Retourkutsche

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Jules fuhr ungerührt fort: »Was passiert ist, lässt sich nicht ungeschehen machen, meine Herren. Und in der Vergangenheit herumzuwühlen, bringt meiner Meinung nach nichts. Ich übernehme Ihren Auftrag und operiere gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, weil auch ich der Meinung bin, diese so kriegerische Nation muss für ihr dauerhaft aggressives Verhalten während den vergangenen vierzig Jahren endlich einmal einen kräftigen Tritt in den Hintern bekommen. Doch alles Weitere, vor allem Ihre privaten Befindlichkeiten, gehen mich nichts an. Sie sollten sie in Ihrem eigenen Interesse ein für alle Mal ruhen lassen.«

*

Auf der Fahrt von Genf zurück in sein Haus bei La Tour-de-Peilz klingelte sein Handy. Jules Lederer warf einen Blick auf die Anzeige und meldete sich dann über die Freisprechanlage seines Wagens: »Hallo Schatz. Ich bin bereits auf dem Rückweg. In einer knappen Viertelstunde werde ich bei dir eintrudeln, falls in Ecublens ausnahmsweise mal kein Stau ist.«

»Hallo Liebling«, meldete sich die dunkle Stimme mit dem sinnlichen Timbre seiner Ehefrau über den Lautsprecher, ergänzte diese Begrüßung nach einer Sekunde des Abwartens mit einem kurz und scharf ausgesprochenen »So?«, wartete anschließend auf seine Antwort.

Alabima war Äthiopierin aus dem Stamm der Oromo. Sie und Jules hatten sich 2007 kennen und lieben gelernt. Sie kehrte mit ihm zurück nach Europa, ein knappes Jahr später kam ihre Tochter Alina zur Welt. Das Familienglück der Lederers wurde vom mittlerweile neunzehn Jahre alten Chufu komplettiert. Er war ein philippinischer Waise und Jules hatte ihn auf einem seiner Abenteuer als aufgeweckten, wissbegierigen Jungen erlebt. Alabima und Jules entschlossen sich, ihm den bestmöglichen Start ins Erwachsenenleben zu verschaffen, hatte ihn zu diesem Zweck vor zwei Jahren adoptiert.

Das Leben als Patchwork-Familie verlief allerdings nicht immer so harmonisch, wie in den letzten Monaten. Einmal wurde es auf eine äußerst harte Probe gestellt, als die Familie aufs Höchste bedroht schien. Alabima entschloss sich damals, mit ihrer Tochter zusammen Jules und Chufu zu verlassen, wollte ganz einfach Abstand zu diesem Leben voller Furcht und Ungewissheit gewinnen. Doch ihr wurde damals, in den Wochen der Trennung, rasch einmal bewusst, wie sehr sie Jules liebte. Daran konnten auch die manchmal gefährlichen Momente nichts ändern. Aber sie schwor sich, von nun an ständig auf der Hut zu bleiben und rechtzeitig einzuschreiten, falls ihr Ehemann wieder einmal seinen Hals zu weit in eine Schlinge stecken sollte. Darum war Jules keineswegs erstaunt, bereits auf der Rückfahrt von diesem recht mysteriösen Termin in Genf von seiner Ehefrau zu hören.

Hinter einer so kurzen Frage wie So? konnte unglaublich viel stecken. War es ein forscher Überfall, um ihm keine Möglichkeit der Ausflucht zu geben? Oder eher ein vorsichtiges Herantasten, das voller Hoffen und Bangen war? Vielleicht enthielt es auch eine gehörige Portion Misstrauen, seine Antwort könnte bloß ablenken und sollte beruhigen? Auf jeden Fall zeigte das Wort aber die innere Stärke seiner Lebenspartnerin und dass sie nicht so leicht von ihren Standpunkten abrücken würde. Und diese ließen sich auf einen recht einfachen Nenner bringen. Die Familie ging vor.

