Eine Schwester des Todes

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Eine Schwester des Todes
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Kirsten Döbler

Eine Schwester des Todes

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das rote Kleid

Die Friedhofsmauer

Eine Schwester des Todes

Speisetäublinge

Tante Klaras Nachlass

Kein Boden unter den Füßen

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Anmerkungen

Impressum neobooks

Das rote Kleid

Die Tür fällt ins Schloss. Helmut hat das Haus pünktlich verlassen, und Doris atmet auf: endlich Ruhe. Seine monoton dozierende Stimme wird erst am Nachmittag wieder in die Stille der Zimmer einfallen. Wie an jedem Arbeitstag wird er ihr einen Vortrag halten über die Ignoranz der Schüler und Lehrerkollegen, über ihre Dummheit und Abgestumpftheit. Vehement wird er die Trägheit verurteilen, die er täglich erleben muss. Er wird keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er den Kampf gegen die grassierende Unwissenheit unter keinen Umständen aufzugeben gedenkt.

Von seinen Bemühungen wird auch Doris nicht verschont bleiben; sie ist seine Spitzfindigkeiten gründlich leid. Ist es wirklich so wichtig, wie man »Pas de deux« schreibt? Hängt das Glück davon ab, dass man »bruschetta« richtig ausspricht? Müssen sie darüber streiten?

Verstimmt holt sie die Tageszeitung aus dem Briefkasten. Die Wintersonne scheint durch das Küchenfenster, und Doris setzt sich an den Esstresen. Sie liest die Nachrichten aus aller Welt, studiert den Lokalteil und überfliegt die Anzeigen. Etwas hält sie davon ab weiterzublättern. Ein Name, der ihr bekannt erscheint, eine vertraute Buchstabenfolge. Sie fixiert den Vor- und Nachnamen und hält den Atem an. »Durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen…« Fahrig sucht Doris nach Hinweisen für einen Irrtum. Sie wird vorschnell gefolgert haben; es kann nicht Ralf sein, nicht der Ralf, mit dem sie einst durchs Leben wirbelte. Unmöglich. Vielleicht ein anderer Ralf. Ja! Derselbe Vor- und Nachname! Das gibt es doch. Für einen Moment schöpft sie Hoffnung, aber mit Blick auf die benachbarte Anzeige stirbt ihre Zuversicht. Die Belegschaft einer Tischlerei trauert um ihren Chef, und es gelingt Doris nicht, an einen weiteren Zufall zu glauben. Sie lässt die Zeitung sinken und begreift: Ralf ist tot.

Ganz benommen geht sie ins Wohnzimmer, sinkt, wie von einer großen Erschöpfung überwältigt, auf ihren Schreibtischstuhl. Sie will weinen, aber die Tränen bleiben aus. Tödlich verunglückt…

Wie viele Jahre ist es her? Dreißig? Sie schaut aus dem Fenster auf die akribisch gestutzte Gartenhecke, die den Blick auf die Häuser und Menschen jenseits des Grundstücks verstellt. Doris sieht sich im Geiste das Geschenk auspacken, das Ralf zu einer ihrer ersten Verabredungen mitgebracht hatte. Ein Parfüm, goldene Schrift auf schwarzem Etikett. Sie war überwältigt. Nie zuvor hatte ein Verehrer sich getraut, einen Duft für sie auszusuchen. Sofort tupfte sie sich einen Tropfen Parfüm hinters Ohr. Ralf kam näher, schnupperte und berührte ihr Haar mit seiner Nase. Die Mischung der blumigen Aromen begleitete sie von diesem Moment an durch alle gemeinsamen Abende.

Doris beugt sich hinunter und öffnet die unterste Schublade ihres Schreibtisches. Beim Anblick des leeren Flakons meint sie, den lange verflogenen Duft wieder zu erahnen. Für Bruchteile von Sekunden bringt er Ralfs Gesicht zurück, seine Lippen, seine Hände, die kräftigen Arme, mit denen er sie beim Tanzen an sich drückte, so eng, dass sie manchmal einen roten Kopf bekam. Es erschien ihr unpassend, ihr körperliches Begehren so öffentlich zur Schau zu stellen. Aber wenn sie sich von ihm entfernen wollte, packte er nur noch fester zu und lachte sie aus.

