Rotz am Backen, Scheiß am Been - ach wie ist das Läähm scheen

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„Mama was ist denn DP?“

„Klausmann, jetzt hörst du einmal durchgängig zu und fragst nicht immer dazwischen. Sonst kommen wir überhaupt nicht weiter. Die NSDAP ist die führende Partei in Deutschland, die alles festlegt und regelt – sie heißt Nationalsozialistische Partei Deutschlands. Diese hat festgelegt, dass Arbeiter aus den von Deutschland besetzten Ländern zu uns kommen, um das Land in dieser schweren Zeit des Krieges zu unterstützen.“

„Aber Mama, wenn die Arbeiter aus diesen Ländern wegmüssen, dann können sie doch dort nicht Felder bebauen, Getreide ernten und Tiere züchten. Da haben ja dann die Kinder in diesen Ländern da nichts zu essen.“

„Ja, du hast nicht ganz unrecht, aber es ist eben so, dass die Partei dies für Deutschland festlegt und das, was sie festlegt, ist gut für die Menschheit und dient uns allen. Unsere BdM-Leiterin erläuterte uns das immer und immer wieder, dass es um die Zukunft und die Sicherheit Deutschlands geht.“

„Mama, wie war denn das nun mit dem Herbringen der Arbeiter? Mussten sie hierher laufen?“

„Nein, sie kamen alle mit dem Zug. Wir bekommen in der Gemeinde immer Schreiben, welche Züge mit welchen Arbeitern und aus welchen Ländern bei uns eintreffen. Für Arbeitskräfte müssen sich die Bauern oder Betriebe bewerben. Dies wird dann von uns eingeschickt, geprüft und eventuell bestätigt. Bei uns tut das der Ortsgruppenleiter in Verbindung mit dem Bürgermeister. Für unser Gut hatte ich mich um drei Arbeitskräfte beworben. Vorgestern kam zehn Uhr auf dem Hauptbahnhof in Freiberg ein Zug aus dem Westen an, eine halbe Stunde später kam ein Zug aus dem Osten. Aus dem ersten wählte ich Johann und Marcel aus und aus dem zweiten Natascha und Nikolai.“

„Wieso hast du denn gewusst, dass es für uns die richtigen Leute sind?“

„Jeder Zug hat mehrere Begleiter und die habe ich gefragt, wer Erfahrung in der Landwirtschaft hat. Danach hat Natascha in der Tierzucht gearbeitet, Nikolai auf dem Feld, Johann und Marcel waren auf großen Bauerngütern, wir würden Rittergüter sagen, tätig, das heißt sie können alles.“

„Aber wer hat sie denn in den Ländern ausgewählt, Mama?“

„Klausmann, das ist aber jetzt die letzte Frage, dann schläfst du. Unsere Soldaten in den besetzten Ländern haben diese Arbeiter ausgewählt, zum Zug gebracht und nun sind sie hier. Genügt das, kleiner Mann?“

„Ja, aber die sind doch nicht freiwillig mitgegangen – der Johann wollte doch sicherlich bei seiner Mama bleiben, dort, wo er geboren ist. Ich verstehe das alles nicht so richtig. Am Ende muss der Schinderhannes noch nach Frankreich, um dort zu arbeiten oder jemand anders muss das tun. Kann das passieren Mutti? Ich kapiere das nicht, wenn ich mich auch freue, dass Johann bei uns ist.“

„Klaus, jetzt ist endgültig Schluss, höre mit der ewigen Fragerei auf und schlafe süß.“ Sie küsste mich auf die Stirn, deckte mich zu und ich musste nun sehen, wie ich mit diesem Sack von Fragen zurechtkam.

Mitten in der Nacht erschrak ich zu Tode. Auf dem Gang hörte ich, wie jemand barfuß in äußerster Angst an das Gangende rannte und immer schrie. Das Schreien war für mich unverständlich – es klang so hart und fremdartig, mit schriller Stimme. Ich hatte große Furcht und rief Mama, welche sofort senkrecht im Bett saß und mit Bestürzung in der Stimme sagte: „Pst, Pst, das ist etwas Gefährliches.“ Dann ging sie aber doch hinaus – ich hinter ihr her, indem ich mich hinten an ihr Nachthemd klammerte. Sie versuchte mich mit der Bemerkung abzuschütteln: „Klaus, geh sofort ins Bett, das ist alles viel zu gefährlich für dich.“ Auf dem Gang war es stockdunkel. Mama versuchte eine Taschenlampe anzuschalten. Ihr Licht war aber zu duster, als dass man etwas erkennen konnte. Da rief Opa: „Mach doch mal Licht, Gretel, bei dir ist doch der Schalter, gleich nach dem Fenster hinten.“

