Donnergrollen im Land der grünen Wasser

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Nach Norden

(Mabila, Vollmond am 14. November)

Juan de Anasco verließ das Zelt und ließ die beiden allein. Er kochte vor Zorn, weil es jemand gewagt hatte, sich an seinem Eigentum zu vergreifen. Er hatte den Cabo Espindola erkannt, der sich an seiner Sklavin vergriffen hatte, und wollte ihn zur Rede stellen. Sein Herz pochte vor Wut, obwohl er den Soldaten wahrscheinlich noch rechtzeitig erwischt hatte, ehe er kopulieren konnte. Dieses Mädchen hatte sich ihm gar nicht hingegeben, sondern war gezwungen worden. Was fiel diesem Schuft eigentlich ein? Er war der Capitán der Lanzenreiter! Niemand vergriff sich an seinem Eigentum! Er fand den Soldaten im Lager der Kavallerie und ließ ihn wutentbrannt antreten. Mit einer Handbewegung rief er zwei weitere Soldaten zu sich, die den Kerl festnehmen sollten.

„Die Not überkam mich, Herr!“, versuchte der Mann sich zu entschuldigen. Er hatte nur einen niedrigen Rang und so fürchtete er zu Recht die Bestrafung durch den Capitán.

„Die Frau ist mein Besitz! Wie kannst du es wagen, sie überhaupt anzusehen, geschweige denn anzufassen?“

„Die Not, Herr! Die Not!“ Espindola wusste, dass es keine Entschuldigung gab. „Ich wusste nicht, dass sie Euer ist, Herr!“

Juan de Anasco schnaufte vor Wut. Andererseits war die Sklavin zwar sein Besitz, aber nachdem nicht wirklich etwas geschehen war, hatte er kaum eine Möglichkeit, den Kerl zu bestrafen.

„Zwanzig Stockhiebe, weil ich dich mit meinem Eigentum erwischt habe!“

„Danke, Herr! Danke! Es wird nicht wieder vorkommen!“ Espindola erkannte, dass er gerade glimpflich davon kam. Es gab genug Frauen, an denen er sich befriedigen konnte, da war es besser, das Eigentum dieses Capitán in Ruhe zu lassen. Er fand es nur verwunderlich, dass der Caballero sich überhaupt darüber aufregte.

Der Capitán überwachte die Strafe, während er über die mangelnde Disziplin nachdachte. Im Grunde war dies ein gutes Exempel an seine Truppe, es nicht zu weit zu treiben. Seit ihrer Ankunft in Florida war einige Zeit vergangen und die Männer verrohten zusehends.

Aber es waren nicht nur die Männer, um die er sich Sorgen machte. Die Kampfkraft der Expedition hatte sehr gelitten und ein Großteil der Ausrüstung war vernichtet worden. Viele Soldaten forderten die Rückkehr zum Meer, um dort mit Schiffen die Rückreise nach Mexiko antreten zu können. Bisher hatten sie keine Reichtümer finden können und die Menschen wurden ungeduldig. Seit fast zwei Jahren waren sie in diesem feindlichen Land unterwegs, ohne die versprochenen Schätze gefunden zu haben. Stattdessen waren sie auf äußerst kriegerische Wilde gestoßen, die sie immer weiter in die Irre geführt hatten. Die Munition für die Arkebusen wurde spärlich und eigentlich nur noch zur Einschüchterung der Eingeborenen verwendet, ebenso schlecht stand es um all die anderen Teile der Ausrüstung. Der Gouverneur hatte Meldung erhalten, dass an der Küste Schiffe warteten. In nur wenigen Tagesreisen wäre es möglich, diese zu erreichen. Der Winter stand bevor und sie hatten fast keine Vorräte mehr.

