Morituri

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22. März. Staatsbibliothek

10.00 Uhr. Der Graf hatte mit Udo vereinbart, dass er sich zunächst einmal in der Staatsbibliothek umschauen würde, ob es denn dort überhaupt relevante Informationen für sie abzugreifen gäbe.

Deshalb war er mit Bus und Straßenbahn in Richtung Universität gefahren und hatte dann nur noch einen überschaubaren Fußweg zur Staatsbibliothek gehabt.

Er stand vor dem beeindruckenden Ziegelgebäude, das die Staatsbibliothek beherbergte und rauchte die fürs erste (so für zwei Stunden dachte er sich) letzte Zigarette.

An der Treppe vor dem Haupteingang grüßten ihn vier große Steinfiguren, die von einigen gebildeten Münchnern als "Die vier Heiligen Dreikönige" bezeichnet wurden: Thukydides, Homer, Aristoteles und Hippokrates. In ihrer Gesamtheit verweisen die vier auf die Vielfalt der Wissenschaften, deren Literatur die Königliche Hof- und Staatsbibliothek zu sammeln bestimmt war.

Er stand nicht alleine vor der Treppe, außer ihm standen viele junge Leute, kaum welche rauchten (bis auf ein paar junge Frauen), einige tranken das Getränk, das angeblich Flüüügel verleihen sollte und die meisten quatschten einfach nur. Fast jeder hielt einen Laptop unter dem Arm.

Der Graf nahm einen letzten langen Zug, schaute dem Rauch aus seinem Mund einen Moment hinterher und trat dann die Zigarette mit dem Fuß aus und nahm schließlich dann die Außentreppe in Angriff.

Er trat durch eine kleine Tür in den Vorraum der beeindruckenden Innentreppe, die zum Lesesaal hinauf führte. Diese Treppe hatte König Ludwig I. (der Großvater von Ludwig II. oder „mad Ludwig“) einst nur zur Nutzung einzig durch sich selbst vorgesehen – ein ziemliches Privileg, fand der Graf und ging die Treppe entsprechend würdevoll und langsam hinauf, um den königlichen Aufstieg zu genießen.

Ein paar junge Leute liefen mit ihren iPad oder Laptop unter dem Arm schnell an ihm vorbei – das war offenbar ein Privileg der Jugend, in Räumen wie diesen nicht staunen zu müssen

Der Graf wunderte sich ein bisschen über die vielen jungen Leute, denn als er die Staatsbibliothek das letzte Mal benutzt hatte, das muss so 1985 oder 86 gewesen sein, da hatte die Staatsbibliothek zwar bestimmungsgemäß jedem Bayerischen Bürger offen gestanden, aber dezidiert NICHT den Studenten! Die Zeiten ändern sich.

Im Eingangsbereich zum Lesesaal war ein Sicherheits- und Kontrollposten eingerichtet worden, die Besucher mussten sich einzeln durch ein Drehkreuz zwängen – Fotoapparate waren nicht erlaubt, Handys mit ihren eingebauten Kameras dagegen schon.

Als der Graf den Zerberus am Eingangsdrehtor neugierig fragte, warum denn Kameras verboten seien, die Handys aber nicht, zuckte der gelangweilt die Schultern und sagte ihm, dass das Vorschrift sei, und er sich um die Gründe nicht scheren würde, wo käme er denn dahin, wenn er die Regeln auch noch hinterfragen würde. Und dahinten sei die Direktion, dort könne er ja nachfragen, wenn es ihn tatsächlich so brennend interessiere...

Nein, das tat es nicht, und der Graf passierte Zerberus, der ihm noch einen skeptischen Blick nachsandte.

Neben ihm hatte ein handgeschriebenes Schild über den Fakt informiert, dass alle Plätze im Lesesaal besetzt seien. Und auch da verkniff sich der Graf die Frage, warum dann noch Leute eingelassen würden... Naja, lesen konnte man schließlich auch im Stehen.

Als er den Lesesaal betrat, staunte er nicht schlecht – sicherlich waren alle Arbeitsplätze belegt – und das waren wahrlich nicht wenige, gefühlt bestimmt achthundert. Allerdings darf man sich nun nicht vorstellen, dass an jedem Platz ein fleißiger Student saß, nein, mehr so wie im „all-inclusive“-Urlaubshotel, wo die Gäste noch vor dem Frühstück Handtücher auslegten, um ihren Platz zu beanspruchen, lagen hier auf jedem zweiten Platz Block und Kugelschreiber – offenbar die Handtücher der jüngsten Akademikergeneration.