Mit geröteten Wangen geht Doris ins Schlafzimmer, öffnet die hinterste Schranktür und schiebt die beige- und camelhaarfarbenen Jacken und Blazer beiseite. Da hängt es, ihr Cocktailkleid aus rotem Satin. In diesem blutroten Fummel hatte sie sich von Ralf in den Tanzsaal führen lassen. Dort waren sie übers Parkett geschwebt, als hätten sie nie etwas anderes getan, als wären sie tanzend auf die Welt gekommen. Sie berauschten sich an ihrem Spiegelbild. Und so kreiselten sie gemeinsam durch leidenschaftliche Monate, bis – ja, bis ein nichtiger Streit, gepaart mit der jugendlichen Überzeugung, alle Entscheidungen seien jederzeit und ohne Strafe revidierbar, dieser Leidenschaft ein Ende setzte. Damals war Helmut in ihr Leben getreten, und auch wenn er bei Weitem kein so guter Tänzer war wie Ralf, so erschien ihr der Studienrat in jenen Wochen doch als eine eloquente und vorzeigbare Alternative.

Gedankenverloren betrachtet Doris das Cocktailkleid. Es hat all ihre Versuche, das Leben neu zu ordnen, unbeschadet überstanden. Nur überziehen kann sie es nicht mehr, seit sie das Tanzen aufgegeben hat und die Taille breiter geworden ist. Aber vielleicht, denkt sie, wenn man ein paar Abnäher auftrennt…

Am Tag der Beisetzung schlüpft Doris in das rote Kleid. Sorgfältig legt sie einen schwarzen Schal darüber und zieht ihren Wintermantel an. Die Kapelle ist übervoll; Doris findet keinen Sitzplatz und ist erleichtert. Die Befürchtung, ihr Mantel könne beim Hinsetzen an den Knien aufspringen und den leuchtend roten Stoff enthüllen, erweist sich als gegenstandslos. Orgelmusik setzt ein. Doris‘ Finger pressen ein Taschentuch zusammen.

Ihr Herz klopft, als der Pastor auf Ralfs Leben zurückblickt. Die Meisterprüfung, die große Tischlerei. Ein Sohn, dann eine Tochter. Sein Engagement in der Innung. Der Tanzsport. Die Liebe zu seiner Familie. Und als Ralfs Frau und die erwachsenen Kinder nach dem Trauergottesdienst durch den Mittelgang schreiten und einander an den Händen halten, sieht Doris, dass es keine pastoralen Hülsen waren.

Eine Frage taucht auf, flüchtig erst, dann drängender: Was, wenn es Helmut gewesen wäre, den ein Unfall aus dem Leben gerissen hätte? Doris stellt sich vor, sie schreite in Schwarz dem Ausgang der Kapelle entgegen. Sie malt sich aus, dass sie die Beileidsbekundungen am offenen Grab entgegennimmt. Und sie verweilt bei dem Gedanken, was für ein befreiendes Gefühl es sein müsse, nach der Beisetzung in die durch niemanden gestörte Stille des Hauses zurückzukehren.

Die durchdringenden Töne der Orgel schmerzen in den Ohren. Doris starrt die Frau an, mit der Ralf die vergangenen Jahrzehnte zusammengelebt hat. In jedem unglücklichen Schritt der Fremden sieht sie jetzt nichts als ihre eigene Fehlentscheidung, und sie begreift nicht, wie sie so lange daran festhalten konnte. Doris atmet schwer; der Duft von Lilien steigt ihr in die Nase. Sie kann es kaum erwarten, die Kapelle zu verlassen.

Im Stadtzentrum steigt sie aus dem Bus und schaut sich unschlüssig um. Sie wird ihre eigene Nachfeier abhalten, irgendwo, wo sie keinem Bekannten begegnet. Sie betritt ein Café, wählt einen Ecktisch aus und legt den Mantel ab. Sorgsam zupft sie die Puffärmel aus Satin zurecht und setzt sich. Die Bedienung stellt eine Tasse vor ihr ab.

»Hier, der Kaffee wird Ihnen gut tun, Sie sind ja ganz durchgefroren!«

»Ja«, sagt Doris leise. »So kalt wie heute war mir noch nie.« Da endlich füllen sich ihre Augen mit Tränen. Wie durch einen Schleier hindurch blickt sie auf die Spiegelwand des Cafés: eine Reflexion in Rot, die in der Tränenflut zunehmend verschwimmt – fast scheint es Doris, als beginne ihr Abbild im Spiegel zaghaft zu tanzen.

Die Friedhofsmauer

Schwerfällig und auf einen Gehstock gestützt, schlurfte Rudolf Lehner über den Staromestské námestí in Richtung Rathaus. Er war zum ersten Mal an die Moldau gereist und wunderte sich, dass es ihm erst mit dreiundachtzig Jahren in den Sinn gekommen war, Prag einen Besuch abzustatten.

