Morituri

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20. März. Im „Wiener Café“

15.30 Uhr. Sarah, Udo, Hanna, der Graf und Tante Greten sowie ein paar andere Trauergäste aus dem Laden gingen durch das Café, mit etwas Abstand kamen noch Frau Z. und Herr F. hinterher. Das Café verströmte mit der Holz- und Messingeinrichtung und ein paar billigen Drucken an der Wand den Charme der Achtziger Jahre. Es durfte, wie auch immer, tatsächlich auch etwas „echten Wiener Schmäh“ für sich beanspruchen.

Es war leicht (oder doch schon ein bisschen mehr?) heruntergekommen, ohne dass man genau sagen konnte, woran sich dieser Eindruck festmachte...

Vielleicht lag es einfach an der etwas angeschmutzten Karte, aus der man mindestens zehn verschiedene Formen von Kaffee bestellen konnte: Vom Kleinen oder Großen Braunen, über Wiener Melange, Einspänner und Fiakerkaffee (mit Obstler und Schlagobers) zu Kaffee Maria Theresia (mit Orangenlikör, Schlagobers und bunten Zuckerstreuseln) bis hin zum (gar nicht mehr wienerischen) Pharisäer (mit Rum und Sahne).

Eine kleine Ausstellung von Handkaffeemühlen und Kaffeedosen aus Blech ergänzte das Interieur in Fachrichtung „Wiener Kaffee“.

Die ca. vierzig Plätze im eigentlichen Gastraum waren zu einem Drittel besetzt, die ebenfalls Gäste passten perfekt in das lädierte Ambiente. Sie hätten von einem Filmbesetzungsstudio stammen können: Die drei Paare aus jeweils zwei alten Damen, von denen immer mindestens eine ihren Löffel im Kaffee drehte und von denen ebenfalls immer mindestens eine unablässig sprach, wobei es offen blieb, ob die andere am Tisch ihr zuhörte; der alte Herr mit seiner Bulldogge unter dem Tisch, für die er einen eigenen kleinen Perserteppich mitgebracht hatte, auf dem der Hund gelangweilt und langsam und träge, ab und zu blinzelnd und mit hängender Zunge um sich schauend saß; die einzeln sitzende Dame, deren sehr dünne Haar“pracht“, die die Kopfhaut durchscheinen ließ, auf eine abgeschlossene Chemotherapie schließen ließ und zwei gemischtgeschlechtliche Paare, die sich gelangweilt nichts zu sagen habend stumm gegenüber saßen.

Die Gruppe durchquerte das Lokal, um in den hinteren Raum, der zum Garten große Fenster hatte, zu gelangen. Zwanzig Plätze waren auf mehreren Tischen eingedeckt, aber so viele waren sie gar nicht, einige Trauergäste waren gar nicht mitgekommen.

Hanna, Udo, Wolf-Dieter und Sarah nahmen an einem Tisch Platz, hielten aber zwei Plätze für Edgar und den Grafen frei, die sich noch das Grab von Väterchen Timofei auf dem Friedhof anschauen wollten.

Die anderen Trauergäste verteilten sich um Frau Z und Herrn F. auf die anderen beiden eingedeckten Tische. Man schaute sich die Karte an und bestellte Kaffee und Kuchen – „guten deutschen Kaffee“, um das ausländische, sprich „wienerische“ Zeug machten die meisten einen Bogen, weil man ja nicht wissen konnte, was man bekommen würde... Einige Gäste ließen sich zu den Kaffees mit Schnaps verleiten – kalt genug war es ja gewesen, um den anderen zu erläutern, dass man sich schließlich ein wenig aufwärmen müsse...

Inzwischen hatten auch der Graf und Edgar Platz genommen. Der Graf hatte einige Zeit gesucht, bis er den einzigen Bügel des Restaurants für seinen Mantel gefunden hatte. Was für ein gegensätzliches Paar: Der hagere, große und elegante Graf mit seinem vollen Blondhaarschopf und Edgar!

Kein Gutmeinender wurde Edgar als dick bezeichnen – eher als klein und am Bauch ziemlich kugelig, vielleicht... oder sogar wahrscheinlich. Nicht gut Meinende würden seine Beschreibung als „dick“ keinesfalls meiden wollen... Er war nie elegant gekleidet, auch nicht schick, er war der Typ, der nie vor den Auslagen eines Herrenausstatters stehen bleiben würde. Sein typisches Outfit bestand aus brauner Cordhose (erste Woche) oder grauer Cordhose (zweite Woche) oder beiger Cordhose (dritte Woche, eine vierte gab es nicht), kariertem Hemd (oberster Knopf geschlossen), grauem oder grauem Pullover mit V-Ausschnitt (ohne Ärmel, er nannte zwei identische sein Eigen) und Schuhe vom Karstadt-Sonderangebots-Grabbeltisch. Im Sommer trug er gerne Outdoor-Sandalen zu grauen oder braunen Socken. Ach ja, eine grau karierte Schiebermütze machte ihn zusammen mit der kurzen Pfeife unverwechselbar!