Vermutlich waren die angeblich fleißig Arbeitenden in der Cafeteria oder in den benachbarten Cafés, dachte sich der Graf, schließlich gehört zum Leben ja nicht nur das Studium der diversen Wissenschaften, sondern auch das des anderen Geschlechts.

Er schaute sich um und fand ein Schild oder Plakat, auf dem in Stichworten vermerkt stand, wo in den unendlichen Regalreihen, seine Interessengebiete versteckt waren. Er suchte seine Stichworte: Rechtsmedizin oder Kriminologie – und fand sie nicht.

Also steuerte er einen der vier oder fünf Beratungsplätze an. Am ersten saß ein auszubildender Bibliothekar (oder wie der sich nennen mochte), der wusste schon mal gar nichts und verwies stumm nur mit Handzeichen mit seinem gefährlich spitzen Bleistift an seinen Kollegen auf dem Nachbarplatz, der einer Studentin intensiv und konzentriert das Suchsystem im Bibliotheks-PC erläuterte. Das schien zu dauern.

Der Graf verstand, das Mädel war eindeutig jünger und vor allem hübscher als er. Also schaute er sich um und fand auf der anderen Seite des Ganges eine weitere Beraterin. Sie sah schon aus der Ferne streng aus. Er erläuterte ihr seine Wünsche. Sie schaute ihn zweifelnd an, nahm sich eine verkleinerte Version des Plakats, das er schon vergeblich durchsucht hatte und meinte dann achselzuckend, dass sie fände, dass da nichts sei – Medizin stände „oben“ und Rechtswissenschaften auch. Der Graf dachte sich, dass das ein toller Service sei, aber da die Benutzung des Lesesaales kostenlos war, war eine bessere Dienstleistung irgendwie auch nicht zu erwarten, fand er. Er ging also die Freitreppe hinauf.

„Leise und langsam gehen“ bedeutete ihm ein weiteres Schild an der Treppe, die Anweisung wurde zumindest dahingehend erläutert, dass sich sonst Lesesaalbenutzer über den ungebührlichen Lärm, den schnelles Gehen verursachen würde, beschweren würden.

„Ganz schön empfindlich, die iPad-Generation“, dachte sich der Graf. Jedenfalls ging er leise und auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, die trotzdem ziemlich in Schwingungen geriet und trotz seiner Vorsicht einiges Getöse von sich gab. Seine Beraterin am Fuß der Treppe schaute ihn böse an, und er zog die Schultern hoch und machte ihr sein unschuldigstes Gesicht. Leiser ging einfach nicht. Nicht auf dieser Treppe.

Oben angekommen suchte er zunächst „Medizin“. Seine Beraterin hatte ihm die Auskunft gegeben, dass er die unter „400“ finden würde, was immer das sein mochte. Er fand sie unter „900“, suchte den Fehler aber bei sich. Zwei lange Regalreihen begrenzten einen schmalen Gang, nichts für Leute mit Klaustrophobie. Die Hälfte der Regale war leer – aber nicht, weil die Bücher entnommen waren, sondern weil offenbar tatsächlich jemand „auf Zuwachs“ gebaut hatte!

Endlich, fast ganz am Ende, über Kopfhöhe fand er das Stichwort „Rechtsmedizin“, unter dem sich sechs einsame Bücher fanden. „Hhm“, dachte der Graf, „das scheint es zu sein...“.

Er nahm sich ein großes Lehrbuch und ein kleines Buch „Rechtsmedizin für die Kriminalpolizei“ aus dem Regal, schmökerte noch im Gang ein wenig darin herum und fand beide interessant genug, um sie unter den Arm zu nehmen und sich einen freien Arbeitsplatz zu suchen.