Jules musste innerlich Schmunzeln, denn das so? von Alabima erinnerte ihn auch an eine Nummer des Schweizer Kabarettisten Emil Steinberger. Dieser hatte einige Jahre in New York City verbracht und war dann in die Schweiz zurückgekehrt. In einer seiner Geschichten erklärte er dem Publikum, wie man in den USA in einem guten Restaurant begrüßt und umsorgt wird. Das beginnt schon an der Eingangstüre, die einem von einem Mitarbeiter offengehalten wird. Ein anderer Angestellter nimmt einem den Mantel ab. Ein dritter führt einen zum Tisch. Der vierte nimmt die Bestellung des Aperitifs auf, bringt ihn wenig später. Danach folgt der Auftritt der Kellnerin, die einem die gesamte Speisekarte auswendig herunterleiert und auch umfassend über die Empfehlungen des Küchenchefs für den heutigen Tag aufklärt. Nach der Wahl der Speisen berät sie einem selbstverständlich auch über die passenden Weine. Doch eine Woche später fliegt man nach Zürich, geht dort in ein nobles Restaurant, sucht sich selbst einen freien Tisch, setzt sich, wartet auf den Kellner, der nach etlichen Minuten endlich daherkommt und mit einer etwas abfälligen Mine zum Gast sagt: »So?«

Doch der Anflug von Humor verschwand so rasch aus Jules Gesicht, wie er hineingeraten war. Denn es wurde Zeit, seiner Lebenspartnerin die Annahme des Auftrags zu beichten.

»Es geht um eine wirklich wichtige und brisante Angelegenheit, Alabima«, begann er mit viel Ernst in der Stimme. Aus den Lautsprechern seines Wagens erhielt er als Antwort ein enttäuschtes Seufzen seiner Frau.

»Ich hab dir doch bereits vor zwei Jahren von der Erpressung der obersten Führung der Großbank durch die CIA erzählt und auch vom Einschleusen mehrerer ihrer Agenten, die als Kundenberater Straftaten begehen sollten, um auf diese Weise die Bank in den USA erpressbar zu machen?«

Auf der anderen Seite der Leitung blieb es stumm und Jules wertete die Stille als Zustimmung.

»Einige Bankiers aus der Schweiz möchten den USA für den Angriff auf das Bankkundengeheimnis einen gehörigen Denkzettel verpassen. Und ich will ihnen dabei helfen.«

Nicht eingeweihte Zuhörer dieses so offen geführten Gesprächs wäre es sicher seltsam erschienen, warum Jules, sonst stets auf Verschwiegenheit und Sicherheit bedacht, bei diesem Telefonat mit Alabima völlig frei über den neuen Auftrag sprach. Doch Familie Lederer leistete sich nicht nur ein abhörsicheres Haus, das nach jedem Besuch eines Handwerkers durch eine Detektei aus Genf auf Wanzen überprüft wurde. Ihre Gespräche zwischen dem Wohnhaus und ihren Fahrzeugen wurden zudem verschlüsselt und über sichere Satellitenverbindungen übertragen. GSMK CryptoPhones sorgten dafür, dass nur wenige Geheimdienste auf der Erde ihre Gespräche belauschen und mit viel Aufwand entschlüsseln hätten können. Angesichts von zehntausenden solcher Gespräche jeden Tag war die Wahrscheinlichkeit jedoch mehr als gering. Um aber auch lokalen Richtmikrophonen auszuweichen, fabrizierten alle ihre Fahrzeuge bei Anrufen fortwährend elektronische Störgeräusche, die auch dem fähigsten Tontechniker den letzten Nerv rauben konnten.

Alabima erwiderte am anderen Ende der Leitung jedoch weiterhin nichts. Darum fuhr Jules mit seiner Rechtfertigung fort.

»Ich soll Verbindungen zwischen amerikanischen Regierungsstellen und dem organisierten Verbrechen aufdecken und dafür stichhaltige Beweise sammeln. Die Bankiers möchten nichts weniger, als dem scheinheiligsten Moralapostel der Welt kräftig auf die Finger klopfen. Ich finde, die Amis haben sich diese Abreibung in den letzten paar Jahrzehnten mehr als verdient. Darum habe ich den Auftrag angenommen.«

Eine ganze Weile lang blieb es still. Dann meldete sich Alabima endlich. Ihre Stimme klang angespannt, aber gefasst.

»Und wie gefährlich wird er diesmal werden?«

Jules hatte die Frage erwartet.

»Wahrscheinlich überhaupt nicht. Ich will bei diesem Projekt nämlich gar nicht persönlich in Erscheinung treten, sondern eher im Hintergrund bleiben, bloß die Operationen leiten und koordinieren. Die eigentliche Arbeit vor Ort werden andere erledigen.«

Alabima bewies Jules einmal mehr ihr großes Vertrauen in sein Urteilsvermögen, auch wenn sie ihren Ehemann immer wieder als einen viel zu positiv denkenden, ja manchmal geradezu närrisch naiven, Menschen erlebte. Ihrer Meinung nach empfand Jules die meisten Probleme bloß als neue Herausforderungen, die man dank klugem Vorgehen überwinden konnte.