An seine Haare hatte er seit Jahren keinen Friseur mehr gelassen – was auch kein Friseur des Quartiers bedauerte, denn keiner könnte aus dem dünnen Kranz der verbliebenen Haare eine vernünftige Frisur herzaubern, noch könnte er gar den vollen Listenpreis berechnen, wenn er auch nur einen Funken Ehre im Leib hätte. Also erledigte Edgar das selber mit seinem Rasierer...

Essen war für ihn aber nicht Lust, sondern seit dem Tod seiner Frau nur noch Befriedigung eines elementaren Bedürfnisses – falls das Mittagessen, das er sich täglich um Punkt eins bei Frau Z. abholte, schon kalt war, wenn er endlich zuhause eintraf, stopfte er es ohne Murren in sich hinein, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es wärmer sein könnte. Der Geschmack war ihm egal, was Frau Z. auf die Palme bringen konnte, gab sie sich doch so viel Mühe...

Meist las er beim Mittagessen die Zeitung oder eine Fachzeitschrift oder auch Teilelisten und die interessierten ihn viel mehr... Denn bei ihm drehte sich alles um sein Hobby: Modellbau. Genauer gesagt, Modelle, die sich fernsteuern ließen. Da war er ein echter Freak – nachdem er Schiffe und Boote für sich als modellbauerische Fingerübungen abgehakt hatte und Modellautos nicht sein Ding waren, beschäftigte er sich mit Flugzeugen!

Kein Wunder, als ehemaliger Flugzeug-Mechaniker der Bundeswehr war ihm das Fliegen in Fleisch und Blut übergegangen: Segelflugzeugmodelle, Motorflieger und insbesondere Hubschraubermodelle hatten seine ganze Liebe. Seine Wohnung war Warenlager, Werkstatt und Hangar zugleich.

Manchen Hubschrauber-Jungfernflug hatte er im nahe liegenden Olympiagelände gestartet – und die Zuschauer (meistens Männer) hatten fasziniert zugeschaut, wenn er die ersten Kunstfiguren flog.

Aber da man dort nicht fliegen (lassen) durfte und die „Schandis“ meist nicht weit waren, fuhr er oft weit raus aufs Land für seine Flugübungen – die „Vereinsmeierei“ der Modellflugvereine hasste er, da ging er nicht hin, auch wenn es manches vereinfacht hätte...

Als alle ihre Bestellung erhalten hatten und manche schon kräftig in den Kuchen „reinhauten“, bat Hanna um Ruhe. Sie saß zwar im Rollstuhl, aber ihre Ausstrahlung, veranlasste die Mehrzahl der anderen Gäste zu verstummen. Die letzten, die Schwatzhaften, wurden von den anderen mit einen gezischten „schhhh“ zum Schweigen gebracht.

„Die meisten von uns haben den Brief wohl nicht verstanden, den sie vorgelesen haben, Frau Z.“, sagte Hanna als es im Raum ruhig war, „es hat da drüben so gehallt, wissen Sie, würden sie uns Hannelores Worte bitte noch einmal vorlesen, ich glaube, hier wird man sie viel besser verstehen“.

Frau Z. stand auf, fingerte den Brief aus der Jackentasche und begann zu lesen. Atemlose Stille war im Raum – bis zum letzten Wort... und darüber hinaus.

„Ich meine, das kann man doch nicht machen, einfach einen zu erschießen, den man nicht mag, ich meine, wo kämen wir denn da hin, wenn jeder anfängt rumzuballern, wie es ihm gefällt?“, sagte Frau Plüschke unter ihrer lila Perücke.

„Sie meinen „ihr““, sagte jemand.

„Wie?“, fragte Frau Plüschke irritiert.

„Ihr gefällt... weil, Hannelore war eindeutig eine sie.“

„Ist doch egal, sie wissen doch, wie ich es meine...“, antwortete die wieder einmal kritisierte Frau Plüschke, die ja auch sonst nicht gerade beliebt war bei den anderen, beleidigt.

„Das Schwein wird es schon verdient haben!“, sagte wieder jemand.