Mama schaltete und es wurde einigermaßen hell. In einer Art Nachthemd, es sah eher aus wie ein dickes Kleid, stand Natascha da, schrie laut und zitterte am ganzen Körper. Mutti versuchte sie zu beruhigen – es gelang nicht. Dann gingen die Frauen, Tante Friedel und Tante Erika waren inzwischen auch da, in das Zimmer von Natascha, das heißt den Besenschrank. Dort schrie Natascha immer: „Tam, Tam, Tam.“ Sie war ganz weiß im Gesicht und hörte nicht auf zu brüllen. Meine Mutti nahm Nataschas linke Hand, Friedel nahm ihre rechte Hand, drückten, jeder von seiner Seite, ihren Kopf an Nataschas Kopf und sprachen mit Engelszungen: „Mädchen, sei ruhig – wir sind hier bei dir – ganz ruhig, ruhig. Wir helfen dir doch. Was ist denn passiert, warum schaust du denn immer auf die eine Stelle?“

Friedel nahm ihren Zeigefinger und wies in die Richtung, wo Natascha hingezeigt hatte. Sie ging mit ihrem Zeigefinger immer näher zur Wand. Wenn es irgendwie nach Ansicht Nataschas falsch war, rief sie: „Njet, Njet.“ War es die richtige Richtung, rief sie: „Da, Da, Da.“ Das Spielchen ging so eine ganze Weile, bis Tante Friedels Finger an die Schnittstelle zwischen Fußboden und senkrechter Wand an eine bestimmte Stelle kam. Da wurde Natascha ganz wild und schlug beide Hände vors Gesicht. Mutti und Tante Friedel beratschlagten: „Was kann denn das nur sein, Gretel? Was denkst denn du?“ Ich hing immer noch an Muttis Nachthemd in Höhe ihres Popses, wobei ich mich nur noch mit der rechten Hand festhielt. An der Stelle, die Tante Friedel zeigte, sah ich eine kleine dunkle Stelle: „Seht ihr da nicht das kleine schwarze Loch?“ Sie wisperten miteinander eine ziemlich lange Zeit und verkündeten dann vollkommen aufgelöst und erregt: „Das ist doch nur ein Mauseloch, so schlimm ist das gar nicht, Natascha. Du kannst beruhigt wieder ins Bett gehen.“

Die blutjunge Russin wurde auch tatsächlich ruhiger. Sie streichelten sie ständig, ihr Zittern am ganzen Körper hatte fast aufgehört. Ich dachte schon, nun wäre alles überstanden. Übrigens, ich fror ganz jämmerlich. Also wollte ich die Sache beschleunigen und sagte: „Legt doch Natascha einfach wieder ins Bett, damit endlich Ruhe wird. Ich will wieder schlafen gehen.“

„Ach, der Junge ist ja auch noch hier. Klaus geh sofort ins Bett, es ist viel zu kalt und zu aufregend.“ Ich ging hinaus, schlunzte aber durch einen Türspalt noch hinein. Die beiden versuchten, Natascha ins Bett zu bringen. Da passierte etwas Furchtbares – Natascha fing wieder an, am ganzen Körper zu zittern, schrie noch mehr als vorher und rannte barfuß an das andere Ende von dem unheimlich langen Flur. Mama sagte: „Uns bleibt hier nichts weiter übrig – Natascha kommt mit zu Klaus und mir ins Zimmer, sonst ist die Nacht rum. Das junge Mädchen hat eine derartige Furcht, wir müssen dem einfach Rechnung tragen.“

Da sahen die beiden, was das erneute Chaos verursacht hatte. Eine Maus raste in der Besenkammer hin und her und da Opa in der Nähe des Mauseloches stand, war ihr der Rückzug versperrt. Sie jagte auf den Gang hinaus und verschreckte die arme Tascha vollends. Opa rannte in dem dusteren Licht mit einem langen Besen in der Hand hinter ihr her und wollte sie erschlagen. Jetzt wurde Tante Friedel energisch: „Jetzt ist Schluss! Opa, du hörst mit der Jagd nach der kleinen Maus sofort auf! Wir müssen jetzt zur Ruhe kommen!“ So wurde es dann auch. Opa schleppte den Strohsack in unser Zimmer, Friedel brachte Laken und Kopfkissen und Mutti die zwei Decken. So langsam aber sicher trat Ruhe ein.