»Na gut. Lass uns darüber reden, wenn du zurück bist. Ich sehe dich also in etwa zehn Minuten?«

»Yep.«

Trotz diesem recht friedlichen Ende des Gesprächs fühlte Jules ein flaues Gefühl in der Magengegend. Hatte er womöglich Bammel davor, seiner Frau unter vier Augen die Tragweite des Auftrages zu erklären? Sich ihrem forschenden Blick auszusetzen? Ihre bohrenden Fragen zu beantworten? Oder fürchtete er sich nicht eher vor der etwas leichtfertig übernommenen Aufgabe, deren Risiken und möglichen Konsequenzen er nicht wirklich abschätzen konnte?

Jules machte sich nichts vor. Den Behörden der USA illegale Tätigkeiten nachzuweisen, das war auf jeden Fall eine gefährliche Angelegenheit und äußerste Vorsicht geboten.

*

Detective Sergeant Luke Dasher vom siebten Bezirk las den Autopsie-Bericht über den erschossenen jungen Mann in der Quergasse zur Attorney Street. Hank Publobsky hieß der Siebenundzwanzigjährige. Er war mit achtzehn aus der Ukraine in die USA migriert und hatte zuletzt in einer Filiale von Barnes & Noble als Verkäufer gearbeitet. Insgesamt zählte der Gerichtsmediziner neben verschiedenen Prellungen und Abschürfungen und einem Streifschuss vier tödliche Wunden auf, ein Schuss ins Gesäß mit Austritt am Schlüsselbein, zwei Kugeln direkt in den Kopf und ein eingedrückter Hinterkopf, Folge eines Sturzes aus mehreren Metern Höhe.

Luke Dasher war vor drei Tagen am Tatort gewesen. So stand für ihn fest, dass dieser Publobsky versucht hatte, seinen Mördern über die Feuerleiter zu entkommen, war von ihnen jedoch von unten abgeschossen worden. Dass zumindest zwei verschiedene Waffen an der Tat beteiligt waren, stellte der Vergleich von zwei gefundenen Projektilen sicher. Es waren Handfeuerwaffen mit dem Kaliber 44, das beliebteste und häufigste in den USA, in der Unterwelt genauso, wie bei den Polizeikräften oder der Armee. Doch warum sollte ein kleiner Buchverkäufer den Zorn einer dieser drei Gruppen geweckt haben?

Natürlich waren im Bericht auch die gefundenen Amphetamine aus der Brusttasche des Toten aufgeführt. Ihr Straßenverkaufswert betrug wenige hundert Dollar. Dafür wurde niemand umgebracht, auch nicht in Manhattan.

 

Für Detective Sergeant Dasher war eines klar: hier hatten professionelle Mörder einen Auftrag erledigt. Nur so waren die beiden Kopfschüsse auf einen am Boden liegenden, zumindest schwer verletzten Menschen zu erklären. Raubmord oder gar ein Beziehungsdelikt konnte Dasher von Anfang an ausschließen.

Sollte er diese Akte wie viele andere ein paar Wochen lang herum liegenlassen und danach als unlösbaren Fall abschließen? Oder sollte er sich der Sache doch etwas stärker annehmen? Dasher wankte, dachte an den Berg von anderen Fällen, vom bewaffneten Raubüberfall bis zum Einbruch in die Stadtwohnung eines Senators, für die er noch Berichte schreiben musste.

Ein völlig unwichtiger Mensch war aus dem Leben befördert worden. Das Motiv war nicht offensichtlich und die Befragung der Anwohner der Gasse durch die Police Officers hatte keinerlei Hinweis ergeben. Es schien kaum Anhaltspunkte für eine weiterführende Untersuchung zu geben. Höchstens in der Person des Toten selbst.

Doch womit konnte ein Buchverkäufer von Barnes & Noble die Wut von Profikillern erregt haben?

Hatte er ihnen die falsche Lektüre angedreht?

