlegt und höööööre uns mal bitte genauuuu zu.“ Das wirkte, wenn sie auch immer wieder versuchte, in unser Gespräch hinein zu kommen. Als wir dann zu Ende deklamiert hatten, kam aber ihre große Rede. „Ihr Kinder macht es euch verdammt einfach. Was denkt ihr denn, wie schwer ich es habe, den Alfred zum Waschen zu bewegen.

 

Er mault herum, sagt, der Max (sein Bruder) habe es auch nicht so mit dieser blöden Seife und den Handtüchern gehabt und habe trotzdem das Gut ordentlich geführt und sei 76 Jahre alt geworden. Ich kann ihn maximal dazu überreden, sich die Hände zu waschen – selbst das tut er nur im Eilgang und mit äußerster Schnoddrigkeit. Er schmiert alles an seine Sachen, ohne Belehrung anzunehmen. Das, mit dem auf den Ofensetzen, ist die Krönung.“ All das hatte Oma, zwar mit Erregung, aber doch einigermaßen ruhig ausgesprochen. Plötzlich wurde sie aber wieder hysterisch. „Ich muss euch aber sagen, Jungs, so geht das einfach nicht mehr weiter! Hier muss eine Änderung her! Der Alfred gehört in ein Heim und unter Beobachtung! Am Ende brennt er uns noch einmal das gesamte Haus ab. Ich habe schon mit Selma gesprochen und ihr erzählt, was sich hier so abspielt. Übrigens – sie hat die gleiche Meinung wie ich.“ Lothar und ich waren entsetzt. „Das kann nun aber nicht wahr sein, Oma. Ihr wollt den guten Opa abschieben. Das empört uns. Am besten ist, Lutt, wenn wir das Opa einmal selbst erzählen!“ Nun wurde Oma aber ganz verdreht. Sie stand auf. „Wenn ihr das tut, Kinder, dann bin ich längstens eure Oma gewesen. Alfred darf davon nichts erfahren – er ändert sich nicht, und da hat er die Quittung nun eben am Hals!“, bellte sie uns an und marschierte aufgeregt im Zimmer auf und ab. Sie war rot im Gesicht, fuchtelte aufgeregt mit den Armen. Wir versuchten sie zu beruhigen, was nicht gelang. Also verständigten wir uns mit Zeichen hinter ihrem Rücken, dass wir einfach gehen, denn es hatte ja offensichtlich keinen Sinn, uns länger das Gekreische anzuhören. Wir gingen grußlos hinaus und wollten noch einmal über den Gang hinweg zu Opa. Da öffnete sich hinter uns die Tür wieder und wir hörten Omas geifernde Stimme: „Traut euch, zum Alfred zu gehen! Das ist eine Schande! Wenn das die Erziehung eurer Eltern ist – na dann prost Mahlzeit! Ich will euch so schnell nicht wieder sehen!“ Lothar und ich waren schon ziemlich geschockt und berieten. „Weißt du, wir müssen mit unseren Eltern reden – du mit deiner Mutti, ich mit meiner und auch mit Vater, da er ja nun wieder da ist. Wir müssen erreichen, dass das nicht passiert, was Oma vorhat.“