Im Reiseführer hatte er gelesen, die astronomische Uhr am Altstädter Rathaus erwache zur vollen Stunde zum Leben: Die Fenster über dem Zifferblatt würden sich öffnen und die zwölf Apostel erscheinen. Der Tod persönlich schüttele am Turm seine Knochen, während er die Sanduhr wende und das Sterbeglöckchen läute. In Anbetracht seines fortgeschrittenen Alters befand Rudolf Lehner, er dürfe sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen. Er reihte sich ein in die Touristenmenge, die zu Füßen des Rathausturmes in der Augusthitze ausharrte.

Das Spektakel begann: Auf den Displays ihrer Kameras betrachteten die Menschen das Defilee der Apostel in den Turmluken. Ein Raunen ging durch die Menge. Und tatsächlich: Rechts neben dem astronomischen Zifferblatt begann die Figur des Todes sich zu bewegen. Rudolf spürte, dass sein Puls sich beschleunigte. Der Sensenmann rückte sein Skelett zurecht, und mit jeder seiner Bewegungen steigerte sich das Entsetzen, das Rudolf verspürte, verdichtete sich die Erinnerung an Dunkelheit, Sturm, Sirenen, Angst.

Natürlich Angst! Schließlich hatte er sie erlebt, die Todesangst, damals in jener gottverlassenen Gegend, und sie kehrte im Angesicht dieses lächerlichen Figürchens am Turm mit aller Wucht zu ihm zurück. Mit einem Schlag war er wieder siebzehn Jahre alt und Flakhelfer. Es regnete und stürmte, die Nächte im Oktober waren kühl, die Wege morastig. Mit sieben Schülern waren sie in eine Hütte gezogen, eine in Windeseile zusammengesetzte Baracke. Es war eng, aber immerhin warm und ohne Fugen und Ritzen. Sie schliefen auf Strohpritschen. An den Wänden schlugen sie Nägel ein für Gewehre und Stahlhelme, Gasmasken und Kochgeschirr. Wie eine Waffenkammer wirkte der Raum. Da sie nahe der Front lagen, hatten sie die Aufgabe, nach Nachtjägern Ausschau zu halten. Sie wussten, was man von ihnen erwartete: Flink wie die Windhunde sollten sie sein, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Und was war er gewesen? Ein Hasenfuß, der um sein Leben fürchtete.

 

Einzig Judith hatte ihm Halt gegeben in diesen Nächten. Ausgerechnet Judith! Fünf Jahre zuvor hatten sie sich beinahe täglich auf der Wiese hinter der Villa der Weizmanns getroffen, kurz vor Kriegsbeginn; sie mussten zwölf Jahre alt gewesen sein. Gemeinsam strichen sie über die Brache, pflückten Sauerampferblätter und kauten sie durch, so dass ihre Münder sich mit Speichel füllten. Oder sie liefen ans Ende der Wiese zu dem Knick, der an einigen Stellen mit Schlingpflanzen überwuchert war. Sie pflückten Holunderbeeren, aus denen ihre Mütter Gelee kochten, lachten über die tintenfarbenen Flecken, die die Früchte auf ihren Fingern hinterließen.

Bisweilen krochen sie in ihre Lianenhöhle und spielten ein Spiel, das sie »Totenstarre« nannten. Einer von ihnen legte sich auf den Boden, der andere kniete daneben und ließ aus der Hand Sand auf den liegenden Körper rieseln. Dieser durfte sich nicht bewegen, musste so lange wie möglich regungslos die kitzelnden Körner ertragen – wie ein Toter. Judith begann fast immer damit, ihm Sand auf die Finger zu streuen, arbeitete sich die Arme entlang hinauf zu seinem Hals, und meist hielt er es nicht lange aus, die Körnchen unter seinem Hemdkragen oder in der Ohrmuschel zu spüren, bevor ein innerer Impuls ihn zwang, vorzeitig aufzuspringen.

Judith dagegen war gut in ihrem Spiel. Rudolf konnte die Kuhle unter ihrem Kehlkopf mit Sand füllen, Spuren auf ihre Stirn legen, ihre Augenlider mit kleinen Häufchen bedecken – nie bewegte sie auch nur einen Muskel. Immer gewann sie das Spiel.

Eines Tages auf der Brache erzählte Judith ihm mit verweinten Augen, sie und ihre Familie würden Deutschland verlassen und zu Verwandten ins Ausland fahren, am übernächsten Morgen schon. Er versuchte sie zu trösten und konnte es doch selbst nicht fassen. Sollten sie sich künftig denn nicht mehr auf ihrer Wiese treffen können?

Am Abend vor der Abreise waren sie in ihrer Lianenhöhle verabredet. Er hatte versprochen, ein Taschenmesser mitzubringen, damit sie sich in den Finger ritzen und ihre Blutstropfen vermischen konnten, denn im Geiste würden sie immer vereint bleiben, soviel stand fest.

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