Morituri

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Wolf-Dieter

Wolf-Dieter stand ein paar Meter entfernt und rauchte mit der unverzichtbaren Bernsteinspitze seine x-te Zigarette heute. Auch er war knapp Siebzig. Er trug die für ihn seit den Tagen der Achtundsechziger typische unverwechselbare Kleidung: Baskenmütze und roter Wollschal, dreiviertellange Lammfelljacke in schwarz, darunter wegen des Anlasses einen dunkelgrauen Zweireiher und an den Füssen die für ihn einzig akzeptablen Schuhe: Slipper der italienischen Edelmarke Banfi, die für die Jahreszeit ganz offensichtlich viel zu dünn waren – aber er trug nun einmal nichts anderes – und auch von den Banfis nur die alten, die mit Schluppe und Troddeln - , auch wenn die inzwischen viel zu teuer geworden waren... aber er hatte seinen Stolz. Er versuchte, den produktiven Husten, der ihn in letzter Zeit zunehmend quälte, vor den anderen zu unterdrücken – manchmal gelang das, manchmal musste er quälend in ein Tuch husten.

Udo

Der eher rundliche Udo (85 kg bei 175 cm) bekannte sich schon in der Kleidung zu seiner hamburgisch-proletarischen Herkunft, das war auf den ersten Blick zu sehen: Elbsegler-Mütze (ungefähr so eine wie Exkanzler Schmidt sie zu tragen pflegt), große Sonnenbrille, dunkelgrauer Rollkragenpullover, dunkelblaue Breitcordhose und knöchelhohe Stiefeletten. Dazu trug er eine doppelreihig geknöpfte Kapitänsjacke, in deren Taschen seine großen Hände meist verschwunden waren...

Touristen in Hamburg wären ihm willig in jede Hafenrundfahrtbarkasse gefolgt und hätten dort jedes seiner Worte in dem für die Gäste eingehochdeutschten Plattdeutsch, also in Missingsch, geglaubt – was wahrlich kein Wunder wäre, denn er hatte ein paar Jahre lang tatsächlich als „He lücht“ (als Fremdenführer) auf Hafenrundfahrten gearbeitet. Die Grundvoraussetzungen für den Job erfüllte er: Wissen um die Abläufe im Hafen, viel Fantasie, ein Haufen mit Charme vermischte Frechheit und eine schnelle Zunge...

Udo lebte jetzt seit fünfzehn Jahren in München und hatte sich diese wichtigsten Eigenschaften eines „He lücht“ erhalten, deshalb war er auch am Hübnerplatz allseits beliebt. Viele Bayern hörten diesen besonderen „Ohnesorg-Theater-Slang“ gerne, fanden ihn lustig... So wie umgekehrt die meisten Norddeutschen gerne ein gepflegtes Bayerisch hörten...

Und aus dem Metall- und Schrotthandel in der Fasaneriestraße, wo er ab und zu aushalf und wo er eine kleine aber gut eingerichtete Metallwerkstatt gemietet hatte („Nur wegen meiner Ausbildung als Schweißer auf Blohm & Voss..., die muss doch zu ´was gut sein...“), war er nicht mehr wegzudenken...

Wenn irgendwo etwas zu richten war in Hannas Häusern oder bei Kunden, die er im Laden traf, dann war Udo da... für „ne kleine Mark“ („kleine Euros“ gab es einfach noch nicht...) richtete er alles, was ihm aufgetragen wurde - vom Fernseher bis zum Rohrbruch!

Der Graf

Dann stand da noch Udos optisches Pendent in der Gruppe der wie immer am elegantesten Gekleidete, der Graf, als ob er einen Ladestock verschluckt hätte. Das musste mit seinem Beruf – Berufssoldat irgendwo in oberen Offiziersrängen der NATO – zusammenhängen, vermuteten die anderen. Er hatte nie darüber gesprochen, was er wo gedient hatte, und keiner wusste warum nicht. Er hatte einfach nicht darüber gesprochen, vielleicht war das ja alles noch geheim, vermutete Sarah, die ihn am besten kannte.