Auch Juan wollte zurück. Der Kampf war schrecklich gewesen und hatte ihnen gezeigt, dass die Eingeborenen ihnen erheblichen Schaden zufügen konnten. Bisher hatte die Expedition nur Geld gekostet und Juan glaubte nicht mehr daran, dass hier noch Reichtümer zu finden waren. Immer öfter dachte er an die spanischen Frauen mit ihren warmen braunen Augen und ihrer dezenten Erscheinung. Ihre Körper waren stets mit schweren Stoffen umhüllt und zeigten sich nicht in dieser Nacktheit der eingeborenen Frauen. Der Mieder der spanischen Frauen war sogar mit einer Platte verstärkt, damit niemand an ihre Weiblichkeit erinnert wurde. Die Haare waren zu kunstvollen Frisuren hochgesteckt, die umrahmt waren von der weißen Spitzenkrause, die jetzt modern war. Die Frauen schminkten ihre Gesichter weiß, was ihnen ein nobles Aussehen verlieh. Juan fand die schwarzen Augen des eingeborenen Mädchens abstoßend und ihre braune Haut entsprach ebenfalls nicht seinem Ideal. Selbst als Hausmädchen wäre sie nicht zu gebrauchen. Ehe er nach Spanien zurückkehrte, würde er sie und den Bruder als Sklaven verkaufen. Seufzend dachte er an seine Kleidung, die inzwischen starken Schaden genommen hatte. Seine Rüstung rostete an mehreren Stellen und musste immer wieder poliert und eingeölt werden. Die Schnallen und Ösen zersetzten sich und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann er den Brustharnisch nicht mehr anziehen konnte. Einzig der Helm schien stabil genug zu sein und der Witterung zu trotzen. Seine Stiefel fielen auseinander, weil das Leder spröde wurde, und seine Alltagskleidung war zerschlissen. Sein Spitzenkragen hing unansehnlich herunter, seine kurze Jacke hatte Risse und seine Hemden waren höchstens noch Putzlumpen. Dieses dumme Eingeborenenmädchen wusste nichts davon, wie man Kleidung flickte, und so wandte er sich an die edlen Frauen des Gefolges, die ihm diese Dienste taten.

Manchmal bereute er, dass er keine Frau mitgebracht hatte, aber dann überkam ihn die Vernunft. Es war besser, eine Frau nicht diesen Gefahren und diesem einfachen Leben auszusetzen. Er stellte sich Isabella in dieser Umgebung vor und schüttelte den Kopf. Nein, ihr würde es so ergehen wie den anderen Geschöpfen, die ihren Männern hierher gefolgt waren. Verschollen in der Wildnis, umgeben von Wilden, ohne Komfort und angemessene Unterkunft. Einige Frauen waren den Fußsoldaten gefolgt und sie litten unter den Entbehrungen. Ihre Kleider waren ebenfalls zerschlissen, ihre Reifröcke kaputt und ihre Mieder fielen auseinander. Es war kaum noch möglich, sich anständig zu kleiden, und Juan befürchtete, dass die Frauen irgendwann herumlaufen würden wie diese Wilden. Selbst die Damen der Offiziere sahen inzwischen aus wie Vogelscheuchen. Der Gouverneur hatte immer noch Tisch und Stühle dabei, lebte in seinem großen Zelt und hofierte wie ein König. Doch die Priester beklagten den Verlust des Messweins und der heiligen Ornamente. Auch einige Truhen mit Kleidung waren verbrannt, was einen herben Verlust bedeutete, weil sie nicht ersetzt werden konnten. Don Antonio Osorio, der in Spanien das Leben eines Königs geführt hatte, lief inzwischen barfuß, und unter der zerfetzten Kleidung schaute das Fleisch heraus. Anfangs hatte Juan das höfische Benehmen des Mannes belächelt, aber inzwischen war nichts mehr von dessen Noblesse übrig geblieben. Hier waren alle gleich. Die Stimmung war gedrückt, verstummt waren das Singen am Abend und die melancholische Begleitung auf der Gitarre. Die letzte Gitarre war in Mabila ein Raub der Flammen geworden. Verstummt war auch das Lachen der wenigen Kinder, die den Tross begleitet hatten. Sie waren an den Strapazen gestorben und neugeborene Babys überlebten meist die ersten Wochen nicht. Dieses Land war gänzlich ungeeignet, um besiedelt zu werden!

* * *

Juan trat in das Zelt des Gouverneurs und nickte den anderen Offizieren zu. Alle hatten sich in den Tagen von den Strapazen erholt und warteten in Ruhe ab, was der Gouverneur entscheiden würde. Noch hatten sie das Vertrauen in ihn nicht verloren. Sie waren Soldaten und der Tod gehörte zu ihrem Leben. Bisher waren sie siegreich gewesen, auch wenn inzwischen über hundert von ihnen in der fremden Erde bestattet waren. Aber auch die Eroberung des Inka -Reiches hatte ihren Tribut gefordert. Sie salutierten zackig, als der Gouverneur eintrat, und versuchten zumindest mit ihrer Haltung, wie Caballeros auszusehen. DeSoto schenkte ihnen ein Lächeln, dann hielt er eine flammende Rede über ihre bisherigen Errungenschaften: „Die Jungfrau Maria war mit uns, als wir diese Wilden besiegt haben. Tuscalusas übellistiger Täuschungsversuch ist fehlgeschlagen und er wurde mit seinem ganzen Volk vernichtet. Das ist ein Zeichen, dass unsere Expedition immer noch unter einem guten Stern steht!“