„Ja, aber du sollst nicht töten, sagt die Bibel!“, gab die Frau aus der Parallelstraße zu bedenken.

„Wer fragt die Bibel?“, wollte jetzt Frau Z. wissen.

„Naja, die Gesetze, also unsere Gesetze verbieten es auch, übrigens in jedem zivilisierten Staat...“, sagte wieder die Parallelstraßenfrau.

„Schon“, sagte da eine ruhige Stimme bedächtig, „aber wenn jemand so alt ist und so krank und nur noch kurze Zeit zu leben hat, wer will dann jemanden wie die Hannelore hindern, es zu tun. Ich meine, da greift doch keine Drohung mit einer Strafe mehr...“, sagte Wolf-Dieter

„Weder im Diesseits noch im Jenseits, wenn du nicht an einen Gott glaubst, der dich im Jenseits bestrafen wird“, ergänzte Hanna, „und Hannelore hat nicht geglaubt, wie sie ja schreibt, also war sie frei. Absolut frei. Zumindest zu frei für unsere Gesetze, denn sie wusste, selbst wenn sie gefasst werden würde, würde sie nie ins Gefängnis kommen. Sie würde einfach sowieso früher sterben, früher, als dass die Schergen des Gesetzes sie noch festsetzen könnten.“

„Na, na“, sagte eine Stimme, „Schergen würde ich da jetzt nicht sagen.“

„Was ist denn das: Ein Scherge?“, fragte Frau Plüschke aus dem Hintergrund, sie ging gerade in Richtung Klo.

„Ein Büttel, Häscher, Folterer, auf jeden Fall nichts Gutes. Jedenfalls sollte man die Vertreter der demokratisch gewählten Staatsmacht nicht als Schergen bezeichnen.“

„Gut“, sagte Hanna einlenkend, „ich revoziere.“

„Was macht sie?“, fragte die Plüschke immer noch aus dem Hintergrund, sie schien eine dehnbare Blase zu haben.

„Sie nimmt das zurück!“, das war Wolf-Dieter.

„Was?“

„Das mit dem Schergen.“

„Ach so. Ist das wichtig?“, Frau Plüschke erhielt keine Antwort auf diese Frage und suchte endlich die „Damen“ auf.

„Die Frage ist doch“, sagte Wolf-Dieter, „wenn jemand nur noch eine sehr überschaubare Zeit zu leben hat, sagen wir einmal, unter einem Jahr oder gar nur noch ein halbes Jahr, und er oder sie entschließt sich, jemanden umzubringen, wer soll ihn oder sie daran hindern – wenn nicht etwas in ihm oder ihr selber?“

 

„Aus welchem Grund soll überhaupt jemand umgebracht werden?“

„Das spielt in der Situation doch nun wirklich keine Rolle mehr... moralisch ist das auf jeden Fall zu verdammen, da sind wir uns ja wohl einig, oder? Das ist ja wohl gesellschaftlicher Konsens, oder? Aber wenn sich jemand außerhalb dieser Moral gestellt hat, entweder weil es für ihn oder sie keine Moral mehr gibt oder weil er oder sie Moral nicht mehr anerkennt, was soll ihn respektive sie stoppen?“

„Oder sie?“

„Richtig, oder sie, wer oder was soll ihn oder sie davon abhalten, irgendjemanden umzubringen?“

„Sie meinen also schlussendlich, dass es individuelle Situationen geben kann, in der die Gesellschaft nicht in der Lage ist, gesetzes- oder moralkonformes Verhalten zu erzwingen? Der Mord also denkbar und eine realistische Größe wird?“

„Ja, das liegt doch auf der Hand - und Hannelore hat es bewiesen!“

„Sie befürworten ihren Mord?“

„Nein, das tue ich nicht! Ich sage nur, dass es Situationen gibt, in denen Menschen sich nicht mehr davon abhalten lassen, einen Mord zu begehen... sonst würde es ja auch keine Morde geben. Aber es gibt sie. Unbezweifelbar. Also gibt es auch die Situationen. Nur wollen die meisten Mörder nicht gefasst werden – das können sie in jedem Krimi sehen oder lesen. Der Mörder begeht seine Tat (vermutlich in einer Ausnahmesituation) und versucht dann – mehr oder weniger verzweifelt – seine Täterschaft zu vertuschen, weil er nicht für fünfzehn oder mehr Jahre in den Knast will.“

„Und was bedeutet das jetzt für uns?“

„Naja, für uns ja wohl nichts, denke ich, aber jemand, die oder der nur noch kurz zu leben hat, dem könnte alles egal sein – zumindest, was die Bestrafung angeht, weil er oder sie die nicht mehr erleben wird.“

„Ich verstehe das alles nicht“, kam es wieder aus dem Hintergrund, Frau Plüschke war fertig, „wollen wir jemanden umbringen?“.