An dieser Stelle drängt es mich, einen zeitlichen Vorgriff vorzunehmen. Als das Erntefest nahte, kam auf uns alle ein absolutes Chaos zu. Das Haus wurde auf den Kopf gestellt und der Hausputz blühte. Unter anderem wurden die Strohsäcke auf den Hof geschleppt, sie sollten eine neue Füllung bekommen. Also wurde das alte Stroh herausgeschüttet – bei Nataschas Strohsack kam, außer dem alten Stroh, ein Nest mit kleinen, nackten Mäusen zum Vorschein. Lothar und ich erschraken unheimlich. Nachdem wir aber den ersten Schreck überstanden hatten, sahen wir genauer hin. Die kleinen Mäuschen waren unheimlich niedlich und taten uns sehr leid. Da wir ahnten, was mit den kleinen Mäuschen geschehen würde (Opa schrie zum Beispiel derb: „Holt mal den Kater Moritz her, hier sind kleine Mäuse.“), verzogen wir uns rasch. Natürlich wurde Natascha von diesem Vorkommnis nicht informiert. Was wäre wohl geschehen, wenn sie es erfahren hätte? Ich könnte mir fast vorstellen, dass sie es aufgeregt ablehnen würde, jemals wieder auf einem Strohsack zu nächtigen.

Am nächsten Morgen wurde ich spät munter, schließlich war es auch eine aufregende Nacht gewesen. Ich schaute mich in unserem Zimmer um. Nataschas Decken waren zurückgeschlagen und Muttis Federbett ebenfalls – natürlich war keiner mehr da. Neugierig, wie ich nun mal bin, stürmte ich vom ersten Stock runter in die Küche. Nur Oma war noch da. „Der Lothar kommt auch gleich, Klaus, wasche dich und putze dir die Zähne.“

„Oma, mich interessiert vor allem – wo ist denn die Natascha?“

„Die ist im Kuhstall und mistet aus.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte ich nebenan in den Kuhstall, sofort erkannte ich sie. „Natascha, wie geht es dir? Bist du noch ängstlich und aufgeregt?“ Als sie mich sah, strahlte sie: „Dobroje utro, Klauuuss.“

Strahlend sah ich mir Natascha näher an. Sie trug ein rotes Kopftuch, welches sie unten am Kinn mit zwei Knoten gebunden hatte. Ihr Blick war jetzt freundlich, fast strahlend, ganz im Gegensatz zu gestern Abend. An dem unteren Teil ihrer linken Wange war ein Grübchen angesiedelt. Ihre rehbraunen Augen blickten sanft. Sie hatte leicht hervorstehende Wangenknochen und ganz rote Wangen – ich fand sie äußerst hübsch, jung und frisch dazu. Gestern hatte ich erfahren, dass Natascha gerade 18 Jahre alt geworden sei.

Plötzlich rief Oma mit ihrer Donnerstimme: „Klaus komm her zum Essen, der Lothar ist auch schon da und außerdem hast du dich noch nicht gewaschen und nicht die Zähne geputzt, so geht das nicht. Du musst besser folgen!“ Leicht verschreckt winkte ich schnell Natascha zu und machte mich schnurstracks auf den Weg in die Küche.

 

„Lothar, nach dem Essen gehen wir schnell zu Natascha, die ist prima. Vielleicht können wir ihr helfen bei der Arbeit.“

„Eigentlich wollten wir doch mit Tell spielen und ihn als Zugpferd für unseren Handwagen einspannen.“

„Das können wir doch immer noch tun, erst gehen wir mal zu Natascha und da fällt mir ein, wir sollten vielleicht auch mal schauen, was Johann, Marcel und Nikolai so anstellen.“

„Na einverstanden, so machen wir das.“

Nach dem Frühstück gingen wir sofort in den Kuhstall zu Natascha. Sie arbeitete immer noch fleißig und lud die Hinterlassenschaften der Kühe auf einen kleinen Transportwagen. War dieser voll, musste sie ihn hinausfahren. Dies war aber nicht so einfach, sie musste um den Misthaufen herumfahren, dann ging es einen Weg mit Anstieg hoch, damit sie es von oben abkippen konnte. Als sie wieder zurückkam, keuchte sie mächtig, war feuerrot im Gesicht und hatte Schweißtropfen auf der Stirn. Mir tat sie ganz einfach leid, Lothar schaute auch sehr mitfühlend. Ich holte mein Stofftaschentuch aus der Tasche und stupste damit Natascha auf die Stirn. Sie ging aber sofort mit dem Kopf zurück und winkte ab. Lothar zischelte mir zu: „Du Dummkopf, dein Taschentuch ist genauso schmutzig wie meines, wenn das die Mutti hört oder sieht, ist der Teufel los. Wir blamieren uns doch, Klaus, pass doch mehr auf!“