Sein Blick wanderte über die Versammlung und er hob die Hand, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Noch haben wir unsere Aufgabe nicht erfüllt! Wir sollen für die Krone den südlichen Seeweg nach China erkunden. Florida ist größer, als wir erwartet haben, aber irgendwo muss das nördliche Ufer sein, von dem aus wir nach China segeln können. Wir wollen einen Hafen anlegen und den Seeweg sichern. Denkt nach, wie viel Gold wir mit Pizarro gefunden haben. Die gleichen Reichtümer warten auch hier auf uns. Wir müssen sie nur finden! Mit Gottes Hilfe!“

„Mit Gottes Hilfe!“, murmelten die Männer nicht ganz so begeistert.

„Wir gehen daher nach Norden und sichern uns Vorräte. Wenn wir einen geeigneten Platz gefunden haben, überwintern wir dort und machen uns dann im Frühjahr wieder auf den Weg. Bei Vollmond brechen wir auf. Nach Norden!“

Niemand protestierte, obwohl einige Männer verlegen zu Boden blickten und die Erde mit dem Stiefel beiseite schoben. Noch einen Winter hier verbringen zu müssen, lockte kaum. Aber DeSoto war der Anführer und niemand stellte seine Entscheidung in Frage. Der Gouverneur gab Anweisung, dass ein Bote zu den Schiffen geschickt wurde, damit diese sich im nächsten Winter in der Bucht einfanden.

Juan seufzte. Noch ein Jahr in diesem fremden Land! Er überlegte, ob er dann nicht wie einer dieser Wilden herumlaufen würde. Gleichzeitig wurde ihm der Wert dieser Gefangenen klar. Wenigstens hatte er jemanden für sich, der seine männlichen Bedürfnisse befriedigen konnte. Wenn sie erst eine gewisse Wegstrecke hinter sich gebracht hatten, würde er die Frau von ihren Fesseln befreien. Dann war die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie die Flucht wagte. Und wohin denn? Ihr Dorf war vernichtet und ihre Familie tot.

Er behandelte das Kind mit Freundlichkeit, weil der Junge bereitwillig seine Sprache lernte und schon viele Worte nachplapperte. Es amüsierte ihn. Einst wollte er auch einen Sohn haben, aber natürlich mit heller Haut und braunen Locken. Zumindest stellte sich seine Großzügigkeit als gute Investition heraus, denn wenn der Junge erst seine Sprache konnte, wäre er ein nützlicher Diener. Ihn konnte er vielleicht als Beute nach Hause mitbringen. Wenn er erst in seinem Castello war, konnte er mit diesem seltsamen Fang die Gäste erfreuen.

 

* * *

Es war an einem Sonntag zum Vollmond, als der Tross nach Norden aufbrach. Eine gewisse Ordnung hatte sich wieder eingestellt: Kundschafter ritten voraus und sicherten die Umgebung, unter ihnen Juan. Er hatte dafür gesorgt, dass seine Ausrüstung und das Zelt gut verpackt waren und Maria und Nana sich dem Tross der Expedition anschlossen. Er hatte einen Diener eines Freundes beauftragt, auf die beiden zu achten und Übergriffe auf die Sklavin zu verhindern. Die beiden konnten nicht alles von ihm tragen und so hatte er ein Gestell aus Ästen gebaut, das Maria hinter sich herziehen konnte. Auf ihm lagen das Zelt und eine Truhe. Außerdem schleppte Maria ein großes Bündel auf ihrem Rücken. Mit ihren Fesseln konnte sie nur kleine Schritte machen, aber noch befanden sie sich mitten in ihrem Land, sodass er es nicht wagte, die Ketten zu entfernen. Er hatte gesehen, dass sich die Knöchel entzündeten, doch im Moment konnte er sich nicht darum kümmern.

Mit zwanzig Lanzenreitern erkundete Juan die Gegend nördlich von ihnen und stieß immer wieder auf kleinere Ansiedlungen. Die Landschaft wechselte von brachliegenden Feldern und Dörfern zu dichten Wäldern mit kahlen Laubbäumen und vielen dunklen Fichten und Kiefern und morastigen Sümpfen. Dann kamen sie an einem klaren Fluss mit Stromschnellen und einem kleinen Wasserfall vorbei. Nebel lag in der Luft und ein kühler Wind wehte. Am Himmel kreisten einige Bussarde, ansonsten war es still. In der Ferne schlich ein Opossum durch das gelbe Gras. Die Spanier hatten in diesem Land schon viele seltsame Tiere entdeckt, aber diese hatten sich vor dem Hufgetrappel der Pferde versteckt.