„Nein! Wollen wir nicht, sie etwa?! Ach, ist ja auch Unsinn“, sagte Udo energisch, „ich finde wir sollen es dabei bewenden lassen... Hannelore hat etwas Fürchterliches gemacht und damit basta... ist doch inzwischen völlig egal, warum!“, und damit schlug er mit der flachen Hand so auf den Tisch, dass die Tassen auf den Untertassen klirrten, „Ende der Diskussion, sage ich! Und sie bleibt uns eine liebe Erinnerung!“

Damit waren alle einverstanden, Mord hin oder her, und die einzelnen Gespräche an den Tischen begannen wieder. Unter anderem wurde besprochen, ob es den Schweinebraten immer am Mittwoch geben müsse oder vielleicht auch mal am Dienstag. Als das erschöpfend - aber ohne Ergebnis - diskutiert war, ging es darum, ob die Königsberger Klopse mit mehr oder weniger Kapern besser schmecken würden. Am anderen Tisch wurde herzhaft besprochen, warum es „nicht einmal zu einem richtigen Kranz mit Schleife“ gereicht hätte, „sondern nur zu diesem unsäglichen Gefummel von Blumengestrüpp, wie sah denn das aus, bitteschön?“. Einige wollten beim nächsten Mal wieder einen Kranz, einen klassischen, andere fanden aber den Blumenteppich besonders schön, „irgendwie, als ob die Hannelore damit geradewegs in den Himmel fliegen würde...“, was lautstarke Proteste hervorrief, denn „einen fliegenden Teppich würde es wohl eher bei den Islamisten oder wie die heißen, den Arabern halt geben, als bei uns guten Christen.“ Erst der Hinweis, dass Hannelore wohl erstens keine gute Christin gewesen sei und zweitens, selbst wenn, nach Mord und Selbstmord wohl eher in der Hölle schmoren werde, als im Himmel die Lyra (oder die Harfe, ist doch egal) schlüge, brachte diese Diskussion zu einem Ende.

Nach einer weiteren Tasse Kaffee (dem deutschen) erhob sich Udo und sagte, er würde jetzt mal schauen, ob das Taxi vor der Tür stünde, wenn nicht, würde er vielleicht fünf oder zehn Minuten brauchen, dann sollten sie mit Hanna herauskommen. Und leise fügte er hinzu, so, dass man das nur an ihrem Tisch verstand, dass sie ja zuhause weiterreden könnten, da seien vorhin ja einige interessante Aspekte dabei gewesen und die solle man doch nicht vergessen...

20. März. Die Debatte

19.00 Uhr. Sie hatten sich bei Hanna verabredet, weil sie die größte Wohnung hatte. Das „Treffen zuhause“ war insofern kein Problem, als Hanna, Sarah, Wolf-Dieter, Udo, Edgar, der Graf und nur nicht die alte Tante Greten, die nicht nur so gerufen wurde, sondern – wie schon gesagt – tatsächlich eine echte Tante von Hanna war, tatsächlich alle auch im selben Haus wohnten. Sie kannten sich seit Jahren, waren auch lange schon miteinander befreundet.

Nachdem seinerzeit Hannas Mann auf Mallorca gestorben (worden!) war, hatte Hanna die zwei Häuser in der Hübnerstraße an der Ecke Fuetererstraße geerbt und hatte später den anderen den Vorschlag gemacht, das ziemlich damals etwas heruntergekommene größere Haus zu einer Alten-WG umzubauen.

Die Kosten dafür hatte Hanna getragen, die das weitere Haus verkauft und mit dem Geld, „ihr“ Haus modernisiert hatte. Einige Mietparteien waren vor Umbaudreck und –lärm geflohen, andere hatten sich mit einer Prämie versehen froh in Vororte verabschiedet.

Jetzt hatten sie das Haus längst fast allein für sich. Im Erdgeschoss war noch eine Metzgerei und ein kleines italienisches Restaurant erhalten geblieben, im ersten Stock wohnten zwei Familien mit kleinen Kindern. In die anderen Stockwerke waren die Freunde eingezogen.