Er war zwar nicht adeliger Herkunft, aber weil er noch im Alter aussah, wie Peter van Eyck in „Lohn der Angst“: nämlich blond, groß, sehr schlank, eher hager (anders als van Eyck trug er einen kleinen blonden Schnurrbart) hatte Frau Z. im Laden für ihn den Namen „Der Graf“ geprägt... („lassen sie mal den Grafen vor...“). Das hatte sich rumgesprochen und der Name war ihm geblieben.

Der Graf trug einen langen schmal geschnittenen schwarzen Tuchmantel aus Piqué (mit Brusttasche – aus der aus Anlass der Trauerfeier heute ein feines schwarzes Seideneinstecktüchlein venezianischer Provenienz herauslugte). Unter dem Mantel hatte er natürlich eine edle Kaschmir-Woll-Mischung in Schwarz als Anzug an und einen schwarzen Kaschmirschal. Sein Hemd war handgenäht genauso wie seine Schuhe, natürlich...

Wenn die Freunde nicht glauben würden, es besser zu wissen, hätte man ihn glatt für einen Heiratsschwindler halten können – für einen erfolgreichen...

Aber über Frauen sprach der gepflegte alte Herr nicht. „Mit Frauen genießt man, man spricht nicht über sie...“, pflegte er zu sagen, wenn das Gespräch doch einmal auf das Thema kam und alle meinten dann, genau, der habe Stil, der Graf, naja, von nichts kommt nichts..., was immer das in diesem Zusammenhang heißen mochte... und deshalb wusste auch niemand, dass er früher ab und zu Erstaunliches für die Dienste von Sarah gezahlt hatte. Auch dabei hatte er genossen und geschwiegen... genau wie Sarah geschwiegen hatte. Aber das war Jahre her!

In letzter Zeit „ging“ beim Grafen nichts mehr, sein Alter und der Prostatakrebs verhinderten das – „leider“, wie der Graf fand.

Tante Greten

Schließlich gehörte zu den Wartenden Tante Greten. Tante Greten war tatsächlich eine echte Tante von Hanna. Sie wohnte ein paar Häuser weiter, denn sie wollte nicht permanent „unter Aufsicht stehen, Mädchen wollen ja auch mal alleine sein – oder fast...“, gluckste sie immer, wenn Hanna sie wieder einmal fragte, ob sie nicht endlich in die für sie frei gehaltene kleine Wohnung der Alters-WG im Eckhaus einziehen wolle... Nein, war die immer gleiche Antwort, dafür sei sie mit ihren achtundachtzig Jahren einfach noch zu jung! Das könne sie ja immer noch machen, wenn sie mal alt und krank sei, oder?

Tante Greten war, wie es sich in ihren Augen für eine so alte Dame (Originalton Tante Greten:) „gehörte“, ganz in Schwarz gekleidet – im Gegensatz zu den meisten anderen nicht schickes oder extravagantes Schwarz, sondern schlichtes Schwarz. Tante Greten hielt sich ziemlich gerade, war aber inzwischen wieder klein geworden. Zurzeit maß sie („höchstens noch“) einssechzig.

Als der Taxifahrer vor der Gruppe hielt, staunte er nicht schlecht, als eine elegante Hanna sich – mühsam aber immerhin - aus ihren Rollstuhl erhob und auf eigenen Füssen gehend den Beifahrersitz einnahm. Den Rollstuhl überließ sie wortlos Udo zum Zusammenfalten und Verstauen. Der kannte das schon und deshalb klappte das auch. Der Graf half Tante Greten kavaliermäßig korrekt in den Fond des VW-Busses hinein, und Udo verstaute Hannas Rollstuhl geschickt wie es nur ein Hamburger Schauermann kann und setzte sich neben Sarah.

Aus der Alten-WG fehlte im Moment nur Edgar, der irgendeinen Amtsbesuch in der City zu erledigen hatte, und der direkt aus der Stadt zur Aussegnungshalle kommen würde.

