Antisemitismus – Heterogenität – Allianzen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

b) Begegnungen in der postnationalsozialistischen Gegenwart Berlins

Die Begegnung jüdischer und nicht-jüdischer Berliner*innen findet vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten auch in einer Gegenwart statt, die durch unterschiedliche aktuelle Bedeutungen des Nationalsozialismus und der Shoa mitbestimmt ist. Aufseiten der nicht-jüdischen Dominanzgesellschaft ist die Beziehung zu diesem Kontinuum überwiegend mit einer widersprüchlichen Geschichte der (familiären und gesellschaftlichen) Auseinandersetzung mit und Verdrängung von Schuld und Verantwortung verknüpft (vgl. Diner 2007, 7 ff.; Lepsius 1993; Welzer et al. 2002; Zick et. al. & EVZ 2020). Aus der Sicht unserer Gesprächspartner*innen resultieren daraus eine Reihe von Dissonanzen.

So erläutert ein*e Gesprächspartner*in, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa eine bestimmte Tradition der Verfolgung antisemitischer Straftaten entstanden sei, die er*sie als „Verobjektivierung des Antisemitismus-Schutzes“ bezeichnet: Holocaustleugnung und andere antisemitische Aussagen würden hierbei als Beleidigung geahndet, auch ohne dass konkrete Personen mit diesen Aussagen adressiert worden seien. Denn Jüdinnen*Juden, so der*die Gesprächspartner*in sarkastisch, seien „ja nicht da“ gewesen bzw. als Abwesende behandelt worden. So habe die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich vor sich selbst schützen wollen und dazu eine „empfindliche jüdische Ehre“ konstruiert. Umgekehrt wird von Gesprächspartner*innen auch die Begründung gegenwärtigen Engagements gegen Antisemitismus als Ausdruck historischer Verantwortungsübernahme problematisiert, weil dazu weit weniger als die Shoa Grund genug sein sollte: „Und da sag ich immer, entschuldige mal, es hat wenig mit der deutschen Geschichte zu tun, Menschen anständig zu behandeln. (lacht) Es, sagen wir mal, es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.“

Hier deutet sich an, dass das Engagement gegen aktuellen Antisemitismus für nicht-jüdische Deutsche aus der Dominanzgesellschaft die Funktion der ‚Gegenwartsbewältigung‘ im Rahmen des ‚Gedächtnistheaters‘ (Czollek 2018, 19 ff.) haben kann, in dem jüdische Einrichtungen und Personen für eine dem nicht-jüdisch-deutschen Begehren entsprechende Inszenierung von Versöhnung instrumentalisiert werden.

Eine solche Instrumentalisierung wird von Gesprächspartner*innen in ihrem Alltag wahrgenommen. Benannt wird etwa das Gefühl, in eine „Rolle reingedrückt zu werden“, und zwar in die „des sich fügenden Opfers“. Auch werden Gesprächssituationen so wahrgenommen, dass „any narrative [of the Holocaust, Anm. d. Verf.] that challenges the German narrative is unwelcome.“ So hätten nicht-jüdische Deutsche auf die Benennung baltischer Mörder*innen entgegnet, ausschließlich Deutsche (also weder Litauer*innen, noch Est*innen oder Lett*innen) könnten (Mit-)Verantwortung für den Holocaust tragen. Hier verkehrt sich die vielleicht positiv intendierte Verantwortungsübernahme für das von Deutschen der NS-Volksgemeinschaft und ihren Helfershelfer*innen begangene Verbrechen mit Blick auf die historischen Ereignisse in die Ausblendung von Kollaboration. Und in der angesprochenen Interaktion hat dies den Effekt, dass der*die nicht-jüdisch-deutsche Interaktionspartner*in den Nachfahren der Opfer abspricht, historische Umstände zu benennen und zu erforschen, die womöglich auch die eigene Familiengeschichte berühren.