Die Familien hatten sich erst gefreut und sie hatten den Vorschlag gemacht, dass die Alten ja ab und zu auf die Kinder aufpassen könnten, so im Sinne eines „Mehrgenerationen-Hauses“ mit den Familien leben sollten. Die „Alten“ hatten ob dieses Ansinnens und dessen Implikationen innerlich aufgeschrien und den Jungen schnell klar gemacht, dass jedes Mietshaus apriori ein Mehrgenerationen-Haus sei, weil da eigentlich immer Alte und Junge zusammen lebten und zweitens wurde die Idee, sich um die fremden Schratzen zu kümmern, aber so etwas von rundheraus ohne Diskussionen abgelehnt, dass den Familien sehr deutlich wurde, aus ihren Plänen würde nichts werden.

Ganz im Gegenteil, die Jungen sollten, bitteschön, aufpassen, dass die „Blagen“, die Mittags- und sonstigen Ruhezeiten einhielten, denn dieses Haus sei schließlich ein Mehrgenerationenhaus. Heißt: Da wohnen auch ältere und alte Menschen, die zumindest ab und zu ihre Ruhe haben wollten und auch brauchten. Capito?

Nun, das Verhältnis war danach etwas abgekühlt, aber das machte den Alten nichts aus. Hanna hatte im Hof einen Fahrstuhl zu den oberen Etagen der Alters-WG bauen lassen, da damals auch schon abzusehen war, dass sie eines Tages zumindest zeitweise einen Rollstuhl brauchen würde – und Tante Greten war sowieso dankbar für jede Stufe, die sie bei ihren eher seltenen Besuchen bei Hanna nicht steigen musste.

Hannas Dachwohnung war die größte und schönste, schließlich war das Ganze ja eine Alters-WG und keine kommunistische Zelle. Hier war sie natürlich ein wenig gleicher als die anderen, aber das fanden alle irgendwie „Okay“ – schließlich war es Hannas Haus und Hannas Geld.

Hanna hatte sich auch eine Dachterrasse mit einem Wintergarten darauf bauen lassen, das war einfach cool, fand sie und sie konnte ihr Geld schließlich nicht „mitnehmen“, wenn sie einmal sterben würde. Und Geld hatte sie genug, fand sie gleichfalls. Selbst nach all den Investitionen noch, und sie war großzügig aber doch nicht blöd!

Jetzt saßen sie alle an Hannas Tisch im Wintergarten. Der kleine Italiener im Erdgeschoss hatte Antipasti, Pizzabrot und ein paar Sandwiches im „italienischen Stil“ geliefert, also viele Tomaten und Pesto.

Nachdem der größte Hunger gestillt war, wurden in der Runde ein paar Zigaretten angezündet und es wurde gemütlich. Tante Greten saß in einem tiefen Sessel und hatte sich zum Gläschen Rotwein („ist gut für die Gefäße...“) einen Zigarillo angesteckt („mein Körper ist so alt, das merkt die Lunge gar nicht mehr, dass ich an der kleinen Zigarre lutsche, mein Kind“, hatte sie zu Hanna gesagt, als die einmal zu ihr gesagt hatte, Rauchen sei jetzt in Bayern out...).

„Na, Mannder und Weiberleut“, sagte Hanna, „die Trauerfeier war nicht besonders schön, aber auch nicht scheußlich. Mehr hätte Hannelore, glaube ich, auch gar nicht gewollt – und ihr erbringt jetzt noch ein Rauchopfer, dann können wir ja zur Tagesordnung übergehen. Ach übrigens, ich finde, die Blumenbuben haben sich mal wieder selbst übertroffen.“

„Hat denn das gesammelte Geld gereicht?“, fragte Tante Greten, „ich will auch mal so etwas haben.“

„Hat ja noch Zeit, Tante Greten“, sagte Hanna liebevoll in Richtung der dichtesten Rauchwolken. Dann schüttelte sie den Kopf, „nein, es hat nicht gereicht, aber das muss ja keiner wissen“, sagte sie, „das war ja der einzige Blumenschmuck für die Arme.“

„Der Brief war schwer okay, fand ich“, ergänzte Udo, „vor allem der Satz, dass sie alles allein und ohne Hilfe gemacht hätte.“

„Hat sie doch auch“, sagte Wolf-Dieter, „naja, fast“.

„Das Entscheidende hat sie alleine gemacht“, gab der Graf zu Bedenken, „sie hat sich ganz alleine entschieden, ihn umzupusten, sie ist ausgestiegen, sie hat geschossen – und zur Not wäre sie auch alleine mit einem Taxi zur Salvatorkirche gekommen. Wir haben also keine signifikante Hilfestellung zur Tat geleistet, sondern waren eigentlich nur höflich zu einer alten Dame, finde ich.“

„Schon“, meinte Udo, „aber ich finde ihre Idee einfach Klasse... einfach einen alten Feind umzupusten - das hat doch ´was …, oder?“

„Willst du das jetzt auch?“, fragte Sarah und schmunzelte.