Der Detective Sergeant fischte sich die Fotos der Leiche und des Tatorts aus dem Aktendeckel und breitete sie auf seinem Pult aus. Auf einem war das Gesicht des Toten in einer Nahaufnahme zu sehen. Die beiden hässlichen, dunklen Löcher in seiner Stirn störten. Die Augenlider von Publobsky standen offen und die blaugrünen, matten Pupillen des jungen Mannes starrten ins Nichts, schienen dort selbst nach der Antwort für den Mord zu suchen.

Dasher hatte sich entschieden. Er würde ein paar Stunden seiner stets knappen Zeit in diesen Fall investieren und einige Nachforschungen anstellen. Vielleicht ergab sich doch noch ein Anhaltspunkt? Wahrscheinlich aber verlief der Fall eh im Sand.

*

Genau eine Woche nach der Unterredung in Genf traf Jules Lederer auf dem Nassau International Airport auf den Bahamas ein. Er war über London und Miami angereist. Henry Huxley, sein guter und langjähriger Freund, war in London in dasselbe Flugzeug zugestiegen. Doch da Jules wie vereinbart Business und Henry Economie flogen, hatten sie sich nur kurz beim Umsteigen in Miami und nur von Weitem erblickt. Keiner der beiden Männer hatte dabei eine Regung gezeigt, so als wären sie sich völlig fremd.

Jules hatte Henry und Toni Scapia zu einem Meeting auf die Bahamas gebeten. Da Jules ab und zu von Geheimdiensten begleitet wurde, hatte er für das Treffen höchste Sicherheit vorgesehen. Kaum jemand kannte bislang seine persönlichen Beziehungen zu Huxley und Scapia. Und das sollte auch weiterhin so bleiben.

Toni Scapia, ein Millionärssohn und erfolgreicher Geschäftsmann aus Florida, kannte Jules seit einigen Jahren. Sie hatten sich bei einem internationalen Treffen von britischen und amerikanischen Mitgliedern der Freimaurerloge kennengelernt. Beide erkannten damals rasch ihre ausgeprägte Affinität für Abenteuer und Rätsel, fanden sich zudem sympathisch und hatten sich seither einige Male bei ihren Projekten unterstützen können.

Toni war Ende dreißig, Jules Mitte vierzig und der dritte im Bunde, Henry Huxley, hatte sein fünftes Jahrzehnt mit Sicherheit schon vor einiger Zeit angetreten.

Henry war der typische britische Gentleman, recht groß, schlank und ausgesprochen drahtig. Henry trug in seinem meist ernst blickenden Gesicht einen angegrauten, kurz geschnittenen Schnauzer. Man konnte sich ihn gut als pensionierten britischen Offizier vorstellen, wie er an der Spitze einer kleinen Gruppe von Verwegenen den Hindukusch für sein Königreich eroberte, in der linken Hand die Zügel seines Reitpferdes, in der rechten eine Webley Mk VI.

Jules und Henry verließen den Flughafen auf getrennten Wegen, wobei Henry rasch ein Taxi bestieg und zu seinem Hotel am Hafen fuhr, während Jules erst noch seine Alabima in der Schweiz anrief, um ihr die problemlose Ankunft in Nassau mitzuteilen.

Am nächsten Morgen bestieg Jules mit der ausgeliehenen Taucherausrüstung ein ebenso gemietetes Segelboot, tuckerte mit dem Hilfsmotor aus dem Hafen, setzte draußen auf See das Vorsegel und das Hauptsegel und steuerte auf direktem Weg die Steilwandtauchgründe von Paradise Island an.

Henry traf sich zu diesem Zeitpunkt mit Toni am Hafen.

Scapia sah wie der geborene Sonnyboy aus, immer heiter und gut gelaunt mit einem breiten Lächeln im Gesicht, sportlich und selbstverständlich stets braun gebrannt. Man sah ihm den genießenden Lebemann an, hätte hinter seiner mittelhohen Stirn nie den cleveren Geschäftsmann und harten Verhandlungspartner erwartet. Doch das war der Mann aus Miami tatsächlich. Stets von Gegnern und von Partnern unterschätzt zu werden war sein Geheimnis für den außergewöhnlichen Erfolg.

