Streben nach der Erkenntnis

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„Weißt du, Lothar, jetzt langt’s! Wir haben das mit der Geburt erkundet – was sollen wir uns jetzt noch diese grauslichen Bilder angucken? Außerdem ist das ja mit der Schlüsselbesorgerei bei Tante Frida immer sehr nervenzerfetzend und geht uns auf die Ketten. Wir bringen jetzt Buch und Schlüssel zurück – und das war’s dann. Einverstanden?“

Am nächsten Morgen schrubbelten Lothar und ich uns beim Waschvorgang dermaßen eifrig die Hände, dass wir knallrot im Gesicht aussahen und der intensive Vorgang der Händebehandlung mit Bürste und Seife als Erstes dem Opa und dann auch der Oma auffielen. Opa knurrte mit seiner tiefen Bassstimme: „Was ist denn heute los? Soll ich euch die Drahtbürsten holen? Wenn ihr weiter so macht, ist der Bast an euren Händen weg und ihr könnt dann anschließend beim Frühstück mit euren verbliebenen Knochen die Butterschnitte anfassen!“ Nun wurde auch Oma aufmerksam. „Erzählt mal, ihr beiden, weshalb ihr heute so eifrig mit der Händesäuberung seid? Da werden sich ja eure Muttis über diesen Eifer freuen, prima von euch. Nun helft mir mal lieber beim Auftragen in die Stube und hört auf mit euren überzogenen Reinigungsaktionen. Das ist ja keine Händewascherei mehr, sondern eher eine Hautzerstörung. Da hat der Opa vollkommen Recht. Nun macht endlich den Mund auf – weshalb tut ihr das?“ Lothar fing an zu stammeln: „In einem Buch“, ich gab ihm mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen, „äh, äh, wir hörten das von jemand.“ Ich fühlte mich bemüßigt, die Sache zu retten. „Lothar hat das von seiner Lehrerin, der Frau Konrad gehört, die der Klasse aus dem Doktorbuch vorgelesen hat und zwar besonders zur Krätze. Sie hat genau beschrieben wie die Krätzemilben aussehen und den Rest könnt ihr euch denken. Wir haben beide unheimlichen Schiss vor dieser bösartigen Milbe, die wie eine Schildkröte aussieht, nur eben ein Tausendstel kleiner ist.“ Lutt schaute mich für diese Rettungstat erleichtert und dankbar an und wir konnten nun Oma beim Auftragen helfen. Das dachten wir aber nur, denn plötzlich kamen Tante Friedel und Mutti herein. Sie wurden von Oma informiert, wie eifrig wir das Waschen betrieben hätten. Die beiden drückten uns, aber plötzlich schrie Mutti erschreckt auf und zeigte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf meinen Nabel. „Ich hab das jetzt schon mehrfach gesehen und jedes Mal wird mir mehr angst. Dein Nabel steht doch viel zu weit vor, Klaus. War denn das schon immer so?“

„Ich kenne das nicht anders, Mutti.“

„Klaus, wir müssen unbedingt zur Frau Dr. Erler-Dieda gehen. Lothar, lass mal bei dir sehen. Siehst du, das ist ganz anders und irgendwie besser als bei dir.“ Nachmittags, nach der Schule, marschierten wir zur einzigen Ärztin im Dorf. Es wurde zwar erzählt, dass man bei ihr unheimlich lange warten muss – allerdings kamen wir schon nach zwanzig Minuten an die Reihe. Sie drückte an meinem Bauch herum, insbesondere um den Nabel. „Das wurde ja höchste Zeit, Frau Eulenberger. Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung, dass da etwas nicht stimmt. Die Bauchdecke ist an dieser Stelle nicht richtig geschlossen und bei körperlichen Anstrengungen kann es passieren, dass der ohnehin vorhandene Bruch sich vergrößert und sogar das Innenleben nach außen tritt.“ Meine, immer überängstliche, Mutti, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Um Himmels willen – das Innenleben, sind das nicht die Eingeweide?“