Sie fuhren durch die Hübnerstraße, bogen an der Landshuter Allee sehr zügig, weil sich gerade eine Lücke im dicht fließenden Verkehr bot, rechts in Richtung Dachauer Straße ab. Dort mussten sie drei Ampelphasen warten, dann folgten sie der Straße bis zur Siedlung Borstei und bogen dort links in die Baldurstraße ein. Kurz hinter der U-Bahnstation „Westfriedhof5“ erreichten sie den Friedhof mit den gelben Gebäuden der Leichen- und Aussegnungshalle.

Als der Bus davor hielt, spielte Radio Charivari gerade „Highway to Hell“ von AC/DC. Der Fahrer wollte den Ton mit der Bemerkung abstellen, dass das Stück im Moment vielleicht nicht passen würde, aber Hanna legte lachend ihre Hand auf seine und sagte: „Doch, doch, ich glaube das passt ganz gut...“, dabei drehte sie den Kopf nach hinten und fragte immer noch lächelnd „oder?“.

Der Graf nickte huldvoll und Udo sagte laut, dass eigentlich nichts anderes passen würde – bei DER Beerdigung... Der Taxifahrer fragte Hanna leise, ob sie etwa zu der Trauerfeier von der alten Frau wollten, die in der Zeitung gestanden hatte, weil sie diesen „Lackl von Prof.“ erschossen hätte?

„Genau“, sagte Tante Greten, „genau, junger Mann, diese Dame wollen wir ehren... Schade, dass die Alten sich sonst immer nur so wegducken, die Feiglinge, wir sollten viel öfter mal zurückschlagen wie meine Freundin Hannelore“. Genau das sagte sie und schaute sich triumphierend um, um dann die Frage in den Raum zu stellen: „Oder, Jungs, was sagt ihr?“. Dann ballte sie ihre kleine Hand zu einer Art Mäusefaust, stieß die in die Luft und sagte triumphierend: „Hannelore, wir kommen...“

Der Taxifahrer blickte sie im Rückspiegel staunend an, dann lächelte er und meinte, dass die alte Dame – Verzeihung... – ja wohl ziemlich viel Mumm habe... Dann stoppte er vor der Aussegnungshalle, die „Frau Doktor“ zahlte, Udo holte den Rollstuhl und der Graf fragte den Fahrer, ob er sie in zweieinhalb Stunden vom „Wiener Café“ gleich da drüben abholen wolle?

Als der VW-Bus ohne sie wieder anrollte, erinnerte sich Wolf-Dieter, dass er die weißen Lilien im Bus vergessen hatte, fluchte kurz und rannte dann armeschwingend hinter dem Bus her. Naja, „rannte“ – jedenfalls sah der Taxifahrer seine wedelnden Arme, bezog sie auf sich, hielt an und ließ das Taxi rückwärts rollen.

„Unsere Blumen“, sagte Wolf-Dieter atemlos und keuchend und deutete auf die Rückbank, wo ein Strauß weißer Lilien lag... Er nahm sie und ging so schnell wie es seine kaputten Lungen zuließen zum Eingang der Aussegnungshalle, wo die anderen feixend auf ihn warteten.

„Ja“, sagte Wolf-Dieter, „Ihr müsst gar nichts sagen... ich weiß... Alzheimer lässt grüßen!“. Dann verteilte er jeweils eine Lilie an jeden. Er schaute sich um, stutzte und sagte dann: „Die könnten die Wand auch mal neu verputzen, oder, da fällt ja alles runter... Er deutete auf große Löcher im gelben Putz, teilweise lagen ganze Stücke am Boden, die offenbar gerade erst herausgefallen waren... „und das in München... da sollte der Oberbürgermeister sich mal drum kümmern, statt dass er Ministerpräsident werden will...“

 

„Wird er sowieso nicht6...“, tröstete ihn Hanna, „das haben die Sozis in Bayern nicht drauf...“

20. März. Die Abschiedsfeier...

14.00 Uhr. Familienmitglieder waren nicht erschienen, es war ja nicht einmal bekannt, ob Hannelore welche gehabt hatte.

Frau Z. und Hanna hatten darauf verzichtet, den Sarg neben den anderen in der Halle zu präsentieren, in der die Särge mit dem Grabschmuck hinter Glas ausgestellt wurden, damit Angehörige und Freunde Abschied nehmen konnten.