Am Abend erreichten sie einen breiten Fluss, an dessen Ufer ein großes Dorf lag. Juan schickte einen Meldereiter zurück, der den Auftrag hatte, den Tross hierher zu führen. Er selbst schlug sein Lager auf und erkundete am nächsten Morgen das Dorf. Die Menschen hatten es fluchtartig verlassen und warteten am anderen Ufer. Die Krieger standen dort mit Pfeil und Bogen, um die Spanier an der Überquerung zu hindern. Juan fand die Vorräte aus Bohnen, Mais und Kürbis. Außerdem stieß er auf gut gegerbtes Leder, das sich für neue Kleidung verwenden ließ. Die Provinz, die sie durchquerten, war reich, und er hatte keine Skrupel, sich an ihrem Reichtum zu bedienen. Der Dolmetscher hatte erzählt, dass sich im Norden das Land der Chickasa befand, in dem sie endlich auf Reichtümer zu stoßen hofften. Dort sollte sich angeblich auch ein großes Handelszentrum der „Indios“ befinden. Bis auf einige Ketten mit wertvollen Perlen hatten sie nichts erbeuten können. Vielleicht stießen sie dort auf das versprochene Gold?

Zwei Tage später traf die Hauptstreitmacht ein und Juan erfuhr von Nana, dass das Dorf Talicpacana hieß. Juan ließ Maria das Zelt aufbauen und verstaute die Sachen darin. Sein prüfender Blick wanderte über ihr erschöpftes Aussehen und blieb an den Knöcheln hängen. Die Ketten hatten sie wundgescheuert und verkrustetes Blut mischte sich mit Eiter und offenen Gerinnseln. Er musste etwas tun, oder seine Gefangene wäre bald ein Krüppel. Maria konnte kaum die Füße heben und ließ sich müde auf die Matte fallen. Sie stank nach Schweiß und Blut. Er führte sie zum Fluss, damit sie sich wusch und die Wunden gereinigt wurden. Er dachte, dass die Verletzungen in ein paar Tagen vergehen würden. Es würde einige Tage dauern, ehe sie den Fluss überqueren konnten und bis dahin konnte sie die Füße ruhig halten. Er misstraute ihr gerade jetzt, denn auf der anderen Seite warteten diese Wilden, denen sie sich anschließen konnte. Er überlegte sogar, ob er nicht auch Nana in Ketten legen sollte, aber wahrscheinlich waren seine Füße so schmal, dass sie einfach durchrutschten.

In der Nacht legte er sich zu einer Sklavin und forderte ihren Körper. Sie wimmerte vor Schmerzen und es ärgerte ihn. Die Eingeborenen galten als frivol und freizügig mit ihrem Körper, aber dieses Mädchen hier schien nicht so viel Gefallen daran zu finden. Vielleicht waren es ja nur die Schmerzen? Es würde besser werden, sobald er entschied, ihr die Ketten abzunehmen. Er winkte Nana herein, der in solchen Augenblicken immer draußen warten musste. Der Junge schien es hinzunehmen, ohne weiter darüber nachzudenken. „Hast du Hunger?“, fragte Juan gut gelaunt. Er zog seine Hose hoch und runzelte unwillig die Stirn, als Maria die Beine anzog und sich zusammenrollte.

„Si, Señor!“, antwortete Nana mit leuchtenden Augen.

Juan strich dem Kind über die kurzen Haare. Missbilligend stellte er fest, dass der Junge kaum etwas zum Anziehen hatte, sondern immer noch die gleichen Lumpen wie bei seiner Gefangennahme trug. Das Kind fügte sich besser als die Schwester und er fühlte ein gewisses Wohlwollen. „Sag deiner Schwester, dass sie dir etwas nähen soll!“

Nana schaute ihn mit großen Augen an und versuchte die Worte zu verstehen. „Nähen?“

Juan grinste. „Ja, für dich! Hose und Hemd!“

Nana lächelte und sah an ich herunter. „Hose und Hemd für Nana?“

„Genau! Hose und Hemd für Nana!“ Juan lachte laut, als er feststellte, dass der Junge Fortschritte machte. „Und Essen für Juan, Nana und Maria!“ Das Wort „Essen“ hatte Nana als Allererstes gelernt.

Der Junge rieb sich den Bauch und deutete an, dass er Hunger hatte. „Kein Essen!“, maulte er vorwurfsvoll.