„Sicher, es hat schon Fälle gegeben, wo dieses eingeklemmt wurde. Frau Eulenberger, Sie brauchen aber nicht solche Angst zu haben. Das Ganze ist eine Schwachstelle in der Bauchwand und eher als Riss zu verstehen. Dieser kann entweder angeboren sein oder erworben werden. Auf alle Fälle darf ihr Sohn jetzt keinesfalls Sport in der Schule mitmachen und körperliche Anstrengungen sind in jedem Fall zu vermeiden!“ Das in jedem Fall betonte sie ganz besonders. Da hatte ich nun den Salat – auf alle Fälle war dies nun nicht gerade ein erfreuliches Ereignis. Dementsprechend bedeppert schaute ich in die Welt, vor allem als Frau Dr. Erler-Dieda eröffnete, dass eine Operation unumgänglich sei und möglichst rasch durchgeführt werden müsse. Eine Einweisung in die Poliklinik Freiberg sollte möglichst schnell erfolgen. „Um die Einweisung und den Termin und alles andere, Frau Eulenberger, kümmere ich mich und melde mich bei Ihnen telefonisch im Gemeindeamt.“ Wir marschierten wieder nach Hause und unsere gesamte Corona wurde informiert. Allgemeines Erstaunen. „Armer Klausmann, da hast du nun Schulausfall.“ Lothar schob mich beiseite. „Klaus, wegen dieser Sache muss ich gleich mal mit dir reden. Du kannst da auf keinen Fall die schweren Milchkannen mit auf unsere Karre heben, geschweige denn auf die Milchrampe stellen. Das müssen wir jetzt drinnen gleich einmal klarstellen und außerdem – wenn du nicht mitmachen kannst, ist das Ganze für mich nun damit auch erledigt!“ Alle riefen gleich im Chor, als wir unser Ansinnen vorgebracht hatten. „Das ist doch klar, macht euch ja keine Gedanken! Das erledigen unsere zwei Helferinnen. Hauptsache ist, dass der Klaus bald wieder gesund ist.“ Opa hatte heute wieder einmal (das war in letzter Zeit leider sehr selten der Fall) einen guten Tag. Strahlend über das ganze Gesicht gab er von sich: „Bring das schnell hinter dich, Klaus – das bisschen Operation erledigt doch in der Poli Freiberg der Pförtner, unterstützt von einem Lehrling und in ein paar Tagen bist du wieder strahlend und gesund zurück und wir können sagen: „Ein paar Tage war das Kläuschen krank – nun hüpft es wieder – Gott sei Dank!“

Der Zeitpunkt der Erkennung meines Nabelbruchs fiel in eine Spanne, wo die Zeit unserer Großfamilie auf dem Bauerngut Straßburger irgendwie schrittweise zu Ende ging. Onkel Heinel war der Erste, der für seine Familie einen Umzug nach Zwickau nicht nur ins Auge gefasst hatte – der Umzug sollte schon in zehn Tagen erfolgen. Er hatte dort eine Stelle als Amtsleiter für Tiefbau erhalten und war sehr froh darüber. Mein anderer Onkel, der Schulze, Herbert, war erst seit wenigen Tagen bei uns und beabsichtigte, fast zehn Kilometer von uns entfernt, neben dem Bahnhof Kleinwaltersdorf, eine Mietwohnung zu beziehen. Die gesamten Veränderungen hingen damit zusammen, dass Opa aus Altersgründen die gesamte Leitung nicht mehr packte, Oma über zu viel Arbeit klagte und eigentlich keiner einen so rechten Bock auf das Bauerndasein hatte. Mein Vater war Kaufmann und auch nicht gerade geeignet, mit dem Schimmel oder der Lore oder beiden, den gesamten Tag hinter dem Pflug her zu laufen. Meine Mutti informierte mich eines Abends beim Zubettgehen mit leuchtenden Augen (sie war überglücklich, fast euphorisch und fuchtelte, was ich sonst überhaupt nicht von ihr kannte, fürchterlich aufgeregt mit den Armen), dass sie eine Mitteilung erhalten habe, dass Vater aus dem Krieg heimkehren würde und das schon bald. „Klausmann, überlege dir einmal, was das bedeutet. Der Herbert als dein Vater hat diese entbehrungsreiche Zeit der Kriegsgefangenschaft bei den Russen überstanden. Er lebt also und ist auch scheinbar gesund. Was denkst du denn, Klaus, wie viele deutsche Männer dort vor Hunger und Entbehrung – sie mussten ja unheimlich körperlich schwer, zum Beispiel in Steinbrüchen, schuften – gestorben sind. Du kannst dich riesig freuen, dass dein Vater es geschafft hat und zurückkehren kann. So sind wir wieder eine Familie.“ Sie schaute zur Decke, sagte abschließend „Dem Himmel sei Dank!“ und umarmte mich. In einer neuen Gefühlswallung bekam ich Küsse rechts und links auf die Wangen, auf die Lippen, die Nase, die Stirn und da ich wegen der Feuchtigkeit der Küsse, letztlich war es schon eine Knutscherei, etwas Widerstand leistete, auch auf meine abwehrenden Hände.