Henry und Toni waren sich zuvor noch nie begegnet, hatten jedoch ihre Fotos über eine sichere Internetverbindung ausgetauscht. Ihr Händedruck war kräftig und kurz, sie nickten sich zu und klopften sich wie alte Bekannte auf die Schultern. Dann lud Toni den Briten auf sein Schnellboot ein, das er von Miami aus über die See bis hierhin gesteuert hatte. Es war seine neue Sunseeker XS Sport, ausgestattet mit zwei 410 kW starken MerCruiser Benzinmotoren und damit fast 150 Kilometer pro Stunde schnell. So schmolz die Fahrt von Florida bis auf die Bahamas auf wenige Stunden zusammen Das Boot verfügte über keinen großartigen Komfort, sah man von den bequemen, weißen Ledersitzen ab, die dem Steuermann und seinem Co-Piloten selbst bei starker Beschleunigung sicheren Halt boten.

Toni und Henry hatten das Auslaufen von Jules Segelboot ohne Interesse zu zeigen beobachtet, hantierten ihrerseits noch eine gute Viertelstunde lang an Bord herum, wobei der Amerikaner dem Briten die Funktionsweise des Schnellbootes zu erklären schien. Unterbrochen wurden die Ausführungen von Toni einzig durch das Einschenken eines vorzüglichen Whiskeys, einem über vierzig Jahre alten Glan Garioch Single Malt, den Huxley mitgebracht hatte.

Dem Zuprosten, genießerischen Riechen und dem erwartungsvollen Nippen am Glas folgten Sekunden des andächtigen Schweigens. In der Nase hatte sich zuvor eine wahre Schlacht zwischen Torf und Sherry Düften entfaltet, am Gaumen verband sich geschmolzene Schokolade mit süßem Torf, darin fanden sich Einschlüsse von Kirschen und Vanille.

Jules hatte vor der Bucht Anker geworfen und sich die Taucherausrüstung angezogen. Er war längst in den Tiefen der See verschwunden. Erst Minuten später tauchte das Schnellboot von Toni Scapia hinter einer Landzunge auf und fuhr langsam an der Küste entlang. Henry und Toni schienen etwas an Land zu suchen, blickten angestrengt in Richtung Ufer. Für Jules hatten sie eine Leine mit einem daran befestigten Gewichtsstein auf der Seeseite ausgeworfen. Der Schweizer packte sie in zwei Metern Tiefe, ließ sich mit dem Motorboot eine kurze Strecke lang mitschleppen, zog sich dann an den Knoten im Tau rasch an Bord.

Ein Zuschauer hätte es sicher als großen Trick gewertet, dass ein Taucher die ausgeworfene Leine eines vorbeifahrenden Bootes im Wasser ansteuern und ergreifen konnte. Doch im Zeitalter des GPS war dieser Trick kein wirkliches Kunststück mehr und die exakte Einhaltung eines zuvor vereinbarten Weges zwischen zwei definierten Punkten kein Hexenwerk.

Jules zog sich Taucherbrille und Kopfschutz ab, zeigte ein breites Lächeln voller Freude, schüttelte Henry herzlich die Hand, während Toni das Boot auf die offene See steuerte und das Tempo langsam erhöhte. Wenig später flogen sie über die Wellenkämme dahin, erreichten rasch mehr als sechzig Knoten.

Jules hatte sich neben Scapia ans Ruder gestellt, ihm zur Begrüßung leicht und freundschaftlich auf die Schulter geklopft. Der Amerikaner grinste ihn freudig an, behielt seine Hände jedoch am Steuerrad. Henry reichte Jules und Toni die bereitgelegten Headsets und endlich konnten sich die drei trotz Motorengeheul miteinander unterhalten.

»Vielen Dank, dass ihr Zeit gefunden habt«, begann Jules ihr Meeting auf hoher See.

»Jederzeit, mein Freund«, meinte Toni.

»Wer kann schon einem Ausflug auf die Bahamas widerstehen, mitten im europäischen Winter«, warf Henry ein, »doch warum diese Vorsicht? Ist sie nicht etwas übertrieben, Jules?«

»Es geht um einen äußerst delikaten Auftrag, den ich letzte Woche angenommen habe. Und ich hoffe, ihr beide macht mit, wenn ihr erst einmal die Details und die Hintergründe kennt.«

Weder Toni noch Henry antwortete, was Jules als Aufforderung verstand, weiterzusprechen.

»Ich soll für eine Interessengruppe in der Schweiz die Regierungsbehörden der USA bloßstellen, vor allem die amerikanischen Geheimdienste.«

Toni sah Jules kurz von der Seite her an, hatte seine Stirn dabei krausgezogen. Man sah ihm an, dass ihm eine scharfe Entgegnung auf der Zunge lag, sie jedoch aus Freundschaft zu Jules noch zurückhielt. Henry starrte dagegen, ohne eine Regung zu zeigen weiterhin über den Bug des Bootes hinaus auf die weite See.