„Aha, ihr habt wohl länger nichts zu essen bekommen“, stellte Juan fest. „Dann komm mal mit. Wir holen das Essen und bringen auch Maria etwas.“

Vertrauensvoll nahm Nana ihn an der Hand und zog ihn mit sich fort. Juan fühlte sich nicht wohl und entzog dem Kind die Hand wieder. Er wollte keine Vertraulichkeiten von einem Untergebenen. Er holte Essen in einem Topf und kehrte in sein Zelt zurück. Er verteilte das Essen auf drei Teller und gab es den Sklaven. Der Junge schaufelte die Suppe gierig in seinen Mund, während Maria teilnahmslos liegenblieb. „Iss!“, befahl Juan verärgert. Wenn sie nichts aß, dann würde er ihr die Nahrung zwangsweise einflößen. Er hatte keine Lust, auf sie zu verzichten. Er gab ihr einen Tritt und beobachtete, wie sie sich langsam in sitzende Position erhob und die Schale in die Hand nahm. „Iss!“, wiederholte er.

Hirschjagd

(Dorf der Menominee)

Der erste Schnee fiel und verbannte die Menschen in die warmen Wigwams. Machwao war froh um die Nahrungsvorräte, die sein Dorf angelegt hatte. Natürlich war es auch möglich, im Winter auf Schneeschuhen zur Jagd zu gehen. Doch dies war mühsam und wurde eher gemacht, um an die wertvollen Pelze zu gelangen. Aus dem Winterpelz der Tiere konnten die Frauen warme Kleidung herstellen. Kein Mann war besonders erpicht darauf, den ganzen Tag auf Schneeschuhen durch die Wildnis zu streifen. Das Wild wurde spärlich und musste mühsam aufgestöbert werden. So saß Machwao lieber am Feuer und schnitzte an neuen Pfeilen oder besserte seine Waffen aus.

Seine Mutter webte aus Halmen und Binsen neue Körbe und Matten, während seine Schwester einen Tontopf mit einem einfachen Muster bemalte. Noch hatte sie ihre ersten Riten nicht durchlaufen und so fanden seine Überlegungen bezüglich eines Ehemanns kein Gehör. Die Mutter schob diese Gedanken weit von sich und lächelte stets, wenn er auf seine Schwester zu sprechen kam. Nepewin Nuki war selbst in sehr jungen Jahren einem Mann als Ehemann versprochen worden und hoffte für ihre Tochter auf eine ebenso sichere Zukunft. Sie war glücklich gewesen, denn ihr Ehemann war gut zu ihr gewesen. Ihre Eltern hatten eine gute Wahl getroffen. Trotzdem hoffte sie, dass die Tochter noch eine Weile in ihrem Haushalt verblieb. Sie sah es als gutes Zeichen, dass die Tochter bisher noch nicht ihre ersten Riten gehabt hatte. So galt sie als Kind. All die Gespräche um einen möglichen Ehemann waren also nur Geplapper. Und ganz sicher würde sie nicht mit einem Schwiegersohn namens „Wakoh“ einverstanden sein! Er war ihr viel zu kämpferisch und verantwortungslos. Machwao dagegen sah seine anderen Qualitäten. „Siehst du nicht, dass er ein guter Jäger ist, der seine Familie stets ernähren kann? Hinzu kommt, dass er wirklich ein tapferer Kämpfer ist, der seine Familie immer beschützen würde!“

Die Mutter schüttelte energisch den Kopf. „Er ist eigennützig. Er sieht nur den eigenen Erfolg. Niemals könnte er sich zum Wohle einer Frau zurücknehmen!“

Machwao wurde ungewohnt wütend. „Er würde für sie sterben. So ist das! Ich habe es gesehen. Ich habe es erlebt. Als wir gegen die Feinde gekämpft haben, wäre er für uns gestorben!“

Die Mutter senkte verunsichert den Kopf. „Ja, aber das heißt nicht, dass er auch ein guter Ehemann wäre. Er ist viel zu unüberlegt.“

Kämenaw Nuki, die kleine Schwester, mischte sich auf gänzlich ungewohnte Weise ein. „Noch bin ich nur ein Kind. Aber eines Tages werde ich einen Mann erwählen. Und jede Frau könnte sich glücklich schätzen, Wakoh an ihrer Seite zu wissen.“ Ihre Augen funkelten verliebt, als sie Machwao verschwörerisch zublinzelte. Machwao war sprachlos und schenkte seiner Schwester einen verblüfften Blick. Die Mutter dagegen schalt ihre Tochter: „Wie kannst du so etwas sagen? Was weißt du schon von Männern? Sei still und überlege dir das nächste Mal, was du sagst!“