Von den ersten drei, auf denen weder Block noch Stift lagen, wurde er von den Platznachbarn mit dem Hinweis verjagt, dass da gleich jemand käme. Der Graf bezweifelte das zwar, wollte dem akademischen Nachwuchs aber auch kein Hindernis in der wissenschaftlichen Arbeit sein. Im Vorbeigehen sah er doch einige Jungakademiker, die sich mit ihren Laptops gerade von der anstrengenden Literaturarbeit entspannten – er sah Spielfilme und Schweinchen Dick-Comics laufen, andere spielten Patiencen oder Videospiele, das ganze Spektrum moderner Elektronik-basierter Entspannungsmedien eben.

Nun gut, sei es drum, er suchte weiter und fand endlich einen Bereich, in dem viele Plätze unbesetzt waren. Doch verdammt, ein Schild belehrte ihn, dass dieser Bereich für wissenschaftliche Mitarbeiter mit Codekarte reserviert war. Entsprechend war da eine verschlossene Tür, für die man offenbar die genannte Codekarte brauchte. Also auch nichts...

Schließlich fand er einen leeren Platz, dessen Nachbar ihn ob der Störung durch das leise Hinsetzen zwar böse ansah, sich dann aber wieder den Abenteuern Bugs Bunnys hingab.

Die Bücher, vor allem das dicke Lehrbuch, erwiesen sich als Volltreffer. Er fand auf Anhieb drei Schussgeräte, an die sie bisher nicht gedacht hatten: Pfeil und Bogen, eine hochmoderne Armbrust und eine Hochleistungszwille!

Da der Graf weder einen Laptop mitgebracht hatte noch einen Block, musste er sich die Informationen einfach merken. Allerdings fand er die Vorstellung, wie Robin Hood mit Pfeil und Bogen durch die Gegend zu schleichen, um sein „Wild“ zu schießen, eher erheiternd als anregend. Andererseits fand er es spannend, dass Rekordversuche mit modernen Hochleistungsbögen eine Schussweite von mehr als 1000 Metern gezeigt hatten.

Auch die moderne Armbrust fand er grundsätzlich interessant, las sich in dem Kapitel etwas fest (Auftreff- und Durchdringungsenergie etc.), entschied sich dann aber dagegen, die Armbrust den anderen als geeignete Waffe zu schildern, da sie ihm zu groß und mit nur jeweils einem Schuss zu unsicher erschien. Sie waren schließlich weder Robin Hood noch Jungfer Marian..., nicht in ihrem Alter!

Eine Hochleistungszwille deuchte ihm deutlich interessanter – vor allem, da sie sich leichter beschaffen lassen würde und Udo eventuell welche bauen könnte. Allerdings musste man damit gut umgehen können und das Zielen erschien ihm schon in der Theorie schwierig.

Er verwarf die Zwille letztlich aber endgültig, weil ihm der Kraftaufwand für seine Freunde doch zu hoch erschien. Aber interessant war das alles allemal...

Bei den Schießgeräten, so wurden die wirklich genannt, gab es eine interessante Einleitung über die verschiedenen Typen von „Schießprügeln“: Revolver und Pistolen als kurzläufige Waffen und Gewehre, Büchsen und Flinten und sonstiges Gerät mit langen Läufen.

 

Und dann fand er den interessanten Hinweis, dass der Erwerb von Langlaufwaffen viel einfacher sei, als der von Pistolen und Revolvern. Hhm, dachte er, darüber müssen wir nachdenken: Langwaffen. Bisher hatte zumindest er ja immer nur Pistolen und Revolver in Betracht gezogen, zur Not auch sogenannte Derringer, die nur eine Patrone pro Lauf boten und die nach dem Schuss nachgeladen werden mussten. Allerdings wie sollte man mit Langwaffen herumfuchteln? Das erschien ihm schwierig.

Und dann fand er den nächsten interessanten Hinweis, dass nämlich Morde auch mit selbst gebauten Schussapparaten geschahen, und in dem Moment erinnerte er sich an einen Film, den er vor sicher zwanzig Jahren gesehen hatte: „Der Schakal“.

Im „Schakal“ ging es um ein geplantes Attentat der OAS auf Charles de Gaulle, in dem sich der Attentäter extra ein zerlegbares Gewehr von einem Büchsenmacher bauen ließ! Er klappte das Buch langsam zu, und rief sich die Szene in das Gedächtnis zurück. Erstaunlich, was man sich alles merkte. Das Gewehr bestand nur aus einem Lauf und einem einfachen Schloss mit Abzug. Die Patronen hatte der Film-Büchsenmacher auch selber gemacht! Stopp, halt mal, Patronen!