»Es geht dabei nicht um den Verrat von Geheimnissen, welche die nationale Sicherheit der USA betreffen könnten«, erklärte Jules den beiden nun, »es geht einzig darum, Beweise für illegale und verfassungswidrige Tätigkeiten sicherzustellen und dabei die Verbindungen der amerikanischen Regierung und ihren Behörden zur Unterwelt und möglicherweise zu Terror-Organisationen aufzuzeigen.«

»Und was bezweckt diese Interessengruppe damit?«, fragte Toni mit einem Seitenblick auf Jules.

»Sie will sich mit einer Veröffentlichung der Beweise für den Angriff auf das Bankkundengeheimnis in der Schweiz rächen.«

»Eine Retourkutsche? Und da machst du mit, Jules?«

Der Missmut war in der Stimme Toni Scapias nicht zu überhören.

»Es ist nicht bloß eine Retourkutsche, Toni. Es geht auch nicht gegen das amerikanische Volk, das ich für seinen Mut, sein Streben nach Freiheit und dem persönlichen Glück noch immer sehr bewundere. Es geht einzig und allein gegen den Missbrauch von Macht, gegen die Feinde des wirklichen amerikanischen Geistes, gegen all jene, die eure Verfassung seit vielen Jahren mit Füßen treten und die parlamentarische Aufsicht bewusst umgehen. Die wirklichen Feinde der USA sind mein Ziel. Nur aus diesem Grund habe ich den Auftrag angenommen. Denn die Behörden der größten und mächtigsten Nation der Welt dürfen sich nicht länger außerhalb aller demokratischer Kontrollen bewegen und willkürlich Gesetze brechen.«

Toni dachte über die Worte seines Freundes aus der Schweiz nach. Dann gab er sich einen Ruck.

»Also gut, Jules. Du weißt, dass ich dich und deine Meinung schon immer hochgeschätzt habe. Aus diesem Grund vertraue ich dir auch in dieser Sache. Fahr bitte weiter.«

Mit einem kurzen Seitenblick auf Henry versicherte sich Jules auch dessen Zustimmung. Der Brite wirkte angespannt, ähnlich einem Jagdhund, der genau spürte, dass er bald von der Leine gelassen wurde und sich auf die Hatz eines Wildes freute.

»Von der Interessengruppe in der Schweiz habe ich als Basismaterial für unsere Untersuchungen die Daten zu einigen hundert dubiosen Geldzahlungen erhalten. Es sind Überweisungen von amerikanischen Unternehmen an ausländische Firmen, deren Höhe stutzig machen und deren mögliche Hintergründe sehr vage sind. Wenn, wie in einem Fall, eine unbekannte Briefkastenfirma in Delaware 750’000 Dollar an eine kleine Spenglerei auf Antigua überweist, dann ist dies schon recht seltsam, vor allem, wenn man weiß, dass die Spenglerei in Wahrheit in einem Einfamilienhaus am Stadtrand von Saint John’s firmiert ist und über keinerlei Werkstatt verfügt.«

»Du sprichst von Geldwäscherei?«, warf Henry nun ein.

»Möglicherweise. Vielleicht steckt aber auch mehr dahinter. Denn die Post dieser Briefkastenfirma in Delaware wird an eine Adresse in New York weitergeleitet, an eine zwei Zimmer Wohnung in SoHo. Im selben Haus wohnt zufälligerweise ein Mitarbeiter des CIA, früher ein hochrangiger Agent im Außendienst.«

Toni und Henry blickten Jules fragend an, der in ihrer Mitte stand.

»Und was sollen wir da noch zusätzlich herausfinden? Wer die Briefkästen in New York und Saint John’s leert, oder was?«

Jules schüttelte den Kopf.

»Ich will herausfinden, wie oft und zu welchen Zwecken diese Zahlungen fließen, woher sie kommen und wer ihr endgültiger Empfänger ist. Und ich will dazu stichhaltige Beweise sammeln, Dokumente mit Unterschriften, welche die Federführung der US-Behörden eindeutig machen. Der Welt soll bewiesen werden, wie wenig sich die Geheimdienste der USA an Recht und Gesetz halten und wie sehr ihr Tun von der Administration in Washington nicht nur gedeckt, sondern unterstützt wird.«

 

Henry bewies mit drei kurzen Fragen, wie genau er verstanden hatte.