Kämenaw Nuki senkte schweigend den Kopf und doch konnte Machwao fühlen, dass sie ihre Meinung nicht ändern würde. Sie bewunderte Wakoh! Und tatsächlich hatte sie recht. Wakoh war schon als Kind von den Donnergeistern auserwählt worden. Seine Eltern hatten ihn früh mit den Dingen des Krieges beschenkt und dafür gesorgt, dass er bestens mit Pfeil und Bogen vertraut war. Schon als kleiner Junge hatte er von den Donnervögeln geträumt und in seinem Kriegsbündel befanden sich eine winzige Kriegskeule, ein kleiner Bogen mit winzigen Pfeilen und die donnernden runden Steine. Machwao wusste von einigen Dingen, aber er wusste auch, dass Wakoh inzwischen weitere Glücksbringer erhalten hatte. Seine Schutzgeister waren mächtig.

Machwao grinste und wechselte dann das Thema. Es war nicht gut, die Mutter auf falsche Gedanken zu bringen. „Morgen werden wir zur Jagd aufbrechen und ich werde Awässeh-neskas begleiten. Wir wollen Biber fangen.“

„Geht es ihm wieder gut?“, erkundigte sich die Mutter.

„Aber ja. Ich sorge dafür, dass er schnell wieder seine Familie versorgen kann. Es wird Zeit!“

„Oh, das ist schön. Es hat lange gedauert!“ Die Mutter lächelte. Machwao schwieg, als er an den Freund dachte. Ja, Awässeh-neskas hatte wirklich mit dem Tod gerungen, doch nun ging es ihm wieder besser. Er wartete auf die Geburt seines ersten Kindes und ein bisschen Abwechslung würde ihm die Kraft zurückgeben. Der Schnee lag hoch, hatte das Land fest in seinen eisigen Klauen und die Jagd mit Schneeschuhen würde ihn auf andere Gedanken bringen.

* * *

Der Winter war lang so weit nördlich, doch die Menominee waren ihn gewohnt. Kinder rodelten auf Schlitten die Hänge hinunter, warm eingemummelt in warme Pelze und mit gefütterten Mokassins an den Füßen. Die Vorratsgruben waren gefüllt und mit langen Stecken gekennzeichnet, damit man sie auch bei Schnee noch fand, und neben den Feuerstellen lagen die Holzstapel zum Trocknen, damit das Feuer in den Wigwams nicht rauchte.

Machwao holte sich eine Schale Suppe, die mit Kochsteinen in einem Gefäß aus Birkenrinde gekocht worden war. Die Mutter hatte Fleischstreifen hineingetan, wilde Zwiebeln, Wildreis und Kürbis. Sie schmeckte köstlich und war ausgesprochen sättigend. Manchmal süßte sie die Suppe auch mit Ahornsirup, aber noch war nicht die Zeit dafür, den süßen Saft von den Bäumen zu sammeln. Anschließend kontrollierte Machwao seine Schneeschuhe. Manchmal wurde das Leder brüchig und dann mussten die Lederbänder ausgewechselt werden. Er fettete das Leder gut ein und prüfte sein Werk zufrieden. Ebenso sorgsam prüfte er seinen Bogen und die Pfeile. Biber wurden meist mit einer Keule erschlagen, doch er würde seinen Bogen mitnehmen, weil man nie wissen konnte, ob ihm nicht anderes Wild vor die Füße lief. Wenig aufmerksam lauschte er dem Gespräch der Frauen und horchte erst auf, als die Mutter wieder das Wort an ihn richtete. „Diese Arbeit wird sehr anstrengend für mich …“, begann sie mit ihrer Wortkeule. Er wusste genau, was jetzt kommen würde! Sie würde ihm die Vorzüge aufzählen, die eine junge Schwiegertochter bringen würde. Dabei hatte sie in der Tochter wahrlich eine gute Hilfe.

 

„Sehnt sich dein Herz denn nicht nach einer Frau?“, fragte die Mutter fast vorwurfsvoll. Vielleicht hatte sie auch Bedenken, dass er andersherum war und sich eher zu Männern hingezogen fühlte.

Machwao überhörte den versteckten Vorwurf und lächelte freundlich. „Bald!“, versprach er kurzangebunden.

„Oh?“ Das Gesicht der Mutter war eine offene Frage. Hatte sie etwas übersehen?