Er schlug den Index des Buches auf und schaute unter Patrone nach – und siehe da, das war ja ganz einfach. Treibmittel war vor allem Schießbaumwolle und die hatte er schon mit vierzehn Jahren zusammen mit seinem Schulfreund Klaus hergestellt, das war ein Klacks gewesen, wenn er sich richtig erinnerte – und was sie mit vierzehn gekonnt hatten, konnte nicht wirklich schwierig sein, oder? Das Buch bot auch einige Schnittzeichnungen durch Patronentypen! Das musste sich Udo, ihr Techniker, mal anschauen!

Er hatte genug gesehen. Er trug die Bücher brav an ihren Standplatz zurück und verließ die Bibliothek. Wieder musste er am Zerberus vorbei, der ihn wieder skeptisch musterte, vermutlich, weil er in der Schlange der Auslass begehrenden der einzige ohne Laptop und, wie ihm auffiel, fast der einzige ohne Wasserflasche war.

Daran mussten sie denken, wenn Udo und er wieder Einlass begehrten: Laptop und Wasserflasche waren hier in der Staatsbibliothek offenbar ein Muss, ohne war man offenbar ein Niemand.

Entlang der Ludwigstraße ging er zur U-Bahn-Station am Odeonsplatz und fuhr mit der U4 zur Theresienhöhe. Dort befand sich sein Lieblings-Saturn-Hansa-Markt mit einer riesigen DVD-Abteilung. Hier wollte er sich den Film „Der Schakal“ und vor allem einen anderen Film, an den er sich erinnerte, nämlich „Der Eiskalte Engel“ mit Alain Delon besorgen.

Im „Eiskalten Engel“ spielt Alain Delon einen (natürlich) eiskalten Profikiller – den brauchte er unbedingt! Irgendwie fühlte er sich ein bisschen wie Alain Delon, der einsamste Killer von allen. Aber auch der beste, auch wenn der am Schluss starb. Das würde er zu vermeiden wissen. Ganz bestimmt.

Der Verkäufer hatte erstens Zeit für ihn und war zweitens recht nett. „Der Schakal“ hatte er schnell gefunden, aber „Der eiskalte Engel?“, sagte er kopfschüttelnd, „Glaube ich nicht...“

„Wie“, fragte der Graf, „das ist doch ein Klassiker, den muss es doch geben?“

Der Verkäufer bat ihn zu einem PC und suchte lange, schließlich sagte er, „Nein, gibt es wirklich nicht, auf französisch hat es ihn mal gegeben, ist aber auch nicht mehr lieferbar. Ich dachte, er sollte auf Blue Ray neu erscheinen, aber da ist bei der Pressung irgendetwas schief gegangen, habe ich gelesen, jedenfalls wurde die ganze Charge vernichtet oder so... Nein, nicht lieferbar!“.

Er schaute den Grafen bedauernd an. Dann sagte er, „mal sehen, vielleicht gibt es eine DVD-Kassette, wo der dabei ist, kommen sie bitte mal mit.“ Er ging durch ein paar Regale, griff sich eine dicke Kassette und las den Inhalt. „Nein“, sagte er schließlich, „da ist er auch nicht dabei“, und dann dachte er einen Moment lang nach und empfahl schließlich, dass der Graf doch mal auf Ebay oder bei Amazon suchen solle, vielleicht habe er da ja Glück mit einer gebrauchten DVD? Und damit wandte er sich entschuldigend lächelnd einem anderen schon unruhig wartenden Kunden zu.

Im Hinausgehen fiel dem Grafen eine sehr rote Filmverpackung auf: „Leon der Profi“. Von dem hatte er neulich gelesen, dass das ein exzellenter Krimi um einen Killer und ein junges Mädchen sei, das zur Killerin ausgebildet werden wollte, weil sie den Mord an ihrem kleinen Bruder rächen wollte. 9,99 Euro las der Graf und nahm die DVD mit. Vielleicht war da ja eine Idee darin, die sie gebrauchen konnten.

Er nahm die U4 zum Hauptbahnhof, stieg dort in die U1 zum Rotkreuzplatz um, um dann die letzte Strecke mit der Straßenbahn bis zur Fasaneriestraße zu fahren.