Alle hatten, scheinbar schon seit einiger Zeit, eine Bauernfamilie ausfindig gemacht, die unser Gut übernehmen sollte. Das war die Familie Kornblume, Kurt und Selma. Sie hatten vier Söhne – Paul, Lukas, Moritz und Erik, den wir bereits kannten und mit dem wir auch schon Verschiedenes unternommen hatten. Jeden Tag kam irgendeiner von den Kornblumes zu uns, um Angelegenheiten der Zukunft zu besprechen, bereits bei der Tierversorgung mitzuhelfen, sogar beim Essenkochen. Es war ein nettes Miteinander mit dieser Familie und offensichtlich so geplant, dass sie schrittweise in unser Bauerngut „hineinwachsen“. Natürlich waren vor allen Dingen wir Kinder recht traurig. Das betraf Lothar und mich, aber auch ganz stark Helga, welche unglücklich war, dass sie von ihren Freundinnen in der Dorfmitte weg sollte, vor allem von der Nürnberger, Marion, ihrer engsten Freundin. Eines solchen Tages, als die Kornblumes wieder einmal bei uns weilten, sagte die Selma plötzlich zu meiner Mutti: „Gretel, wir wollten, wie ja zwischen uns vereinbart, das Gut schon ab April übernehmen. Wir sollten aber vielleicht den Mai vorsehen. Ich habe zurzeit mit unseren Söhnen etliche Probleme und da wird mir das jetzt alles zu viel.“ Mutti, die im Auftrag von Oma, Opa, Heinel und Friedel die Absprachen mit Kornblumes traf, fragte: „Das ist sicher kein Problem, Selma, aber was hast du denn mit euren Söhnen?“

„Der Paul will zu seiner Freundin nach Berlin ziehen, der Lukas hat sich den Fuß verknackst, der Moritz hat eine ganz schwere Grippe und nun kommt noch der Erik mit einem Riesenproblem. Er muss im Krankenhaus operiert werden.“

„Das tut mir aber sehr leid, Selma. Also – wir verschieben den Termin. Was hat denn da der Erik? Er ist doch noch nicht einmal sieben Jahre alt.“

„Da hast du schon Recht, es ist noch ein ziemlich kleiner Junge. Umso mehr wundert mich, dass er jetzt schon am Nabel operiert werden muss?“

„Waaaaaas?“, schrie meine Mutti in Verzückung. „Da hat er sicherlich das Gleiche wie mein Klaus. Der hat einen Nabelbruch und muss in Freiberg operiert werden!“ Selma lief ein freudiger Schauer übers Gesicht. „Wieso hat mir denn die Dr. Erler-Dieda das nicht von deinem Klaus erzählt? Die haben ja beide das Gleiche. Und, Gretel“, – sie drückten und umarmten sich –, „da können die beiden ja zusammen reingehen. Ich meine, ins Krankenhaus. Hier bist du ja, Klaus, ich hatte vor Aufregung gar nicht darauf geachtet. Ist das nicht wunderbar? Da könnt ihr euch gegenseitig helfen und trösten. Angst müsst ihr aber nicht haben. Klaus, komme doch morgen mal zu uns und besuche Erik. Der wird sich sicherlich sehr freuen und ihr könnt alles besprechen.“

 

„Mach ich, Frau Kornblume.“

„Aber sag mal, Gretel, wie kommen denn die beiden Jungs hin und zurück?“

„Der Einzige, der ein Auto hat und den ich kenne, ist der Wittasch, Erhard.“

„Sprichst du mal mit ihm, Gretel, das wäre sehr schön?“

„Ich kümmere mich darum, Selma.“

DIE NABEL WERDEN RAUSGESCHNITTEN UND WIEDER ZUGENÄHT – SO EINFACH IST DAS!