Auch Kämenaw Nuki hatte in ihrer Arbeit innegehalten und musterte den Bruder interessiert. Machwao schüttelte vergnügt den Kopf. „Ich dachte nur daran, dass die Gelegenheit vielleicht günstig ist, wenn ich im Frühling auf Reisen gehe. Ich werde auch in anderen Dörfern vorbeikommen und dann kann ich ja mal sehen, ob es hübsche Mädchen gibt.“

„Du solltest dich nach fleißigen Mädchen umsehen!“, schalt die Mutter ihn.

„Mutter!“, schimpfte Kämenaw Nuki. „Sei doch froh, wenn er überhaupt solche Gedanken hat. Ich kenne kein Mädchen, das nicht fleißig wäre und nicht wüsste, was eine Frau zu tun hat!“

Machwao lachte laut bei dem Ausbruch seiner Schwester.

„Stimmt! Alle Mädchen sind fleißig. Aber es schadet ja nichts, wenn sie auch ein bisschen hübsch ist.“

„Schönheit vergeht!“, mahnte die Mutter erneut. „Ich werde mich umhören, welches Mädchen in Frage kommt. Eine Ehe muss wohlüberlegt sein!“

Machwao senkte den Blick und vertiefte sich demonstrativ in seine Arbeit. Ja, er wusste, dass die meisten Ehen von den Verwandten gestiftet wurden, aber er hatte seine eigenen Träume. Seine Schwester kicherte erheitert und er schenkte ihr ein breites Lächeln. Er würde sehen!

* * *

Er holte aus dem hinteren Teil des Wigwams ein sorgfältig verpacktes Bündel, in dem sich seine Jagdmedizin befand. Die beiden Frauen verzogen sich auf ihre Schlafmatten, denn der Krieger brauchte Ruhe, um mit den Geistern in Kontakt zu treten. Sorgfältig reinigte er den Boden von Staub, legte eine Matte aus und öffnete dann behutsam das Bündel. Leise sang er das Lied, das ihm bereits von seinem Vater und Großvater weitergegeben worden war.

Das Jagdbündel gehörte zu den vier Bündeln, das ihnen einst, vor langer Zeit, von der Eulenfrau gegeben worden waren. Die Legende erzählte, dass damals ein kleines Mädchen von den Eltern geschimpft worden war. Die Eltern hatten gedroht, dass sie es aus dem Wigwam schicken würden, wenn es nicht aufhörte zu weinen, und dann die Eule käme, um es zu holen. Eines Tages warf die Mutter das Kind tatsächlich aus dem Wigwam und rief mit lauter Stimme: „Eule, sieh her, ich schenke dir dieses Kind!“ All die anderen Eulen hörten dies und sagten zu der Eule: „Warum nimmst du das Mädchen nicht zu dir? Schließlich hat man es dir geschenkt!“ Die Eule brachte also das kleine Mädchen zu ihrer Höhle, die in einem Baumstamm war, und versorgte es mit Blaubeeren. Sie hatte sogar eine kleine Schüssel, damit das Kind essen konnte. Es blieb dort vier Jahre, aber die Zeit erschien nur wie ein Jahr. Dann beschloss die Eule, das Kind zurückzuschicken. Sie fertigte vier Bündel aus Eichhörnchenfell an und steckte in jedes eine bestimmte Substanz mit magischer Kraft.

Dann band sie die Bündel mit farblich verschiedenen Bändern zu, damit man sie unterscheiden konnte. Das Bündel mit dem roten Band enthielt Liebesmedizin, das Bündel mit dem gelben Band machte den Träger zum Empfänger wertvoller Geschenke, das mit dem schwarzen Band enthielt Jagdmedizin und das letzte ohne eine bestimmte Farbe enthielt Glück beim Spiel. Das Kind war inzwischen ein junges Mädchen und die Eule lehrte es die Lieder, die zu jedem Bündel gesungen werden mussten, damit sie wirksam waren. Die Eule brachte das Mädchen zurück zu seinem Dorf und öffnete das Bündel mit der Liebesmedizin, damit es willkommen geheißen wurde. Zum ersten Mal zeigte sich die Eule kurz in ihrer wahren Gestalt und verwandelte sich dann wieder in die Gestalt einer Großmutter zurück. Es war das erste Mal, dass das junge Mädchen erkannte, dass es die ganze Zeit bei einer Eule gelebt hatte. Das Mädchen kehrte in sein Dorf zurück und wurde von der Mutter herzlich willkommen geheißen. „Wo bist du nur all die Zeit gewesen?“, fragte sie besorgt. – „Ich war bei einer alten Frau!“, erzählte das junge Mädchen. „Und sie gab mir zum Abschied diese Geschenke!“

Machwao sang das Lied zu Ehren der gehörnten Eule: Koko’ko e, Koko’ko e mo na me he weto’katowuk wa ha a … a … a … me ye hi a weto’katowuk wa a a … Dann sang er seine eigenen Lieder, die er geträumt hatte, und bot dem Eulengeist eine Schüssel mit Essen dar. Sorgfältig bemalte er sein Gesicht mit der schwarzen Farbe, die sich in dem Bündel befand. So war er für die Jagd bestens vorbereitet.