22. März. Am Kiosk

Gegen 16.00 ging der Graf die paar Meter von der Straßenbahnhaltestelle schräg über die Leonrodstraße zu Ernstls Kiosk und bestellte sich einen Kaffee spezial.

Weil nichts los war, stellte sich Ernstl auch mit einer Tasse Kaffee zu ihm und fragte, ob Hanna und Sarah erzählt hätten, dass die mz da gewesen sei, und dass die jetzt wohl einen großen Bericht bringen würden über seinen Kiosk? Hoffentlich einen guten, denn Hanna befürchte ein Debakel, weil sie meinte, dass das schief gelaufen sein, bloß weil er zwei Würstchen mit Kartoffelsalat nicht verschenken wollte. Aber das sei doch schließlich auch Geld, oder? Der Graf verneinte, nein, Hanna hätte nichts gesagt und bejahte, doch, das sei sehr wohl Geld und wo komme man dahin, wenn er, Ernstl, alles verschenkte. Und drittes, das sei jetzt das erste, was er höre...

„Brauchen könnte ich ein bisschen Werbung ja schon“, sagte Ernstl, „in den letzten Wochen ist hier so gut wie nichts los. Die Helga, die braucht gar nicht mehr zurück zu kommen, das kann ich alles alleine erledigen, was hier an Arbeit anfällt. Gut, dass die Gewinnspanne bei Kaffee so hoch ist“, lachte er, um fortzufahren „und manchmal schreiben die ja auch ganz tolle Artikel über Geheimtipps von Restaurants oder so, da brummt der Laden dann hinterher für eine Weile ganz schön!“

„Ich drück´ dir die Daumen, dass das was Gutes wird“, sagte der Graf, und trank seinen Kaffee aus, „was kriegst Du?“

„Nichts, eine Einladung des Hauses“, antwortete Ernstl.

„Nichts da“, wies der Graf die Einladung ab „erst nichts einnehmen und dann noch verschenken wollen, das kommt gar nicht in die Tüte! Also?“

„Mensch“, meinte Ernstl, „wenn ich euch nicht hätte – Stammkunden und dann noch so nette. Dreifünfzig.“

Der Graf gab ihm fünf Euro und meinte: „Stimmt so, den nächsten kannst du dann ausgeben, okay?“

„Gemacht, Alter, danke!“. Ernstl haute dem Grafen auf die Schulter, dass der etwas einknickte. „Oh, ´tschuldigung!“, sagte er, „das war wohl etwas zu dolle, was?“, und grinste den Grafen schief an, „naja, ihr seid ja alle mehr Kopfmenschen als unsereiner.“. Und nach einem Moment fügte er hinzu: „Du, Graf, sag´ mal, kannst du Zigaretten für Hanna mitnehmen, die hat vorhin angerufen und ich wollte sie eigentlich selber vorbeibringen, aber nun hat Helga angerufen, ob ich mit ihr ins Kino gehe.“

„Na klar, gib her, was seht ihr denn?“

„Es ist Eddi Constantin-Nacht im MAXIM an der Donnersberger Brücke.“

„Das ist aber ´was für Alte. Eddi Constantine, wie lange ist das her, den haben wir doch als Jugendliche gesehen und da waren die schon uralt? Was gibt es denn?“, fragte der Graf.

Ernstl wühlte in einer Tasche seines unvermeidlichen (nicht mehr ganz) weißen Overalls und zauberte schließlich einen Zettel hervor. „Es gibt“, las er vor, „also „Serenade für zwei Pistolen“ und „Rote Lippen, Blaue Bohnen“ und „Eddie geht aufs Ganze“.“

„Also keinen Lemmy Caution und nicht Alphaville?“

„Das sagt mir nichts“, gab Ernstl zu, „aber in denen geht es richtig rund, da langt Eddi richtig zu – fast wie ich damals im Zelt.“ Dann lachte er, „War ´ne tolle Zeit! Und Helga freut sich auch schon so, da machen wir den Laden hier“, er zeigte auf dem Kiosk, „früher zu und amüsieren uns.“

„Na dann viel Spaß!“, wünschte der Graf, „gib mir noch die Zigaretten für Hanna, bitte.“