Auch wenn es Lothar nicht passte, ich wollte bei Natascha bleiben. Ihr schien es allerdings nicht ganz recht zu sein, sie war eifrig beim Arbeiten und sagte, leicht aufgeregt: „Ja chotschu rabotatch (ich will arbeiten)!“ Ich verstand zwar ihre Worte nicht, aber dass sie weiter schuften wollte, dies wurde mir schon klar. Sie rief uns noch zu: „Smotrie na Nikolai, Johann und Marcel (schaue zu Nikolai, Johann und Marcel)!“, und zeigte mit dem Zeigefinger auf den Getreideboden, gleich neben der Tenne.

Also gingen wir, ich zumindest leicht widerwillig, zu dem dritten Gebäude unseres Bauerngutes, wo in der ersten Etage das Getreide lagerte, welches über die Tenne angeliefert wurde. Bereits am Beginn der Tenne angekommen, hörten wir einen Riesenspektakel. Opa hatte mir das ganze schon einmal erklärt – das Getreide wurde mit Dreschflegeln gedroschen. Diese bestanden im Wesentlichen aus zwei zylindrischen Holzkloben, welche gelenkig miteinander verbunden waren. Der untere Holzzylinder wurde mit Gewalt auf das Getreide geschlagen, so, dass das Stroh und die Körner getrennt wurden. Nikolai und Marcel hämmerten wie wild mit den Dreschflegeln. Sie sahen beide knallrot aus, von ihrem Gesicht tropfte der Schweiß sichtbar herab – es war ja auch ein mächtiger Drill. Hannes, der Schinder, trennte Stroh und Körner und schaffte immer wieder neues Getreide heran. Nicolai und Marcel taten mir richtig leid, Lothar hatte ähnliche Gefühle.

„Wollt ihr etwas zu trinken?“, rief ich den dreien zu. Hannes und Marcel hörten sofort auf mit arbeiten, während Nikolai weiter schuftete. Ich ging hin und schubste ihn an der linken Schulter an – er hörte auf und schaute mich fragend an. Wir wiederholten unsere Frage erneut, aber Nikolai verstand nichts. Was tun?

Ich hielt den Kopf etwas hoch, machte den Mund auf und tat, als wenn ich eine Flasche schräg in der Luft halten würde. Nikolai nickte erfreut mit dem Kopf: „Da, Da, Da.“ Auch Marcel und Hannes nickten bestätigend mit dem Kopf. Also gingen wir ins Haus und suchten Oma. Sie war aber nicht da – dafür fanden wir Friedel im Kuhstall, welche Natascha half.

„Tante Friedel, bitte hilf uns, Marcel, Nicolaj und Hannes sind fix und fertig. Die sehen feuerrot aus und der Schweiß fließt nur so. Wir müssen unbedingt etwas zu trinken bringen.“

„Nun übertreibt mal nicht so. Schaut euch mal Natascha und mich an – wir sind auch schon ganz malade.“

„Ja, aber die drei dreschen in der Scheune, das ist eine übelst schwere Schinderei.“

„Kommt mal mit, ihr Quälgeister. Hier ist noch die Kanne mit Malzkaffee, hier haben wir einen Topf mit Milch, da sind drei Tassen und nun ab mit euch. Ihr habt jetzt genug gestört.“

Lothar trug die Kanne Kaffee, ich den Topf, am kleinen Finger baumelten die leeren Tassen. Wir rückten stolz mit unserer Ware an, erschraken aber zutiefst, als wir dort angekommen waren. Was war denn hier los? Marcel lag mitten im Getreide auf dem Fußboden. Nikolai kniete neben ihm und hielt seinen Kopf mit beiden Händen. Auf der Stirn war eine Verletzung zu sehen – Blut rann von der Stirn nach unten. Auweia, Lothar und ich waren vollkommen entgeistert. Hannes schaute noch bedepperter als sonst drein. Wir stellten Kanne und Topf hin und wollten zu trinken geben. Hannes schenkte sich Kaffee ein und trank, aber Nikolai sagte, als er sah, was wir mitgebracht hatten: „Njet,ja chotschu pitch wodu.“

Keiner wusste, was er meinte. Da meldete sich der verletzte Marcel: „Wasser, Wasser.“ Wir flitzten aufgeregt zurück in die Küche. Oma war inzwischen wieder da. Wir erzählten, was sich da in der Scheune abgespielt hatte. „Ich schicke euch sofort die Friedel mit, Kinder, das ist ja eine schlimme Sache.“