„Warum denn nicht?“, antworte Udo, „und ich meine das ganz ernst. Wer hier am Tisch hat den niemanden, dem er es noch gerne einmal zeigen würde?“

„Damit allein ist es ja nicht getan“, gab der Graf zu bedenken, „Hannelores Situation war doch schon sehr speziell: Nur noch kurze Zeit zu leben, sehr kurze.“

„Naja“, sagte Udo darauf nachdenklich, „weißt Du, ich kann mit meinem Aneurysma im Gehirn auf dem Klo beim Scheißen nicht mal richtig drücken, sonst zerfetzt es mir womöglich das Ding im Kopf. Wenn das man keine besondere Situation ist. Und Wolf-Dieter hier“, er deutete auf Wolf-Dieter, „wie lange hast du noch, du mit Deinem Lungenkrebs?“

Wolf-Dieter machte eine vage Geste, „ich weiß nicht genau, ein Jahr allerhöchstens, wahrscheinlich weniger, kommt darauf an, wie viele Zigaretten ich noch rauche...“, und dabei schaute er genüsslich auf den rauchenden Glimmstängel zwischen seinen Fingern und musste ein paarmal husten, „seht Ihr, geht eher in Richtung „weniger“, glaube ich.“

„Und du Edgar?“, fragte der Graf, „auch kurz vor dem großen Sprung?“

„Diabetes, Gicht und Rheuma und zwei Herzinfarkte... Reicht das?“

„Wie lange?“

„Ein Jahr noch, vielleicht, falls ich fleißig abnehme!“

„Was mich betrifft“, begann der Graf, „Ihr wisst es wahrscheinlich noch nicht, Prostatakrebs, inoperabel – noch ein paar wenige Jahre, höchstens...“

„Das nenne ich mal eine tolle Auswahl hier“, sagte Udo und lachte trocken, „wenn ich richtig mitgerechnet habe, dann überleben nur unsere Damen hier länger als ein Jahr.

„Wir sind eben das stärkere Geschlecht“, gab Sarah für die Fraktion Frauen zur Antwort.

„Wohl wahr“, bestätigte der Graf und fragte dann „und was bedeutet das jetzt?“

„Dass ihr Männer in Hannelores Situation seid“, sagte Hanna leise, „oder fast.“

„Und mich fragt niemand?“, gab Tante Greten laut aus der Rauchwolke, „Ihr glaubt wohl, ich sei zu alt dafür?“

„Nein“, sagte Hanna, „hier wird niemand ausgeschlossen, willst du denn dabei sein?“

„Und wie“, bestätigte Tante Greten „wobei?“.

„Willkommen im Club“, sagte Wolf-Dieter zu Tante Greten, die ihren Zigarillo inzwischen aufgeraucht hatte, „es stellt sich die Frage, wollen auch wir tun, was Hannelore getan hat?“, sagte Wolf-Dieter.

„Oder besser, wollen wir das in allen Konsequenzen?“

„Wie meinst du das?“

„Ich meine, mit Selbstmord.“

„Wenn sich`s vermeiden lässt, ohne...“, sagte Udo und schaute in die Runde.

„Sagt mal, meint ihr das ernst?“, fragte Sarah.

Alle schauten sich an. „Weiß nicht?“, sagte der Graf, „irgendwie schon... oder?“. Er schaute erst Wolf-Dieter und dann Udo an, dann auch Edgar, der gerade die Tagesfächer seiner Pillenschachtel kontrollierte.

Edgar schaute zu Boden, als ob er dort die Antwort finden könne, dann sagte er: „Man müsste es mal ausprobieren – ich meine, ob man es kann, also einen umzubringen, meine ich, man ist ja schließlich nicht als Mörder auf die Welt gekommen, oder... Und man sich die Frage beantworten, will ich so aus der Welt gehen? Nicht alleine? Aber die große Frage ist doch: Wen und wie? Und kann ich überhaupt jemanden um die Ecke bringen?“

 

„Wen?“, sagte der Graf, „Das findet sich, die andere Frage ist das Wie? Waffen gibt es nicht an der Ecke zu kaufen.“

„Man muss doch nicht immer schießen“, sagte Wolf-Dieter leise, „es gibt Gift, Messer, Eisenstangen, Strom, Unfälle... Man kann vom Balkon stürzen. Wahrscheinlich gibt es fast so viele Arten zu sterben, wie es Menschenleben gibt.“