Mit einem „Klar, doch!“, verschwand Ernstl im Kiosk und tauchte gleich darauf mit einer Stange Phillip Morris wieder auf. „Sag der Hanna, einmal kann ich ihre Marke noch bestellen, dann gibt es sie nicht mehr.“

„Was?“, sagte der Graf, „sind die pleite? Das gibt es doch gar nicht.“

„Nein, die werden dann „Marlboro Silver“ heißen, klärte ihn Ernstl auf, „das soll einer verstehen, oder? Ich habe aber gehört, in Spanien soll es Phillip Morris weiter geben, nur hier nicht.“

22. März. Am Bahnhof

18.00 Uhr. Udo und der Graf fuhren am späten Nachmittag mit der Tram 21 von der Heideckstraße zum Hauptbahnhof. Dort stiegen sie aus und schauten sich erst einmal um: Der Bahnhof lag schräg rechts vor ihnen, rund herum um sie pulsierte das Münchner Stadtleben der Hauptverkehrszeit. Viele Pendler strebten aus der Innenstadt und aus den Straßenbahnen zu den Zügen. Der Graf und Udo folgten dem Strom durch den Haupteingang in die große Bahnhofshalle. Rechter Hand waren sechs oder sieben Schalter, an denen Reisende in kurzen Schlangen standen, um Fahrkarten zu kaufen, die Schalter auf der gegenüberliegenden Seite waren für S- und U-Bahnkunden reserviert. Mitten in der Halle warb ein Stand für die Reisebank; was immer die jungen Mitarbeiter dort verkaufen mochten, Udo und den Grafen interessierte es nicht. Am Stand „Ditsch“ erwarteten sie Currywurst á la „Dittsche“ (aus Hamburg), sie wurden enttäuscht, denn es gab dort nur Brot. Da hatte wohl ein cleverer Unternehmer sich den aus Funk und Fernsehen bekannten Namen von Ditsche „fast“ unter den Nagel gerissen – fast, aber nicht ganz... Es fehlte ein „e“.

Sie schauten sich um. Nein, hier stand niemand herum, der aussah, als ob er Pistolen verkaufen würde. Auch in der italienischen Segafredo-Bar sahen sie keinen „Verdächtigen“, keinen Mafioso, weder aus Sizilien noch aus Moskau oder Tirana, nicht einmal jemanden, der auch nur im Entferntesten nach Waffenhändler aussah. Nur junge unschuldig aussehende Männer und Frauen, die im Vorbeigehen einen Espresso oder eine „Latte“ tranken.

Sie setzten sich mit einem Espresso dazu und tranken langsam. Dabei schauten sie sich das Publikum an. Nichts, nada, was ihren Vorstellungen von einem freischaffenden Waffenhändler am Bahnhof entsprach. Nach einer dreiviertel Stunde schauten sich enttäuscht an.

Gehen wir einmal nach oben auf den Balkon“, schlug der Graf vor, „da haben wir einen besseren Überblick, so von oben.“

Sie fuhren mit der Rolltreppe die eine Etage hoch, schauten dort in den „Burger King“, und die „Coffee Fellows“ – aber auch da nur junge Leute, viel zu jung, als dass die beiden ihnen den Waffeneinzelhändler abnehmen wollten. Keine ausgebeulten Jacken oder Mäntel oder auch nur Jacken- oder Manteltaschen. So ein oder zwei Pistolen, die würden ja Volumen und Gewicht haben, das würde man doch sehen, glaubten sie. Und Wechselgeld – ach nein, die würden runde Summen verlangen, die man mit Scheinen bezahlen könnte, oder?

Sie standen schließlich an der Brüstung und schauten hinab in die Gleishalle. Wo es früher ein bisschen dunkel und muffig zugegangen war, glitzerte jetzt eine lichtüberflutete moderne „take away“-Welt.

Alles zum „Awaytaken“, zum Mitnehmen: Das waren keine Bahnhofsbuden von früher mehr, die Udo und der Graf noch im Kopf hatten, als sie mit der Tram hierher gefahren waren. Nein, das war alles Edelstahl, Glas und Licht! Richtig elegante Bahnhofs-Boutiquen!