Friedel hielt eine Karaffe unter den Wasserhahn, dann marschierten wir drei im Eilschritt los. „Ei Gott“, entwischte es Friedel, als sie Marcel blutend auf der Erde sah. „Nikolai, erzähle! Was war denn hier los?“ Nicolai hob nur entnervt die Hände und schaute sie unglücklich an. „Ach ja, du armer Kerl kannst ja kein Deutsch.“

Plötzlich fing Hannes an zu erzählen: „Lothar und Klaus wollten etwas zu trinken holen. Das war für die beiden gleich Anlass, eine Pause einzulegen. Wir müssen aber mit Hochdruck arbeiten, damit die Hälfte des Getreides heute noch fertig gedroschen wird. Also nahm ich Marcel den Dreschflegel weg, holte aus und da er hinter mir stand, traf ich ihn am Kopf. Es tut mir leid, dass mir das passiert ist.“

„Hannes, du Döskopf, das hat noch ein Nachspiel. Immer machst du solchen Quatsch und es entsteht Schaden. Marcel, kannst du aufstehen?“ Als er fragend und gequält aufsah, wiederholte Friedel: „Aufstehen, hoch, geht das?“ Dazu zeigte sie noch mit beiden Händen von unten nach oben, als sie das Wort hoch aussprach, damit er es verstehen konnte. Kurz und knapp antwortete Marcel: „Oui.“

„Nicolaj und Hannes, ihr führt Marcel, jeder auf einer Seite und stützt ihn, in das Wohnhaus. Wir müssen die Wunde desinfizieren und verbinden.“ Marcel stand vorsichtig, mit Unterstützung von Nicolaj, auf – dabei stöhnte er. „Ist dir schwindlig?“, fragte Friedel, „ich meine, dreht es dir, Marcel?“ Dabei machte sie mit der rechten Hand eine drehende Bewegung.

Marcel begriff: „Non, Non.“

„Gott sei Dank.“ Marcel war sehr schlank und hatte eine stattliche Größe. Seine blonden Haare waren durch den Unfall zerzaust und seine stahlblauen Augen schauten ernst und traurig in die Welt. Oma und Opa erwarteten schon unsere Prozession. „Opa war schon bei unseren Nachbarn und zwar bei Peunerts. Tochter Erika, die als Krankenschwester in Freiberg arbeitet, kommt gleich.“ Fünf Minuten später kam Erika, schaute sich alles gründlich an, desinfizierte, legte Zellstoff auf und dann erhielt Marcel einen ziemlich großen Verband um den Kopf. Dann bekam er noch einen Tee und wurde in sein Bett geschickt. Nicolaj und Friedel begleiteten den Verletzten.

Opa wartete ungeduldig, bis das Ende der medizinischen Behandlung erfolgt war und nahm sich nun, in großer Erregung und Empörung (man sah es deutlich an seinem vor Wut verzerrtem Gesicht) den Schinderhannes vor. „Hannes, du bist ein Tollpatsch und machst so viel falsch, so viel Scheiße. Wenn das so weitergeht, werfe ich dich raus. Was mich am meisten aufregt ist, dass du immer der Größte, Stärkste, Schnellste und der Fleißigste sein willst, dazu noch einen großen Mund hast und anderen ständig übers Maul fährst!“ Während Opa sprach, war er aufgeregt hin- und hergelaufen und hatte mit seiner Fleischermeister-Donnerstimme dermaßen geschrien, dass meine Mama, die gerade ins Haus trat, aufgeregt und ängstlich guckte: „Opa, bitte, nicht schon wieder, sei still!“

Irgendwie beruhigte sich das Ganze doch einigermaßen. Auf alle Fälle war die Großspurigkeit, zumindest in diesem Moment, von Hannes abgefallen – er wirkte sehr niedergeschlagen.

Nun wollten Lothar und ich natürlich unbedingt zu Johann schauen. Wir wussten, dass er pflügte und zwar hinten auf dem großen Grundstück am Wald vor der Leipziger Straße. Also liefen wir zwei hin und schwatzten natürlich dabei und schwatzten und schwatzten – am meisten redeten wir über unser geplantes Ziegengespann. Vor allem Lothar drängte darauf, dass wir endlich eine Fuhre mit der Ziege machen. Ständig lag er mir in den Ohren: „Klaus, ich mach das nicht mehr lange mit. Wir reden schon so lange davon, dass wir mit der Ziege einmal mit unserem Handwagen fahren wollen – nie wird etwas daraus. Du bist schuld daran, weil du keine rechte Lust hast.“

Wir wussten aber nicht genau, wie wir die Ziegen am Handwagen befestigen sollten. Lothar hatte den Vorschlag, dass wir es mit einem Strick versuchen sollten und ich hatte dazu meine Bedenken, da ich daran dachte, wie die Pferde, mit dem Geschirr versehen, die Wagen zogen. Also stritten wir, diskutierten wie wild, doch ohne Ergebnis. Lothar war vor Eifer ganz rot im Gesicht.