* * *

Am Morgen brach Machwao schon früh auf. Sein Freund Awässeh-neskas lief im ausdauernden Trab neben ihm her. Der Schnee knirschte unter den Schneeschuhen und vor ihren Gesichtern bildeten sich kleine Wolken, wenn sie den Atem ausstießen. Es war bitterkalt und die Flüsse und Seen begannen bereits zu gefrieren. Die beiden Männer bewegten sich durch die weiß-graue Landschaft. Sie wählten einen Weg durch den Wald, da hier der Schnee nicht ganz so hoch liegen würde. Manchmal kamen sie über Lichtungen, die völlig im Schnee versunken waren. Machwao deutete auf einige Spuren, die im Schnee gut zu sehen waren. „Hier sind Hirsche vorbeigekommen!“

Awässeh-neskas nickte. „Sie sind nahe bei unserem Dorf. Vielleicht sollten wir den Spuren folgen. Die Biber werden auch noch morgen in ihrem Bau sein.“

Machwao schätze ab, wie alt die Spuren waren, und entschloss sich, dem Rat des Freundes zu folgen. „Gut, lass uns den Spuren folgen.“

Frisches Fleisch war nicht zu verachten. Dabei war es schon reichlich spät, weit nach Sonnenaufgang und somit nicht die beste Zeit, um Hirsche zu jagen. Eine Taktik war, sie bei Dunkelheit mit einer Fackel anzulocken, ähnlich wie sie auch die Fische jagten, aber dafür war es zu hell. Wenn die Suche nach den Hirschen erfolglos blieb, konnten sie immer noch den Biberbau aufsuchen. Sie folgten den Spuren über einen kleinen bewaldeten Hügel und kamen bald ins Keuchen, denn der Anstieg in den Schneeschuhen war kraftzehrend. Auf der anderen Seite schlängelte sich ein kleiner Bach durch das Tal, der noch nicht zugefroren war. Einige Hirsche standen dort und hatten mit ihren Hufen den Schnee zur Seite geschoben.

Machwao nickte seinem Freund zu und zeigte mit seinen Händen an, dass er sich von der anderen Seite an die Hirsche heranschleichen und sie dann in die Richtung von Awässeh-neskas treiben würde. Sein Freund war bereits erschöpft und er wollte ihn ein wenig schonen. Awässeh-neskas nickte mit zusammengepressten Lippen, hatte aber keine Einwände. Er duckte sich in den Schatten einiger Eschen und machte das Zeichen, dass er warten würde.

Machwao umging die Lichtung in einem weiten Bogen. Mit Schneeschuhen wäre es unmöglich, sich nahe genug an die Hirsche heranzuschleichen, um in Pfeilschussnähe zu gelangen. Aber er konnte dafür sorgen, dass sein Freund einen gezielten Schuss abgab. Mit ein bisschen Unterstützung der Geister würden die Hirsche nur langsam vor ihm ausweichen. Er musste verhindern, dass sie in Panik davonstoben, denn dann konnte auch Awässeh-neskas keinen gezielten Schuss abgeben. Behutsam pirschte Machwao durch den Schnee. Er brauchte eine ganze Weile, um das Tal zu umgehen.

Schließlich näherte er sich von der anderen Seite des Tals und gab sich dabei keine große Mühe, Geräusche zu vermeiden. Hirsche waren neugierig und so klapperte er leicht mit seinem Köcher, während er behutsam und langsam in Richtung der Tiere ging. Sein Plan war gut, aber die Wirklichkeit sah oft anders aus, denn irgendetwas erschreckte die Hirsche so, dass sie in weiten Sprüngen davonstoben. Sie liefen tatsächlich in Richtung des Freundes, aber Machwao konnte nicht erkennen, ob es ihm gelungen war, einen Schuss abzugeben. Jetzt konnte man es ohnehin nicht mehr ändern. Im leichten Trab lief er über die Lichtung und erreichte wenig später seinen Freund. Der lag schwer atmend im Schnee und versuchte gerade, sich wieder hochzurappeln. „Was ist passiert?“, keuchte Machwao besorgt.