Ein bisschen sah das dort aus, wie eine Werbeveranstaltung der Trauerindustrie. Damit die Trauergäste „ihren“ Sarg unter den 10 bis 20 anderen ja erkannten, klebte vor jedem Sarg an der großen Glasscheibe ein DIN A4 großer Computerausdruck mit dem Namen des jeweiligen Toten. Schick!

In dieser Halle war manchmal „richtig was los“, ganze Großfamilien standen da im Gang vor „ihrem“ Sarg herum, Kinder tollten zwischen den Erwachsenen oder spielten „Fangamandl“ oder ähnliches. Sehr feierlich war die Stimmung jedenfalls nicht.

Durch einen kurzen Gang unter Arkaden kam man von hier zur Aussegnungshalle, die aus der Ferne gesehen noch einen ziemlich guten Eindruck machte mit der großen Kuppel und dem krönenden goldenen Kreuz. Von der Nähe aber nahm man den großflächig abgeplatzten Putz der Fassade sehr deutlich wahr und dachte, dass das Gebäude dringend einer Grundsanierung bedürfe.

Die Aussegnungshalle mutete „klassisch“ an, zumindest die Wandmalereien der kreisrunden, jetzt eiskalten Halle sahen für Laien irgendwie „klassisch“ aus.

Wolf-Dieter hatte dafür gesorgt, dass ein „gutes“ Bild von Hannelore am Sarg stand. Das hatten sie vor einigen Jahren zufällig anlässlich eines Sommerfestes im Garten von Hannas Haus in der Hübnerstraße aufgenommen.

Der „Kranz“, den sie alle mit ihren Spenden bezahlt hatten, war wirklich schön geworden. Dabei hatten die „Blumenbuben“ gar keinen Kranz, sondern ein wundervolles Gespinst weißer Blumen aus Lilien, Nelken, Tulpen, Gerbera, Lysianthus und Schleierkraut gewebt, das dem duftigem Blumenteppich, der über dem einfachen Sarg lag, etwas Zauberhaftes verlieh.

Frau Z. hatte ein paar einführende Worte gesprochen, weil sie Hannelore noch am besten gekannt hatte: „Sie hat mir einen Brief geschrieben“, sagte Frau Z. „und den möchte ich hier verlesen.“

Sie setzte ihre Lesebrille auf, zog den Brief aus der Tasche ihrer Kostümjacke, nahm ihn aus dem Umschlag, faltete den Briefbogen auf, legte ihn auf das Rednerpult vor sich und strich ihn mit der Rückseite der Hand glatt. Dann schaute sie über die Brille in die kleine Runde.

Es war sehr still im Raum – auch deshalb, weil die einleitende Musik aus dem „öffentlichen“ CD-Player mit Hall aus allen Richtungen gekommen war und die alten, mindestens aber älteren Gäste der Trauerfeier sich wohl sehr konzentrieren mussten, um wenigstens ab und zu ein paar Worte zu verstehen.

Frau Z. machte eine kurze Pause, dann begann sie leise zu lesen:

„Liebe Frau Z., meine Freundin,

wenn sie diesen Brief lesen werden, werde ich tot sein.

Seien sie nicht traurig, für mich ist das dann die mit Abstand beste Lösung. Und ich habe sie selbst gewählt...

Ich habe einen anderen Menschen umgebracht und mich auch. Punkt. Das ist ein Fakt. Ich konnte nicht mehr leben, ich wollte nicht mehr leben und er sollte nicht mehr leben.

So einfach ist das für mich, was für sie und alle anderen wahrscheinlich schrecklich und unglaublich ist.