Da sahen wir von Ferne schon das Gespann von Johann. Wir schrien und riefen laut mit unseren hohen Fistelstimmen: „Johann – wir kommen.“ Dieser hörte uns nicht, da er schon wieder, wir hatten es schon von Ferne gesehen, Probleme mit unserem Ochsen hatte. Dieser blieb einfach stur stehen und zickte, mit sich und der Welt offensichtlich unzufrieden. Johann tat sein Möglichstes – er sprach mit ruhiger Stimme auf den Ochsen ein und schwang die Peitsche vor seinen Augen und knallte neben seinem dicken Hintern. Er praktizierte das Ganze viel verständnisvoller als Hannes, der mit einem riesengroßen Knüppel auf unsere Kuh Elsa eingedroschen hatte.

Begeistert rufend rannten wir zu Johann. Ich schlang beide Arme um seine Hüfte, auch Lothar schaute begeistert in sein Gesicht. „Bonjour, Guten Tag, Kinder.“

„Wie geht es denn mit dem Pflügen?“

„Ochse will nicht, faul, ich muss geben Futter, Wasser.“

„Sollen wir es für dich holen, Johann?“

„Oui.“

„Johann, wir holen für dich Heu und Wasser.“

„Non, in Stall ist Kübel, Möhren und Wasser.“

„Ja, das tun wir für dich“, schrien wir begeistert.

„Non, vor mir – vor Tier.“

Nun hatten wir zwei eine Aufgabe. Wir stolperten vor Eifer über das Feld. Wir liefen im Eiltempo und als ich vorschlug zu rennen, antwortete Lothar sofort, nicht mit einer Diskussion, sondern mit einer praktischen Tat. Er flitzte nämlich plötzlich davon, ich kam kaum hinterher. Nach vielleicht fünfzig Metern hatten wir unsere Körner bereits verschossen und gingen in den gemütlichen Trab über. Dabei keuchten wir noch immer wegen der ungewohnten Hundert-Meter-Sprinterei. Durch den Hausflur stürmten wir in die Küche, es war aber niemand da. Also – nebenan in den Kuhstall. Tatsächlich, hier stand ein Holzbottich mit Henkel, indem verschiedenes Gemüse lag – Möhren, Sellerie, grüner Salat, Kohlrabi und anderes mehr. Begeistert quietschten wir: „Lothar, das meinte der Johann.“

„Klaus, hier sind die Möhren.“

Wir versuchten, ihn gemeinsam anzuheben. Mit äußerster Anstrengung konnten wir den Kübel geradeso hochheben. „Lothar, wir müssen den Handwagen nehmen. Der Kübel ist ja wie am Boden festgewachsen, viel zu schwer.“

Wir holten den Handwagen aus der Scheune und fuhren damit gleich vom Hof durch das Kuhstalltor hinein. Da wir den Kübel höchstens dreißig Zentimeter hoch brachten, machten wir die hintere Querstrebe des Wagens auf einer Seite los und konnten sie damit zur Seite drehen. Nun war der Kübel dran – es war eine große Schinderei, aber wir schafften es, dass er nun endlich auf dem Wagen stand. Wir drehten die hintere Querstrebe wieder zurück und befestigten sie an dem rechten Holm des Wagens. Nun schoben wir den Handwagen rückwärts aus dem Kuhstall. Das war schon verdammt schwer, da hier unregelmäßige Natursteinplatten verlegt waren. Es war ein holpriges Fahren, aber nun waren wir auf dem Hof und konnten den Wagen um 180° drehen. Jeder erfasste einen Griff der Deichsel und wir zogen den Wagen über den Hof. Auch das war ziemlich anstrengend, da dieser mit grobem Pflaster versehen war, teilweise fest gestampfte Erde – es war mühselig. Wir berieten: „Wie sollen wir denn den Weg hoch zum Feld und dann auf dem Weg die vielleicht Tausend Meter bis hin zu Johann schaffen?“

 