„Naja schon, vielleicht. Aber jemanden zu erstechen, also, denkt nur mal, zum Beispiel dreimal zustechen, um sicher zu sein, dass man eine große Aorta oder so getroffen hat... all das Blut! Ekelhaft! Ich weiß nicht, ich glaube, das könnte ich nicht.“

„Ja, im Fernsehen werden auch fast alle erschossen, andererseits, neulich wurde eine Frau in der Badewanne ertränkt.“

„Nun komm erst mal an jemanden heran, der oder die nackt in der Badewanne sitzt, da musst du schon sehr eng mit der oder dem sein. Nee, das Erschießen scheint mir noch am einfachsten zu sein. Zielen, Finger krumm machen und... Bumm!“

„Ja, Finger krumm und bumm... das hört sich einfach an – aber du musst auch erst einmal eine Wumme haben.“

„Wumme?“, fragte Sarah, „Du meinst eine Pistole?“

„Pistole, Revolver, Gewehr.“

„Wo hatte Hannelore ihre denn her?“

„Von ihrem Vater, aus dem Krieg, hast ja gehört.“

„Und die hat noch funktioniert?“

„Offenbar, ganz offensichtlich.“

„Aber mit Pistole oder Revolver ist es ja nicht getan. Du brauchst Munition!“

„Hat denn nicht jemand eine?“, fragte Hanna.

Alle schauten sich an, dann schüttelte der Graf den Kopf: „Offenbar nicht.“ Tante Greten stand leise auf und murmelte, dass sie gleich wieder da sein würde.

„Warum habt ihr denn die von der Hannelore nicht mitgenommen, die hat sie doch nicht mehr gebraucht.“

„Weil die Bullen dann sofort gewusst hätten, dass da noch jemand am Tatort gewesen war.“

„Ach so, ja, klar - und dann hätten die natürlich gesucht.“

„Also brauchen, ich meine, im Falle eines Falles bräuchten wir Pistolen. Kennt sich denn jemand damit aus? Und woher kriegen wir die?“

„Kriegt man die nicht im Bahnhofsviertel?“, fragte Sarah, „ich meine, ich brauche ja keine, aber...“

„Ich weiß nicht so recht“, sagte der eher praktisch veranlagte Udo, „da kann man doch schlecht auf einen verdächtig aussehenden Typen im Hauptbahnhof zugehen und ihn fragen, ob er zufällig eine oder mehrere Pistolen zu verkaufen hat.“

„Ausprobieren?“, fragte Edgar.

„Was? Jemanden fragen?“

„Nein. Ich meine, man müsste sich da mal ein bisschen rumtreiben und erst mal schauen.“

„Ich habe mal gehört, dass auf dem Flohmarkt in Riem…“

„Das ist doch dasselbe Problem. Wie erkennt man, ob jemand eine Waffe zu verkaufen hat. Da schreibt doch niemand auf sein Schild, dass es bei ihm Knarren gibt, wie neu, kaum gebraucht und auch sehr preiswert, wie stellst du dir das denn vor?“

„Also ich hätte immer Schiss, auf einen Undercover-Agenten zu treffen.“

„Gibt es so etwas in Riem?“

„Keine Ahnung, vielleicht?“

„Also was nun, Leute, ein großer Plan schnell beerdigt?“

„Nein, wir machen das wie die Politiker.“

„Hä?“

„Arbeitsgruppe! Wir bilden eine Arbeitsgruppe „Waffenbeschaffung.“

„Und was macht die dann?“

„Erst einmal die theoretischen Grundlagen schaffen.“

„Und die wären?“

„Erstens: Was gibt es für Waffen? Zweitens: Welche sind für uns geeignet? Drittens: Wo bekommen wir die her? Und viertens: Was kosten die?“

„Dafür braucht es doch keine Recherche: 22er Pistole. Steht in jedem vernünftigen Krimi. Die Waffe der Profikiller. Die Kugel geht in den Kopf rein aber nicht wieder heraus, sie prallt so lange von den Schädelknochen ab und flitzt dabei kreuz und quer durch das Gehirn, bis die Energie verbraucht ist. Absolut tödlich und sauber“, sagte Hanna, „das weiß doch jeder Krimileser!“

„Ach nee“, meinte der Graf, „dann bist du also das erste Arbeitsgruppenmitglied?“

„Nein, dazu braucht es Beine, die laufen könnten - und schau meine an... Ich käme nie weg, falls es einmal knapp werden sollte.“