Frau Z. musste eine Pause machen, um ein paar Mal tief durchzuatmen... dann wollte sie fortfahren, aber jemand unterbrach sie: „Bitte lauter!“

Frau Z. fuhr also etwas lauter fort zu lesen (was die Sache wegen des Halls nicht wirklich besser machte):

„Die anliegenden 10.000 € wollen sie bitte für meine Beerdigung verwenden. Wenn das nicht reichen sollte, es gibt da noch ein Sparbuch von der Stadtsparkasse, da ist nicht viel drauf, aber damit sollte es auf alle Fälle reichen. Ich möchte anonym beerdigt werden, wo, ist mir egal. Aber da gibt es noch ein Testament, in dem das steht. Man wird es finden, es liegt auf meinem Tisch im Wohnzimmer.“

Frau Z. unterbrach das Lesen, ließ die Hand mit dem Brief sinken und schaute in die Runde.

„Ja“, sagte sie dann, „das haben wir gemacht, also die Frau Doktor, der Herr Mittermayr und ich, also als Kommission, meine ich, das Geld hat gereicht, gerade eben... Das ist doch eine Schande, was das kostet, ich meine, so eine Beerdigung.“

„Ist ja gut, Liebes“, sagte Herr F, leise, lies weiter...“

„Ja, natürlich“, sagte Frau Z. „ ich meine ja auch nur, also wissen Sie... Ach so, der Brief, also weiter im Text: Die mir noch verbleibende Zeit wäre bestenfalls in Wochen zu zählen – wobei ich mehr Lebenszeit nicht als „gut“ und schon gar nicht als „bestenfalls“ bezeichnen möchte. Der Krebs zerfrisst meinen Körper von innen, die Scheiß-Schmerzen... Oh Entschuldigung“, unterbrach sich Frau F., „das „Scheiß“ hat sie durchgestrichen, also die Schmerzen sind manchmal nicht auszuhalten und die dunkle Einsamkeit, die mich umgibt, auch nicht.

Ja, ich habe Freunde, wenige nur, die meisten sind eher Bekannte denn Freunde. Sie, Frau Z., sind meine beste Freundin – und wir kennen uns erst ein paar Jahre, das sagt alles über meinen seelischen Zustand. Verstehen sie mich nicht falsch, aber ich bin alleine, so alleine.“

Die Stimme stockte Frau Z. einen Moment, sie musste sich einmal schnäuzen und las dann weiter:

„Also, äh, sie schreibt: Mein Leben habe ich meiner Tochter widmen müssen, die mit einer Behinderung zur Welt kam, weil sie bei der Geburt zu lange zu wenig Sauerstoff bekommen hatte. Und dann ist der Vater (der Mediziner!) so schnell verschwunden, das glauben sie gar nicht. Er wurde dann Faschingsprinz in Dachau. Dachau! Nicht einmal zu München hat es dem Versager gereicht.

Er hat mich damals im wahrsten Sinne „in der Scheiße“ sitzen lassen – so habe ich es zunächst empfunden. Später habe ich ein schönes Verhältnis zu dem kleinen Wurm, der immer so hilflos wie ein Baby blieb, und nie wirklich erwachsen wurde, entwickelt.

Als mein Kind, inzwischen eine nicht mehr ganz so hilflose Frau, mit 35 Jahren starb, ist für mich jeglicher Halt weggebrochen. Der Vater hat sich nie um uns gekümmert, nicht einmal gezahlt hat er, aber das darf ich ihm nicht vorwerfen, weil ich das auch nicht forciert habe – ich wollte von dem Feigling nichts aber auch gar nichts wissen und auch nichts haben. Klar, war es verdammt hart für uns, aber meine Eltern haben mich liebevoll unterstützt, solange sie konnten... Das Leben dieses „Vaters“ habe ich die ersten Jahre noch mit vagem Interesse verfolgt, aber auch dieses Interesse verschwand mit der Zeit...

Irgendwann hat mich dieser Mensch gar nicht mehr interessiert. Ab und zu habe ich ein Foto von ihm in der Klatschpresse gesehen, aber nicht darauf geachtet.

Die letzten Jahre, vor allem nach dem Tod meiner Eltern und meiner Tochter, habe ich in einem gefühlsmäßigen Nichts verbracht – ich habe nicht gelebt, ich habe vegetiert. Dann kamen zu den seelischen Schmerzen die körperlichen. Der Kampf gegen den Schmerz war schwer, das dürfen sie mir glauben, aber aufgeben konnte ich damals noch nicht.