„Lothar, ich hab’s. Wir müssen Paul, die weiße Edelziege, einspannen.“

„Du hast Recht – guter Gedanke. Das rettet uns.“

Verwundert schaute uns die Ziege an, als wir in ihren Stall kamen: „Määhhh, Määhhh.“ Aber wie befestigen wir nun den Paul? „Sieh doch mal hier, hier hängt doch das, ich weiß nicht, wie es heißt, was den Tieren um den Hals gehängt wird.“

„Ja, richtig und siehst du da – dort sind Riemen. Die müssen wir rechts und links am Handwagen befestigen und dann müssen die Paul um den Hals gehängt werden, damit dieser ziehen kann.“ Wir fanden einen Ring aus Leder, an dem wir die Riemen befestigten konnten. Der Ring wurde Paul um den Hals gehängt. Auf alle Fälle schafften wir es, dass die Ziege am Wagen befestigt war und zwar links von der Deichsel. „Lothar, die haben doch immer noch, ja, jetzt weiß ich es – einen Zügel, der vorne bis zum Kopf des Pferdes geht, na, hier neben der Ziege. Diesen nimmt der Fahrer in die Hand und führt damit das Pferd. Am vorderen Teil ist so ein Stahlteil, welches in das Maul kommt.“

„Klaus, das Ding, also den Zügel, brauchen wir nicht. Ich lege vorn meine Hand auf das Genick beziehungsweise den Hals von Paul und schiebe ihn, das wird schon gehen.“

„Naja, mag ja so gehen, Lothar, wir müssen aber Paul noch an der Deichsel befestigen.“ Wir fanden zwei lange Riemen, welche wir um Paul und um die Deichsel wanden und dann an den Schnallen befestigten. Alles war jetzt festgezurrt. Wir fuhren los – die ganze Chose ging mehr schlecht als recht.

„Klaus, wir haben doch das Wasser vergessen.“

„Verdammt, das ist vielleicht belastend.“

Wir holten aus dem Kuhstall einen vollen Eimer mit Wasser, den wir wieder gemeinsam tragen mussten. Auch dieser war wieder sehr schwer – wir keuchten. Das Ganze war schon eine ziemliche Plackerei, die wir uns nicht so vorgestellt hatten. Aber was soll’s. „Paul, zieh.“ Wir gaben Paul einen Klaps auf sein linkes Hinterteil und tatsächlich, Paul zog den Wagen. Lothar war vorne bei Paul und ich schob an dem hinteren Querholm. So kamen wir mühselig vom Hof auf den ziemlich steilen Anstieg, welcher vom Hof bis auf den oberen Weg führte. Aber, was war denn das? Paul wollte nicht mehr. Er blieb einfach stehen. Wir redeten auf ihn ein, gaben ihm mehrere Klapse auf sein Hinterviertel, drückten am Hals, gaben ihm eine Möhre – nichts, er bewegte sich nicht mehr. Paul zickte.

Erschöpft setzten wir uns auf einen Stapel Rundholz, welcher sich gleich neben dem Misthaufen befand. Beide hatten wir den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen ruhten auf den Knien. Wir waren verzweifelt. „Vielleicht sollten wir ihm Wasser geben“, schlug Lothar vor. Gesagt, getan. Wir holten einen Becher und hielten ihn Paul vor das Maul. Erstaunt sahen wir, dass er trank. Wir freuten uns, gaben ihm die Möhren von vorhin noch einmal und siehe da – er fraß sie auf. „Los, Klaus, jetzt geht’s weiter.“ Tatsächlich lief Paul, zwar langsam, aber er lief wieder weiter. Wir wurden übermütig, bestürmten die Ziege mit lauten Rufen, noch schneller zu laufen, jubelten, gaben Klapse auf den Po und zerrten an Paul herum. Wir wollten, dass er Galopp läuft. Tatsächlich wurde er auch schneller. Wir schafften den Anstieg und wollten auf den Weg einschwenken. Wie solche Wege halt so sind – rechts und links tiefe Fahrspuren, in der Mitte eine meist sehr hohe Grasnarbe und neben dem Weg ebenfalls hohe Aufwerfungen. Wir versuchten, auf diesen Weg einzuschwenken und brüllten, wie vorhin beschrieben, auf Paul ein.