Dann wurde Erik und mir ein Termin mitgeteilt – am kommenden Dienstag sollen wir 10 : 00 Uhr in der Poliklinik Freiberg antreten. So langsam wuchs unsere Nervosität und Sorge vor dem Ungewissen. Mit nach oben gezogenem rechten Mundwinkel (das tat er stets, wenn er irgendwelche Bedenken hatte) fragte Erik: „Schneiden die uns da den gesamten Nabel heraus und setzen ihn dann wieder ein, oder wie oder was? Mir hat meine Mutti erzählt, dass das Ganze ein Bruch ist, eher ein Riss, und dieser wird zugenäht. Niiiiiiiiemals lasse ich an meinem Bauch mit einer Nadel nähen. Das ist ja Wahnsinn und tut fürchterlich weh, nein, niiiiiiemals!“, grölte Erik in höchster Not und Sorge. Dabei zuckte sein rechter Mundwinkel nicht nur einmal, sondern mehrfach nach oben, Richtung Nase. Mir wurde richtig angst um ihn. „Beruhige dich, Erik, meine Mutti hat gesagt, dass wir überhaupt nichts davon merken, da wir eine Narkose bekommen.“

„Das will ich aber erst mal sehen. Wenn mir das weh tut, hole ich den Karabiner aus dem Fichtenwald am Kirchsteig, lege meine restlichen Patronen auf einmal ein und schieße alle tot, die mir da Schmerzen zufügen.“

„Du redest nur von dir, Erik, an meine Schmerzen scheinst du nicht zu denken“, beschwerte ich mich. „Natürlich denke ich auch an dich, Klaus. Ich mache mir große Sorgen, dass alles gut wird. Du meinst wohl, weil ich vorhin nur von mir gesprochen habe. Ich meine auch dich mit – also uns – versteh das mal nicht falsch.“ Schon am nächsten Tag fing Mutti an, meine Sachen für das Krankenhaus zurechtzulegen. Ich kümmerte mich kaum darum und meckerte immer nur. „Leg mal nicht so viel dahin – das kann ja kein Mensch schleppen!“ Dann suchte sie ein Behältnis und entschied sich für einen Koffer. „Mutti, ich bin doch kein Handlungsreisender wie Vati. Außerdem könnte jemand denken, ich will verreisen. Dabei muss ich nur in dieses blööööde Krankenhaus. Am besten, ich reiße vorher aus. Auf alle Fälle, einen Koffer nehme ich nicht. Du kannst alles in eine Decke einwickeln und ein Band darum machen oder irgendwie so.“ So wurde es denn auch und Erik und ich stiegen mit unseren Beuteln fröhlichen Gesichts in das Auto. Mutti begleitete uns. Ich weiß nur noch, dass Erik und ich uns lustig machten über den Wittasch, Erhard. Der war aber auch ein Stockfisch und ein hässlicher dazu.

„Guck dir doch mal seine Fresse an – der sieht ja aus wie ein Walfisch. Reden tut er auch nicht. Irgendwie ist der Kerl muksch, schlecht gelaunt und putzig“, flüsterten wir uns in jungenhafter Leichtigkeit und mit viel Spaß gegenseitig in die Ohren. „Hoffentlich kommen wir gut an. Sieh mal, eh der mal einen Gang reinkriegt – das knallt und donnert ja furchtbar. Ist ja auch eine alte Karre mit Holzkarosse. Ich finde, der fährt immer so weit auf, sieh mal hier, den Holzgaser-LKW vor uns. Hoffentlich sind wenigstens die Bremsen in Ordnung, sonst kommen wir nicht lebend im Krankenhaus an und damit hat sich das mit der Operation dann gleich erledigt.“