Lich´ und Luf´ gib´ Saf´ und Kraf´“, dachte Udo insgeheim auf seine Hamburger Art. Ganz rechts die Semmeln am Höflinger-Stand, daneben die Würstchen von Rubenbauer, in der Mitte die belegten Brote von Brioche Dorée. Am zentral in der Gleishalle gelegenen Auskunftsstand der Bundesbahn gab es nichts – außer, dass die auf Auskünfte harrenden Reisenden auf einem roten Teppich stehend die eine oder andere Verspätungserklärung erhielten... Aber die standen auch auf der großen Anzeigetafel direkt über dem Bundesbahnstand.

Linker Hand sahen Udo und der Graf die Edelstahlbuden von Vinzenz Murr (Würstchen), Pizza Panini und Dean&David. Allesamt viel zu hell erleuchtet und wohl auch zu zentral, als dass „dunkle Gestalten“ sich da rumtreiben würden.

 

Du“, fragte Udo, „Graf, sag´ mal, wie stellst du dir denn so einen Heini vor, der hier mit Pistolen dealt?“

Gute Frage“, antwortete der, „weiß ich auch nicht. Vielleicht dunkel, irgendwie zwielichtig, gemein, fies...“

Mit einer Narbe im Gesicht?“

Ja, vielleicht.“

Den gibt es nicht, glaube ich“, sagte Udo, „hier nicht, aber da ist einer, der ist ganz dunkel.“

Wo?“

Da drüben.“ Udo nickte mit dem Kinn in die Richtung, „der Neger da.“

Darf man nicht mehr sagen!“

Was?“

Neger!“

Warum nicht?“

Der Graf zuckte mit den Schultern unter seinem eleganten Mantel, „das ist nicht mehr political correct .“

Sagt wer?“

Irgendwer? Jeder? Die!“

Und was soll man stattdessen sagen?“

Schwarzer?“, schlug der Graf vor.

Und dann ist der Schwarze kein Neger mehr? Bloß weil ich Schwarzer sage?“

Nein, der bleibt ja schwarz!“

Und warum ist Schwarzer jetzt besser als Neger?“

Weil das nicht diskriminiert!“

Was diskriminiert am Wort: Neger?“, wollte Udo wissen.

Vielleicht, weil das so dicht am Wort „nigger“ aus den USA ist?“, gab der Graf zu bedenken.

Aber das habe ich doch gar nicht gesagt - und auf Englisch schon mal gar nicht! Bin ja auch kein Ami... Und schon gar nicht aus den Südstaaten, ich komm´ ja aus Hamburg, das ist ein Nordstaat, wenn überhaupt.“

Nein, hast du nicht, also Nigger gesagt. Und wo ist der Kerl jetzt?“

Welcher?“

Na, der... der Neger“, grinste der Graf.

Du meinst den Schwarzen?“

Ja!“

Weiß nicht, weg!“

Meinst du denn, der hätte eine Pistole gehabt?“, fragte der Graf.

Nö, glaube ich nicht.“

Warum hast du dann damit angefangen?“

Weil du gesagt hast: Dunkel!“

Wenn ich mich richtig erinnere habe ich gesagt: Dunkel, irgendwie zwielichtig, gemein, fies... war er das?“, gab der Graf zu bedenken.

Nö, der hat eher recht nett ausgesehen“, lächelte Udo, „freundlich, eher so ein Onkel Tom Typ.“

Mensch, Udo, hör auf!“, stöhnte der Graf, „Wir sind hier auf einer „ mission “!“

Auf einer was?“

Mission! Wir haben eine Aufgabe!“

Ja, klar, aber siehst du hier einen einzigen, der auch nur in Frage kommen könnte?“, fragte Udo jetzt ernsthaft.

Nee, ehrlich gesagt, nein!“

Gehen wir mal wieder runter und schauen uns unten um?“

Ja“, aber erst einmal brauche ich ein Klo!“

Schon wieder die Prostata?“, fragte Udo. Der Graf nickte.

Sie gingen die Treppe in die Gleishalle hinunter und hielten sich rechts, dort ging es zu dieser supersauberen Klo-Lounge, wo man erst einmal ein Fünfzigcentstück braucht, um den Automaten mit dem Drehkreuz passieren zu können, und wehe, man hat keines... Vor allem „mit Prostata“. Früher war das Klo nicht so schön, aber man „konnte“ jedenfalls, wenn es drängte.