»Wie willst du vorgehen? Wie sieht deine Terminplanung aus? Und wie steht es mit den Finanzen?«

Jules Lederer musste über die militärisch knappe Aufzählung der Problemkreise lächeln. Er hatte nichts anderes vom Briten erwartet.

»Wir sollten am Anfang zweigleisig vorgehen. Dabei ist das Aufdecken des Netzwerks an Briefkastenfirmen in den USA und in der Karibik ein vordringliches Ziel. Denn vor allem darüber dürften illegale Gelder gewaschen und an die wirklichen Empfänger weitergeleitet werden. Und wir müssen den Ursprung des Geldes feststellen, auch in welcher Höhe und auf welchen Wegen sie den Behörden der USA zugeleitet werden. Irgendwo werden sich die Geldströme dabei treffen und so eine beweisbare Verbindung herstellen. Vielleicht können wir hinterher auch der tatsächlichen Verwendung der Gelder nachspüren und auf diese Weise Verbindungen zu Terrorakten oder Bürgerkriegen aufdecken.«

»Denkst du bei der Mittelbeschaffung vielleicht an Mexiko und ihrem seit Jahren tobenden Drogenkrieg, an dem auch die US-Industrie mit jährlichen Waffenlieferungen in Milliardenhöhe mitverdient?«, die Stimme von Toni drückte echte Besorgnis aus, »über die Entwicklung an der Südgrenze der USA mache ich mir, aber auch einige meiner Freunde schon seit längerer Zeit unsere Gedanken. Die Drogenkartelle in Mexiko haben längst jeden Skrupel abgelegt, bekämpfen mittlerweile die Staatsorgane völlig offen, scheinen sich mächtig genug zu fühlen, um selbst die mexikanische Regierung unter Druck zu setzen.«

»Ja, der Drogenschmuggel aus Mexiko ist mit Sicherheit eine der wichtigen Geldquellen in diesem dreckigen Spiel«, stimmte Jules seinem Freund sofort zu, »denn ohne Unterstützung der amerikanischen Behörden wären die riesigen Mengen an Drogen kaum über die Grenze in die USA zu schaffen. Und diese Hilfe dürften sich die Geheimdienste von den mexikanischen Drogenbossen fürstlich bezahlen lassen. Denn wenn saudi-arabische Terroristen in irgendwelchen Berghöhlen in Afghanistan von den US-Geheimdiensten aufgespürt werden können, dann müssten sie doch mit Leichtigkeit hier, direkt an ihrer Grenze, das Böse erwischen können, wenn sie nur wollten. Eventuell könnten wir zusätzlich auch noch in Kolumbien, Ecuador oder Venezuela Ansatzpunkte für die illegale Tätigkeit der US-Geheimdienste finden?«

»Und wer soll welches Aufgabengebiet übernehmen?«

Huxleys Gesicht verriet eine innere Erregung. Unter der kühlen und geschäftsmäßig wirkenden Oberfläche war seine Abenteuerlust erwacht. Es gab neue Geheimnisse, man wollte sie gemeinsam aufdecken, dafür benötigte man brauchbare Pläne.

»Ich möchte dich bitten, Henry, in Mexiko tätig zu werden. Du hast mir mal erzählt, dass du früher in diesem Land einige Zeit gearbeitet hast. Du könntest einen Weg finden, um an die Daten der Drogenbosse zu gelangen, an Informationen über Bestechungen von Behörden zum Beispiel oder dem Geldfluss. Vielleicht musst du dazu ein eigenes Team aufstellen oder gar Bandenmitglieder vor Ort kaufen, falls möglich. Denk dir etwas in diese Richtung aus.«

Huxley nickte zu den Worten von Lederer, so als wenn der ihm eine Einkaufsliste diktiert hätte, deren Inhalt er im nächsten Tankstellenshop bequem besorgen konnte.

Toni Scapia meldete sich nun zu Wort.

»Und ich soll wohl den Maulwurf in Delaware und Nevada spielen, ein paar Fäden ziehen und hoffen, dass sich in einem immer dichter gewobenen Netz einige Schmeißfliegen verfangen?«

Jules und Henry lachten über die blumige Beschreibung des Amerikaners laut auf.