Wir kamen in ein riesengroßes Zimmer mit wahnsinnig vielen Fenstern und noch mehr alten Männern. Zwei Schwestern kamen mit irgendeinem fahrbaren Untersatz, auf den ich mich legen musste. Dann fuhren sie mit mir weg (ich konnte nur noch rasch sagen: „Erik, mach’s gut!“) und ich sah, auf dem Rücken liegend, nur Decken, Türdurchfahrten und Lampen. Plötzlich kam auf mich gleißendes Licht zu – ich erschrak fürchterlich – jemand legte ein Tuch auf mein Gesicht, irgendeine übelstinkende Flüssigkeit kam darauf und eine Männerstimme befahl: „Tief, sehr tief und lange atmen!“ Etwas Furchtbares begann – das ekelriechende Gas legte sich mir sofort auf die Lunge. Sie wurde schwer wie ein Stück Stein. Ich atmete aber befehlsgemäß weiter, konnte kaum noch tiefer atmen, da ich plötzlich ganz schnell, immer schneller kurz atmen musste. Es kamen große bunte Kugeln auf mich zugeschossen, diese wurden dann kleiner, sie schossen auf mein Gesicht, wurden dann schwarz. Ich bekam eine unheimliche Angst – es erdrückt mich – die bunten Kugeln, Kugeln, Kugeln, Kugeln! Ich wollte schreien, schreien, schreien … Ich fühlte mich so schlapp und mir war so schlecht, so schlecht. Gleichmäßig atmen, viel, viel. Ich kann aber gar nicht, es geht nicht, nur schwer atmen, atmen. Und es stinkt, das stinkt. Plötzlich hörte ich eine schrille Fistelstimme, die empört und knallig rief: „Das ist ja unverschämt, hier ins Bett zu kotzen. Schließlich hast du doch hier eine Nierenschale. Wofür soll denn die sonst da sein?“ Verschwommen sah ich in meinem desolaten Zustand aus halbgeöffneten Augen eine ältere Schwester, die die Empörung in Person war. Nach ihrem Wutanfall bei mir ging sie weg und rüber zu Eriks Bett, was höchstens zwei Meter entfernt war. Dort wiederholte sich das an meinem Bett Geschehene mit einem ähnlichen Koller. Erik wollte etwas sagen, aber es ging ihm wie mir. Wir konnten den Mund nicht bewegen – ich wollte den Arm heben – auch das ging nicht. Die Schwester verschwand und kam mit zwei Putzfrauen zurück, welche Tücher mitführten und Eimer hatten. Sie wischten und scharrten an unseren Bettlaken und Betten herum. Wir bekamen das kaum mit, da wir schon wieder eingeschlafen waren. Irgendwann wurden auch wir wieder munter und fühlten uns nach wie vor schlecht, konnten aber mit schwerer Zunge langsam sprechen. Die alten Männer klärten uns auf. „Was ihr da bekommen habt als Narkose, dass ist Äther – etwas Entsetzliches. Man denkt, man wird durch die Luft gehoben und dann irgendwo fallen gelassen. Aber macht euch keine Sorge, das wird schon wieder.“ Wir waren mehrere Tage in dem Zimmer und bekamen mit, dass die Alten durchweg und leider immer schlechte, abscheuliche Laune hatten. Sie waren alle wegen Magenproblemen hier, teilweise schon operiert, und ihnen ging es scheinbar nicht gut. Ich kann mich noch besinnen, dass unten auf der Straße, an einem Auto, welches, das muss ich schon sagen, eine extrem schrille Hupe hatte, diese ständig bedient wurde. Die Alten regten sich darüber fürchterlich auf, beschwerten sich bei den Schwestern und bekamen heraus, dass dies der Sohn vom Chefarzt sei. Daraufhin verstummten sie, da sie zu feige waren, weiteres zu unternehmen. Tage gingen vorbei und uns wurde mitgeteilt, dass uns morgen früh, 10 : 00 Uhr, am Haupteingang bzw. -ausgang ein Auto abholt. Wir freuten uns riesig. Allerdings gelang es uns nicht, so schöne Bündel, wie uns unsere Mütter geschnürt hatten, herzustellen. Irgendwoher, entweder war’s von meiner Mutti oder vom Krankenhaus, wie auch immer, hatte ich ein Kopfkisseninlett entdeckt und befehligte, leicht überheblich (ich war immerhin ein Jahr älter als Erik): „Du, deine und meine Sachen knallen wir alle hier in diesen Kopfkissenbezug. Der ist groß genug und wir haben ein Gepäckstück, was wir abwechselnd tragen können – die Last auf dem Rücken und mit beiden Händen können wir dann das lose Ende von dem Bezug halten.“