Als der Graf wieder herauskam sah er erleichtert aus, dann gingen sie durch die Bahnhofshalle, sie passierten den internationalen Zeitschriftenladen, die Ess-&Fress-Glitzerwelt von Gosch Sylt, wo es auch in München die „ganz frischen Fische“ gab... und gingen auf den Seitenausgang der Bahnhofshalle an der Bayerstraße zu.

Rechts lockte die Leuchtreklame vom Starbucks Coffee. Sie schauten hinein: Nur Jungvolk! „Nee“, schüttelte Udo den Kopf, „da sind nur Kids drin, da würde kein Mafiosi, der etwas auf sich hält, je einen Fuß hineinsetzen. Wenn ich Dein „dunkel, irgendwie zwielichtig, gemein, fies“ jetzt korrekt interpretieren darf! Oder darf man Mafiosi jetzt auch schon nicht mehr sagen?“

Doch, doch“, sagte der Graf, „ich glaube schon“, und dabei schaute er skeptisch durch die Scheibe auf das Schild, auf dem die verschieden „flavoured coffees“ angepriesen wurden. „I gitt“, schüttelte er den Kopf, „und selbst wenn..., da kriegen mich keine zehn Pferde hinein!“

Udo stieß den Grafen in die Seite, „schau mal da, ganz links“, sagte er halblaut, „aber gaaanz unauffällig!“

Der Graf schaute und sah ein paar junge Männer vor dem Eingang eines weiteren Schnellrestaurants herumlungern: Es waren sechs offenbar gut durchtrainierte Männer im Alter wohl unter dreißig Jahren. Jeder von ihnen brachte ein „Kampfgewicht“ von sicherlich 100 Kilogramm bei einsneunzig Körpergröße auf die Waage, falls es denn ernsthafte Kämpfer waren.

Sie trugen verschiedene Trainingsanzüge (meist mit den drei Adidas-Streifen) sowie Hoodies oder Strickmützen, die tief ins Gesicht und über die Ohren gezogen waren. Die Jacken spannten allesamt um die Oberkörper, so muskulös waren sie. Sie sahen aus wie durchtrainierte Kopien des Comedians Thorsten Sträter, der sich als Boxer oder „Vollkontaktkämpfer“ verkleidet hatte.

Die Männer dieser Gruppe waren ganz offensichtlich keine Reisenden, die hingen da „nur“ ab. In der Kälte trippelten sie auf den Füßen, die Hände hatten sie in Jacken- oder Hosentaschen.

Die kamen dem, was der Graf und Udo sich vorgestellt hatten, von allen anderen auf dem Bahnhof am nächsten. Gleichzeitig sahen sie so aus, als ob sie im Zweifel gar nicht erst auf eine höfliche Frage warten würden. Die würden gleich zuschlagen und zwar ordentlich. Sie sahen nicht so aus, als ob sie sich beim Kampf an Regeln halten würden, eher wie Straßenkämpfer. Bei denen hätte auch der Ernstl vom Kiosk keine Chance gehabt, glaubten Udo und der Graf.

Als Udo und der Graf sich ihnen langsam näherten und dann das Schnell-Restaurant betraten, hörten sie im Vorbeigehen an der Gruppe, dass die Männer russisch (oder so ähnlich) sprachen.

Ohne sich abzusprechen, waren Udo und der Graf straks an Ihnen vorbei gegangen, nicht etwa direkt auf die Gruppe zu. Das hätten die als Aggression verstehen können. Und dafür waren beide dann doch zu schlau!

Hast du die gemeint?“, fragte Udo, als sie im Restaurant waren.

So in etwa.“

Aber die waren nicht dunkel.“

Aber zwielichtig, gemein und fies...“

Ja, fandest du? Und sehr kräftig!“, war da Bewunderung in Udos Stimme? „Und vor allem, haben die Waffen zu verkaufen?“

Der Graf zuckte mit den Schultern.

Fragst du sie“, wollte Udo wissen, „wenn wir da wieder hinausgehen?“

Bin ich blöd?“, fragte der Graf zurück, „meinst du ich will mir ein paar aufs Maul hauen lassen?“

Ich dachte, dafür sind wir hier?“

Dass ich ein paar aufs Maul kriege?“

Nein, natürlich nicht, aber um zu fragen.“

Fragst du sie denn?“, wollte der Graf wissen.

Ich kann kein Wort russisch!“, wollte sich Udo herausreden.

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