»Genau, mein lieber Toni, du sollst die Spinne sein, die mit ihrem Nachwuchs ein Netz aufzieht, in dem sich möglichst fette Beute verfängt und verheddert. Denn wenn eine Bombe in Bogota hochgeht, dann hat vielleicht irgendjemand in Washington den Sprengstoff dafür bezahlt. Und das Geld dafür hat bestimmt nicht der US-Kongress bewilligt, jedenfalls nicht offiziell.«

»Und wie sieht dein Zeitrahmen aus, Jules? Eine solche Operation ist nicht von heute auf morgen in Gang zu bringen.«

Henry wollte den zweiten Punkt auf seiner Liste dringend abhaken.

»Wir müssen die Dinge sehr vorsichtig angehen und uns genügend Zeit lassen. Ihr selbst müsst bestimmen, wie rasch ihr vorwärtskommen könnt. Ich habe mich für zwölf Monate, das heißt Bis Ende Jahr, verpflichtet. Spätestens im Dezember ziehen wir also endgültig Bilanz und entscheiden, ob ein Weitermachen sinnvoll ist.«

»Und die Finanzen?«

»Wir haben vorerst einen Betrag von fünfzig Millionen Schweizer Franken zur Verfügung.«

Toni pfiff durch die Zähne.

»Deine Interessengruppe scheint eine Stinkwut auf uns Amis zu hegen.«

»Nur auf einige Behörden, Regierungsstellen und Parlamentarier«, beschwichtigte Jules, »auf Leute, die im Wirklichkeit gegen all das Arbeiten, was die USA letztendlich ausmachen. Übrigens habe ich für euch Nummernkonten einrichten lassen. Hier habt ihr die Details und die Kennwörter dazu.«

Jules zog zwei beschriebene Visitenkarten unter dem Neopren-Anzug hervor und überreichte sie nach einem kurzen Kontrollblick an Henry und Toni.

»Es sind auf jedem zehn Millionen Dollar einbezahlt. Meldet euch, wenn ihr mehr benötigt. Und gebt mir bitte regelmäßig Bericht darüber, wie ihr vorankommt. Wir halten auf jeden Fall Verbindung untereinander. Auf dem üblichen Weg.«

Toni hatte vor der Bucht einen weiten Bogen gezogen und näherte sich wieder dem Segelboot von Jules, drosselte das Tempo merklich. Jules verabschiedete sich von seinen beiden Freunden, zog das Headset vom Kopf und die Kapuze und die Taucherbrille wieder über, setzte sich auf die Bordwand und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen.

*

Detective Sergeant Dasher suchte als erstes den Vermieter des Opfers auf. Dieser konnte nichts Negatives über den jungen Mann erzählen. Hank Publobsky war vor rund drei Jahren bei ihm eingezogen, bezahlte die Miete stets pünktlich und gab auch sonst keinerlei Anlass zu Reklamationen.

Als Dasher mit ihm zusammen die Wohnung des Ermordeten fünften Stock des schäbigen Mietshauses an der 5th Street untersuchte, bemerkte der Detective Sergeant, wie sich ganz am Ende des Flurs eine Türe nur einen Spalt weit öffnete und ein unruhiges Augenpaar ihn und den Vermieter musterte.

Die Durchsuchung der zweieinhalb Zimmer erbrachte nichts Neues. Hank Publobsky war womöglich der langweiligste Mensch, der in New York lebte. Sein Laptop mit Wireless Internetanschluss schien das Aufregendste im Leben des jungen Mannes gewesen zu sein. Vorsorglich nahm Dasher das Gerät mit. Die Jungs im Labor würden es nach Verwertbarem durchsuchen.

Zurück auf dem Flur verabschiedete sich Dasher rasch vom Vermieter, wandte sich dann um und ging mit strammen Schritten auf die zuvor geöffnete Wohnungstür zu, die im selben Moment ins Schloss gedrückt wurde. Der Detective ließ sich nicht beirren und drückte auf den Klingelknopf. Hernandez, stand auf einem schief angeklebten, fleckigen Zettel darunter.

Der Detective musste mehrmals Läuten und sein innerer Ärger wuchs mit jedem erneuten Betätigen der Türglocke. Endlich meldete sich dahinter eine weibliche, störrisch klingende Stimme.

»Was wollen Sie?«

»Ich bin Detective Dasher vom siebten Bezirk und habe ein paar Fragen an Sie. Bitte öffnen Sie.«