Erik leistete keinen Widerspruch und so standen wir, unsere Kopfkissenbeule neben die Tür gelegt, wartend am Ausgang. Es wurde zehn Uhr, viertel elf, halb elf, elf, halb zwölf. Zwischendurch berieten wir immer, was zu tun sei. Nun wurde es mir aber zu bunt und ich sagte mit der Souveränität des ein Jahr Älteren: „Erik, jetzt gehen wir los. Ich kenne genau den Weg. Wir gehen die kleine Straße vor, kommen auf die Hainichener Straße, die gehen wir rechts runter. Dort sehen wir den Schwanenteich, gehen links rum auf die Leipziger Straße, an der AKA (akademische Kampfbahn) vorbei, immer weiter bis nach Klewado. Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das!“ Also marschierten wir los. Zunächst hatte ich die Beule auf dem Rücken und hielt mit der rechten Hand den freien Zipfel. Tat mir die rechte Hand weh, nahm ich die linke. Das Problem war nur, dass die Last immer auf eine Seite wollte und abrutschte. Hatte ich die rechte Hand am Zipfel, rutschte alles nach rechts unten, bei der linken Hand alles nach links unten. „Das ist eine Scheiße, Erik, dass das Gewicht immer seitlich weg will. Man müsste zwei Zipfel von dem Inlett haben – dann bliebe es in der Mitte“, waren meine Überlegungen während unseres Laufs. „Da geht mir ein Kronleuchter auf, Klaus“, kam eine unheimlich wichtige Erkenntnis, „deshalb hat der Rucksack zwei Schlaufen – so bleibt das Gewicht in der Mitte.“ So hatten wir zwei Jungs, von knapp sieben und knapp acht Jahren, noch einmal den Rucksack erfunden. Während unseres Marsches schwatzten wir zwei angeregt drauflos. „Die werden aber staunen, wenn wir plötzlich auf unser Gut einbiegen. Sicher hat meine Mutti wieder Haferflockenmoler gebrutzelt.“

„Was sind denn das für Dinger – Moler?“, erkundigte sich Erik. „Das sind ganz einfach Bonbons. Noch besser schmecken aber die Fondant, die es jetzt auch wieder beim Simonbäcker gibt.“ Sicherlich bildeten wir für die Städter Freibergs eine außergewöhnliche und malerische Spazier- und Transportmannschaft. Wir schauten aber nicht hin, bekamen so auch nicht mit, dass viele neugierig und überrascht zu uns blickten, uns nachschauten, die Köpfe drehten und sicher auch verwundert schüttelten. Wir waren nach zirka einer halben Stunde aus der Stadt raus und marschierten über Land. Jetzt wurden wir aber doch mehrfach angesprochen. „Wo kommt ihr denn her? Seid ihr ausgerissen? Wo sind denn eure Eltern?“ Jedes Mal antwortete ich mit dem Stolz des Truppführers. „Wir sind beide am Nabel operiert wurden und marschieren jetzt nach Hause.“

„Weshalb seid ihr denn nicht abgeholt worden?“

„Wozu denn, wir sind doch schon alt genug.“ Dann kamen aber zwei Bewohner von Kleinwaltersdorf, die Frau Sander mit Fahrrad und der Weber, Alfred mit Motorrad, welches er abrupt abbremste, als er uns sah. Beide kommentierten: „Wir sagen bei euch zuhause Bescheid, dass ihr kommt. Soll ich euer Gepäck, also, ich meine, euer prall gefülltes Kopfkissen auf dem Motorrad mitnehmen? Da habt ihr nicht so schwer zu schleppen.“