„Mit dem Rennen tun wir uns alle schwer.“

„Nein, das meine ich ja nicht, bei mir ist es ja auch das Laufen im Sinne von Gehen; ich habe auch nicht die Nerven dafür. Und ich sehe euch schon durch Polen und durch die Ukraine fahren. Ich habe einen anderen Vorschlag: Ich mache den Finanzier! Diese Arbeit machen Udo und der Graf, schlage ich vor.“

„Per Akklamation angenommen“, sagte Wolf-Dieter, „dann legt mal los, ihr beiden! Ich schlage vor, ich mache erst ein paar Internetrecherchen in wechselnden Internet-Cafés natürlich, und dann sollte einer von uns in den Lesesaal der Staatsbibliothek gehen, da ist man ziemlich anonym. Ich habe da vor Jahren mal ein Buch gefunden, das ging über Rechtsmedizin – alle Arten zu morden waren darin beschrieben und wie die Polizei sie nachweist. Vielleicht finden wir es ja wieder?“

Er musste eine kurze Hustenpause einlegen und fuhr dann fort: „Ich meine, eigentlich könnten wir alten Zausel in unserer Situation ja sogar mit rauchender Pistole neben dem Opfer stehen bleiben, uns traut keiner was zu, aber was, wenn einer zwei oder drei Leute umnieten will – und man muss sich ja auch nicht gleich selber wegwerfen.“

„Sag mal“, sagte Sarah entgeistert, „sprichst du jetzt von Massenmord, oder was? Bist du krank? Ich meine, wir reden hier ernsthaft davon, dass und wie wir ein paar Leute umbringen, die uns früher mal etwas angetan haben, das ist ja schon krank genug, finde ich, aber jetzt jeder gleich mehrere bis viele vielleicht?“

„War nicht so gemeint“, lachte Wolf-Dieter sie an und dachte insgeheim, dass sie eigentlich ja Recht hätte.

„Nun mal halblang mit den jungen Pferden“, sagte der Graf, „noch machen wir gar nichts, weil wir gar nichts machen können.“

„Aber wenn, dann doch...“

„Aber erst dann!“

„Und wenn wir die Pistolen haben?“

„Dann?“

„Dann muss jeder für sich entscheiden, was er damit machen will. Keine Absprachen, kein Reingerede.“

„Aber man darf die anderen dabei nicht gefährden.“

„Nein, keinesfalls!“

„Fünfundneunzig Prozent der Morde werden aufgeklärt, weil enge Verwandte die Mörder waren, oder weil enge Beziehungen zwischen Opfer und Mörder bestanden“, sagte Hanna, „die findet die Polizei schnell.“

„Solche sind ausgeschlossen!“

„Und den Rest der Mörder kriegen sie, weil die dem Geld folgten. Unsere Opfer dürfen also keine Verwandten sein, zumindest keine nahen, und wir dürfen keinen Profit aus der Sache ziehen. Nur Befriedigung! Dann haben wir gute Chancen, davon zu kommen“, ergänzte Hanna.

„Obwohl das eigentlich nicht wichtig ist, das Davonkommen, meine ich“, gab der Graf zu bedenken, „aber gleich beim ersten Mal danach Selbstmord, nein danke!“

„Jetzt ist der schon wieder beim Massenmord“, stöhnte Sarah.

„Nein“, sagte der Graf, „aber ich bleibe auch nicht neben der Leiche stehen – oder vielleicht doch, wenn`s mich nämlich umhaut, moralisch oder so. Aber man kann`s doch auch sportlich sehen, oder?“

Sarah stöhnte nur lauter auf und sagte nichts.

„Naja“, sagte Hanna lächelnd in die Runde, „ich habe noch eine ganz besondere Flasche Champagner aufgehoben, vielleicht ist jetzt der Moment, sie zu köpfen? Sarah, wärest du so nett? Sie steht auf Eis in der Speis, und Wolf-Dieter, holst du die Gläser?“

Udo öffnete die Flasche ganz zart und goss die Gläser voll. Als er Tante Greten ihres geben wollte, schaute er suchend in die Runde: „Nanu, wo ist sie denn hin, unsere Alterspräsidentin?“

In dem Moment ging die Tür auf und Tante Greten kam herein. In ihrer Hand hielt sie einen in einen grauen Lappen eingewickelten Gegenstand, den sie auf den Tisch legte. „Hier“, kicherte sie, „ich bin bereit“, und damit wickelte sie eine alte Pistole aus, „was die Hannelore hatte, habe ich schon lange.“ Alle schauten sie verblüfft an. „Tante Greten“, sagte Hanna, „ich wusste ja gar nicht...“