Plötzlich drehte sich das linke Vorderrad von der Grasnarbe auf die Fahrspur stark nach rechts – die Ziege zog ebenfalls in diese Richtung und unser Gefährt kippte nach links um. Das Schlimmste war, dass Paul von dem Wagen und der Deichsel nach unten gerissen wurde und mit seinem Körper auf die Deichsel krachte, welche zerbrach. Mit einem Wort: Die Ziege, welche an der Deichsel festgebunden war, wurde zu Boden gerissen und lag strampelnd und meckernd im Dreck. Ihre Augen waren vor Schreck geweidet – sicherlich hatte sie Todesangst. Ihr Spitzbart am Kinn zitterte beträchtlich und das Meckern nahm unheimlich zu. Wir gerieten in panische Angst und knübberten aufgeregt an den zwei Riemen, mit denen Paul an der Deichsel befestigt war. Uns zitterten die Hände vor Aufregung, es gelang uns aber, die Riemen zu lösen. Paul hatte von der Deichsel einen Schlag abbekommen, meckerte aufgeregt und rannte wie wild los. Dabei stolperte er über die Deichsel und stürzte erneut hin, sodass beide Vorderbeine zusammensackten. Wir konnten ihn gerade noch gemeinsam am Hals zurückhalten wegzurennen und richteten das aufgeregte Tier auf.

„Um Himmels willen – kannst du dir vorstellen, Lothar, wenn Paul ein Bein gebrochen hätte. Da hätte Opa die arme Ziegel tot gemacht, so machen die das doch immer, wenn ein Tier verletzt ist.“

Den Wagen wieder aufzurichten, war uns unmöglich. Der Kübel, das Gemüse und der Wassereimer fielen herunter. Da Lothar links vom Wagen lief, ergoss sich das gesamte Wasser auf seine Beine. Es war ein Desaster. Wir waren beide sehr durcheinander und trauten uns nicht zu, die Fahrt fortzusetzen. „Lothar, du musst nach Hause gehen und Hilfe holen.“

„Und wieso ich, schau mal auf meine Beine und Schuhe – alles nass. Jetzt habe ich endgültig die Schnauze voll – so eine Scheiße“, schimpfte er. Ich versuchte, Lothar ein wenig zu beruhigen und ging nun natürlich selbst los, um Hilfe zu holen. Zurück kam ich mit Hannes, der wieder einmal (eigentlich wie immer) schlechte Laune hatte: „Herrjeminee, was macht ihr denn wieder für einen Rotz? Die Ziege einzuspannen – seid ihr denn verrückt? Dazu muss man Ahnung haben und die nötige Ausrüstung. Ihr wisst wohl gar nicht, dass man dazu ein Komet, einen Ortgang und ordentliches Zaumzeug mit Zügeln benötigt?“

Hannes richtete unseren Handwagen auf und lud alles wieder auf – den Kübel mit Gemüse und den leeren Wassereimer. Dann nahm er die Deichsel in die Hand und zog los mit der Bemerkung: „Um den Paul müsst ihr euch selbst kümmern. Passt ja auf, dass er nicht ausreißt. Wenigstens einen Strick um den Hals hättet ihr der Ziege legen können, ihr habt richtiggehend keine Ahnung. Ich werde alles der Frau Straßburger, Herrn Straßburger und euren Müttern sagen. So geht das nicht, ich mach das einfach nicht mehr mit. Was ihr euch einbildet – am liebsten würde ich euch mal richtig verprügeln.“

Tatsächlich hob Hannes die Hand und wollte uns eine knallen. Da Lothar ihm am nächsten stand, hätte es ihn erwischt. Er war aber sehr schnell und drehte sich rasch um und war weg. Obwohl ich ziemliche Angst vor Hannes hatte, maulte ich: „Hannes, wenn du uns etwas tust, dann fliegst du endgültig raus. Das hat der Opa bereits gesagt. Ich sage meiner Mutter, der Oma und dem Opa Bescheid. Du wirst schon sehen – warte nur ab!“

Nun bekam Hannes auf einmal Angst und redete auf mich ein: „So schlimm war das nun auch wieder nicht gemeint. Ihr müsst aber in Zukunft mehr fragen und nicht einfach irgendwas machen, wovon ihr keine Ahnung habt. Am besten, wir sagen ganz einfach, dass es nicht ganz geklappt hat mit der Ziege und beschuldigen uns nicht gegenseitig. So kann euch nichts passieren und mir auch nicht. Einverstanden?“ Aha, dachte ich, da hat er jetzt doch Angst bekommen vor Opa. Gut, dass ich so energisch rangegangen bin. Das muss ich mir für die Zukunft merken.

Also marschierten wir gemeinsam, Lothar war inzwischen wieder zurückgekommen, zu unserem Dreiseitenhof. Die Ziege wurde wieder im Stall angebunden und wir räumten den Leiterwagen weg. Hannes schaffte den Gemüsekübel in den Kuhstall und Lothar schleppte den leeren Wassereimer wieder an seine Ursprungsstelle. Wir waren wieder zu Hause.