„Nicht nötig, wir packen das alles ganz allein“, war meine selbstsichere Antwort. Dass ich nach weiteren zehn Minuten Lauf über die Last stöhnte, konnten die beiden ja nicht ahnen. Endlich konnten wir, von der Leipziger Straße links ab, in den Buttermilchweg einschwenken. Es ging durch den Wald, dann bereits an unseren Feldern vorbei und so kamen wir, praktisch von hinten, auf den Hof unseres Bauerngutes. Nun waren wir beide doch ziemlich fertig (wir hatten ja immerhin etliche Tage im Bett zugebracht, von der OP und dieser katastrophalen Narkose gar nicht zu sprechen) und gingen zur Haustür hinein, durch den Vorsaal in die Küche. Das war vielleicht ein Geschrei und Stimmengewirr, als wir entdeckt wurden. Fast alle stürmten gleichzeitig auf uns zu, drückten und küssten uns, da aber für die übrigen sonst nichts mehr übrig war von uns, fassten sie unsere Hände an und da diese auch schnell vertan waren, drückten sie uns irgendwo an der Schulter an der Hüfte oder sonst irgendwo, wo noch frei war. Das Ganze gefiel uns sehr. Wir fühlten uns wie Helden, sonnten uns in der Aufmerksamkeit und plapperten wild drauflos. „Ganz so schlimm war die Operation nicht, aber die Narkose war ein Ding für sich. Das war, als wenn uns jemand mit Gas vergiftet hätte. Wir wurden wie wahnsinnig dabei und sind unheimlich schnell weggetreten.“ Alle lachten. „Wenn ihr mit dem Wegtreten die künstliche Ohnmacht meint, dann ist das schon in Ordnung, denn das war ja beabsichtigt, damit ihr nicht merkt, wenn sie euch den Bauch aufschlitzen.“ Nach all dem emotionalen Stimmungsgewusel und den Umarmungsaktionen kam nun endlich meine Mutti dazu, mich zu begrüßen. Na ja, begrüßen konnte man das eigentlich gar nicht so richtig nennen. Ich hatte schon beobachtet, als die allgemeine Euphorie unseres Empfanges und unserer Wiedergeburt noch lief, dass Mama wahnsinnig abgespannt und erregt war. Als wir die Küche betraten, sah sie schmal und blass aus. Später wurde aus der weißen Gesichtsfarbe eine knallrote, die aber auch wieder zurückwechselte. Mutti war ganz einfach nervlich angeschlagen. Nun, als ich mich ihr endlich zuwenden, sie drücken und ihr einen Kuss auf die Wange geben konnte, brach ihre Aufgeregtheit voll durch. „Klausmann, wie könnt ihr der Selma und mir das antun? Das war doch ein großes Risiko, den Weg allein zu gehen und außerdem hatte ich doch den Wittasch, Erhard bestellt!“

 

„Der aber überhaupt nicht kam, Mutti. Beruhige dich doch, es ist alles gut gegangen.“ Die Absicht hatte Mama aber überhaupt nicht. „Erik, wie konntest du denn zustimmen, dass ihr beiden zusammen losmarschiert? Du bist doch vielleicht vernünftiger als der Klaus.“

„Frau Eulenberger, der Klaus hat das schon richtig gemacht und außerdem bin ich nicht unbedingt vernünftiger als er.“ Das Ganze war für Mutti noch längst nicht zu Ende. Sie wiederholte ein ums andere Mal, welchen Gefahren wir uns ausgesetzt haben, dass wir undiszipliniert sind und das so wahnsinnig viel hätte passieren können. „Gretel, beruhige dich doch. Jetzt sind doch die beiden hier und damit alles in Ordnung. Ich habe feines Gehirn gebraten und Kartoffeln gekocht, jetzt wollen wir erst einmal fein speisen. Übrigens – was hätte denn deiner Meinung nach überhaupt passieren können?“, versuchte Frau Kornblume die Situation zu beruhigen. Das hätte sie vielleicht nicht tun sollen – das Gegenteil trat ein. Mutti echauffierte sich unheimlich. „Die Narben von der Operation hätten bei dem Marsch wieder aufbrechen können. Beiden hätte schlecht werden können oder sie wären in den Straßengraben gestürzt oder sonst irgendetwas – sieh das doch mal ein, Selma.“ Alle verdrehten die Augen, Selma drückte Gretel und sagte: „Nun aber wirklich einmal Ruhe, Margarete, mit deinen Bedenken und deinem hätte, hätte passieren können. Jetzt wird gegessen!“ Mutti konnte aber immer noch nicht ihre Ruhe finden und sagte (wie üblich) „Es ist doch aber auch wirklich wooooohr!“