Sie glauben ja gar nicht, welches Affentheater auch sog. Krebsärzte gemacht haben, wenn ich erst wirksame Schmerzmittel und dann Morphium gebraucht und verlangt habe... So ein Leben ist nicht mehr lebenswert, liebe Frau Z., das müssen sie mir glauben...“

Frau Z. musste jetzt unterbrechen, um sich zu sammeln. Nach einem Moment las sie mit stockender Stimme weiter:

„Sie und einige wenige Ihrer Kundinnen und Kunden haben mir das Leben – in Grenzen, aber immerhin – ein bisschen lebenswerter gemacht. Und schließlich – ich denke, es waren die letzten sechs Monate – hatte ich nur noch einen Gedanken, der hat mich aufrecht gehalten: Ich wollte den Mann, der mich so feig und schmählich verlassen hat, um seine schönere und jüngere Frau mit mehr Geld und, vor allem, einer „besseren Familie“ zu heiraten, natürlich mit gesunden Kindern, nicht mit so einem Krüppel, wie ich ihn zu bieten hatte, tot vor mir sehen. So tot, wie es nur geht...

Ich weiß, das ist ein fürchterlicher Gedanke. Jemanden umzubringen, um ihn tot vor sich zu sehen, dürfte für viele und wahrscheinlich auch für Sie, sogar ein nicht akzeptabler Gedanke sein. Das war er anfangs auch für mich. Es war sogar schrecklich, sich vorzustellen, dass ich ihn umbringen würde...

Aber ich habe mich langsam an den Gedanken gewöhnt und dann wurde ich ihn nicht mehr los, erst wurde er denkbar, dann ertragbar und schließlich auch machbar... Schließlich versprach er mir letzte Befriedigung in einem verlorenen Leben.

Einer diesseitigen Bestrafung bin ich durch den Fortschritt meiner Krankheit sowieso enthoben. Ich habe nur noch wenige Wochen zu leben... Zu leben? Wer will das, was ich durchmache, Leben nennen?

Da ich kein religiöser Mensch bin, ja, nicht an irgendeinen Gott glaube, in keiner Form, gibt es für mich keine dräuende Strafe im Jenseits: Kein Fegefeuer, keine Hölle und keine Verdammnis und was sich Kirchenleute für das Jenseits oder das nächste Leben sonst noch ausgedacht haben mögen, um uns hier zu disziplinieren. Und wenn es eine Wiedergeburt geben sollte, gut, von mir aus auch als Wurm...

Wer oder was sollte mich also stoppen? Nichts und niemand!

Also habe ich es getan. Alleine und ohne Hilfe. Die von meinem Vater geerbte Pistole aus dem Zweiten Weltkrieg, vor der ich immer große Angst gehabt hatte, kam mir plötzlich wie ein Zeichen vor: „Tue es“, hat sie mir zugeflüstert, „tue es!“

Wie häufig bin ich in meiner Wohnung dagesessen und hielt das fürchterliche Ding in meiner Hand. Aus der Angst wurde Zu- und Vertrauen. Und schließlich ich bin ihren Einflüsterungen erlegen. Dankbar!

Und jetzt, wo sie dieses lesen, ist diese letzte Sache vollbracht. Ehrlich gesagt, jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, freue ich mich sogar auf diesen letzten Moment! Was für ein Ende: Mord und Selbstmord in einer Minute...

Selbst der Gedanke, dass die Tatsache, dass er und ich in denselben Minuten sterben werden, uns vielleicht irgendwie verbinden wird, schreckt mich nicht mehr – weil, ich bin dann tot...

Ich werde keine Schmerzen mehr haben und der Krebs - auch wenn er gesiegt hat, aber wer hätte je daran gezweifelt, dass er siegen würde? – kann mich mal... Der Scheiß-Krebs wird mit mir untergehen. Er sagt also, dass er gesiegt hätte? Ein toter Krebs ist ein guter Krebs, finde ich.

Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen für die netten Momente, die sie mir im Leben noch geschenkt haben. Grüßen sie ein paar andere von mir...

Ihre Hannelore“

Frau Z. hatte an ein paar Stellen die Stimme versagt, sie hatte sich einige Male Tränen abwischen müssen – aber damit war sie nicht die einzige gewesen.

Denn als sie schließlich vom Blatt wieder hochschaute, sah sie, dass auch unter ihren Zuhörern diverse waren, die ein Taschentuch in der Hand hielten. Sie sagte eine Weile nichts, dann sagte sie leise:

„Da will ich jetzt aber gar nichts mehr hinzufügen.“

Sie faltete das Blatt langsam und vorsichtig zusammen, als ob es zerbrechlich wäre, steckte es mit zitternden Händen wieder in den Umschlag und diesen in die Tasche, aus der sie ihn gezogen hatte. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Platz unter den anderen. Alle schwiegen. Da Hannelore nicht gläubig war, hatten sie auf kirchliche Musik verzichtet und nur „etwas Beethoven“ gespielt.

Wie in allen städtischen „Abschiedsräumen“ auf den Münchner Friedhöfen war die Akustik so schlecht, dass kaum jemand Frau Z. vollständig verstanden hatte und auch die Musik vom „öffentlichen“ CD-Player hatte nicht wirklich gut geklungen.

Alle waren froh, dass die Abschiedsfeier in dem kalten Rund danach schnell zu Ende war, denn was gab es schon zu sagen und selbst wenn, konnte es keiner verstehen...

Als sie draußen waren und noch einen Moment zusammen standen, sagte Hanna in die Runde, dass sie noch zu einem kleinen „Leichenschmaus“ im „Wiener Café“ einladen würde, das wäre nur ein paar Schritte in die Dantestraße hinein auf der rechten Seite.

 

Jemand fragte, ob Frau Z. den Brief dort noch einmal vorlesen könne, damit man den Inhalt verstünde, denn so sei das ja nichts Halbes und nichts Ganzes gewesen.

Langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung. Udo schob Hannas Rollstuhl mühsam durch den Kies vor der Aussegnungshalle. Sarah ging mit wiegenden üppigen Hüften sehr gut aussehend rechts neben dem Rollstuhl, Wolf-Dieter links. Es wurde kaum geredet, alle hingen ihren Gedanken nach.

„Tja“, sagte Udo, „nun ist sie weg..., also so gut wie, verbrannt muss sie noch werden... Und bei der Beisetzung kann ja niemand dabei sein, von wegen anonym und so...“

„Ja“, sagte Hanna, „sie wollte nicht, dass sich irgendwer um ihr Grab kümmern müsse... Aber sie hat ihr letztes Ziel gerade noch erreicht, sie hat den Kerl erschossen...“

„Das habt ihr gut gemacht“, fügte Sarah hinzu, denn die Alten-Wgler waren unter sich, wie ein schneller Rundblick gezeigt hatte, „wie ihr den ausfindig gemacht habt...“

„War nicht schwer“, meinte Wolf-Dieter nach einer Weile, „unser Professor war eitel, eitel genug, dass er einen Facebook-Account hatte... mit Lifeline, Fotos, Adresse und Terminen und allem...“

Sie hatten jetzt den gepflasterten Bürgersteig erreicht und Udo hatte es deutlich leichter, Hanna vor sich her zu schieben.

„Sogar seine Vortragstermine hat er darauf angekündigt... ganz schön blöd!“, meinte Udo deshalb auch weniger schwer atmend.

„Naja, er konnte ja nicht wissen, dass Hannelore ihn noch haben wollte, oder?“, fragte Sarah, „... nach so langer Zeit?“

„Wohl kaum“, sagte Hanna.

Sie passierten die Baldurstraße an der Ampel, gingen in die Dante­straße und hatten nach höchstens einhundert Metern das „Wiener Café“ erreicht, in dem Hanna und Frau Z. den Nebenraum für sie reserviert hatten.