Dadurch, dass ich auf meinem Schulweg immer am Gemeindeamt vorbeikam, war ich öfter als früher bei Mutti im Büro. „Komm uns doch mal besuchen, wenn du auf dem Heimweg bist, Klaus. Die Ursula und ich – wir freuen uns immer sehr, wenn wir dich einmal sehen.“ Also schaute ich häufig einmal nach dem Rechten im Gemeindeamt. Die Ursula – das war die Frau Walther, Muttis enge Vertraute und Freundin. Häufig erzählte sie mir: „Die Ursula ist eine ganz Liebe und der Fleiß in Person. Für mich ist sie der eigentliche Bürgermeister, denn wenn wir mit Aufgaben vom Kreisamt belegt werden, die gestern schon fertig sein sollten, bietet sie sich sofort an, eine Nacht, oder wegen mir auch mehrere, durchzuarbeiten, um das Beste herauszuholen. Natürlich hat sie auch bessere Bedingungen als ich, da sie nicht mehr verheiratet ist und nur mit ihrem Vater, einem Tischlermeister in Rente, zusammenlebt. Für Ursula ist der Partner ganz einfach das Gemeindeamt, für den sie alles tut. Das weiß auch der Jupp, unser neuer Bürgermeister, und ich finde, er nützt die gute Seele so richtig aus. Manchmal kommt mir der Jupp wie ein Hallodri vor, na ja, er ist ja auch aus dem Rheinland und durch die Kriegswirren hier bei uns irgendwie hängen geblieben.“ Die Ursula (ich sagte immer Frau Walther zu ihr) und Mutti freuten sich weiß Gott immer sehr, wenn ich in ihrem Büro erschien. Sie unterbrachen sofort ihre Arbeit – allerdings nur kurz, denn zumindest Ursula arbeitete, nach einer kurzen Rast, sofort weiter. Meist klingelte schon nach kurzer Zeit das Telefon und die beiden hatten eigentlich gar nicht so viel Zeit für mich. Ursula kramerte, ohne ihre Arbeit so richtig zu unterbrechen, manchmal in ihrer Tasche und, wenn ihre Hand, aus dem offensichtlichen Chaos, herauskam, umklammerte sie einen Pfefferminzbonbon, den sie mir sofort freundlich herüberreichte. Ursula war aber ganz anders als Mutti – ich meine, bezüglich ihres Aussehens und auch in ihrer Art. Sie hatte eine Frisur, die wie eine gesprengte Matratze aussah – ähnlich Angela Davis. Ihr Gesicht war schon ziemlich zerfurcht und die faltige Haut war irgendwie leicht gelblich. Sie trug eine starke Brille – eine solche, die in dem Brillenglas außen eine umlaufende Kante hatte und wo das Glas nicht konvex (wie üblich), sondern beidseitig konkav war. Zudem sprach Frau Walther so sanft, dass ich mir heimlich dazu den Passus zurechtlegte: „Frau Walter haucht“. Mutti erzählte mir später flüsternd, dass die Frau Walther überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres legen würde. Ich war erstaunt, da ich nicht begriff, weshalb die Ursula ihre Matratzenfrisur nicht in Ordnung bringen wollte. „Klaus, es gibt Menschen, die nur für ihre Arbeit leben. Alles andere interessiert sie nicht! Sieh mal, die Frau Schabracke, deine Klassenlehrerin! Diese gebildete Dame scheint ähnlich zu denken.“

„Also, Mutti, nun fange mir nicht noch mit der Schabracken an. Die schaut genauso verbissen in die Welt wie ihre fettigen Haarloden!“

„Nun ist aber Schluss! Wie redest du denn über deine Lehrerin? Das ist ja ein Skandal, mit welcher Respektlosigkeit du diese gebildete Frau hier verbal behandelst!“