Vor diesem Hintergrund wird auch die kritische Kommentierung der in jüngerer Zeit öffentlich vielfach geäußerten Sorge um „das Wegsterben von Zeitzeug*innen“ durch Gesprächspartner*innen verständlich. Der*die Gesprächspartner*in setzt dem entgegen: „Leute, dann nehmt doch mal ’ne kleine emotional-geistige Blutprobe und guckt euch das mal an, was da so in euch selber drin ist. Und da gibt es genug und es stirbt uns gar nichts weg.“ Aus dieser Perspektive wirke das Vergangene solange als ‚Wiederkehr des Verdrängten‘ (Bauriedl 1986) nach, wie psychosoziale Folgen über Generationen hinweg nicht „unter die Lupe genommen und wirklich bis ins Feinste ausgelotet“ worden seien.

Insgesamt plädieren Gesprächspartner*innen für mehr Konkretion in der Auseinandersetzung sowohl mit dem System des Nationalsozialismus und der Spezifik und Singularität der Shoa als auch den unterschiedlichen biografisch-familiären Bezügen zu dieser Geschichte. So sei es zwar „ein wichtiger menschlicher Moment“, wenn sich etwa bei Kindern und Jugendlichen über die Lektüre des Tagebuchs von Anne Frank10 ein „Identifikationsmoment“ einstelle, es müsse aber auch eine theoretische Auseinandersetzung geben und gefragt werden: „Naja, aber was ist das denn jetzt eigentlich, was den Holocaust ausmacht in seiner Einzigartigkeit. Worum geht’s da? Geht’s um sechs Millionen Tote? Geht’s um die Art und Weise, wie die […] ermordet worden sind?“ Betroffenheit, etwa auch über Gedenkstättenbesuche, herbeiführen zu wollen, könne laut dieses*r Gesprächspartner*in ohne differenzierte pädagogische Bearbeitung zur Lähmung der weiteren Auseinandersetzung führen: „Die heißt, dass man vielleicht nie wieder über Juden oder Jüdinnen redet und dass man nie wieder antisemitisch sein kann, obwohl man’s ist. Weil man nie verstanden hat, was Antisemitismus auszeichnet.“ Vielmehr sei, so ein*e andere*r Gesprächspartner*in, einerseits die konkrete Betrachtung der eigenen Familiengeschichte, „das genaue Hingucken und auch das schmerzhafte Hingucken“, notwendig: „Die Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten [wird] so lange immer weiter gehen, wie wir diese wirklich giftige Myzel nicht unter die Lupe genommen und wirklich bis ins Allerfeinste ausgelotet haben.“11 Andererseits müsse betrachtet werden, wie Nationalsozialismus und Shoa gesellschaftlich möglich wurden: „[D]ass der Begriff ‚Fabrikation von Leichen‘ nicht von ungefähr kommt, und dass es ’ne bestimmte Auseinandersetzung mit ’ner Gesellschaft fordert. Mit der Bürokratie in ’ner Gesellschaft, auch mit den Führerfiguren, die in einer Gesellschaft gewünscht waren oder sind, who knows. So, aber dass da nicht so: ‚Naja und dann haben sie sechs Millionen Leute vergast und das war scheiße und drum herum gab’s ’ne krasse Diktatur.’ Aber so richtig erklären, kann das immer noch niemand.“

Für eine*n Gesprächspartner*in liegt besonders in der persönlich-biografischen Auseinandersetzung die Hoffnung auf eine Art von „kritischem Frieden, der alle miteinbezieht“, was für ihn*sie bedeuten würde, „die Idee von ‚Wir‘ und ‚Miteinander‘ nicht nur zu konstruieren, sondern wirklich mit Leben zu füllen, die tiefer geht, die einfach tiefer geht und deswegen auch einen Bestand hat, der über das so ’n bisschen Entnazifizierte und ‚Wir-sind-ja-jetzt-alle-ganz-zivilisierte-Bürger-und-Bürgerinnen‘ hinausgeht, denn wie weit es trägt, das sehen wir ja jetzt gerade wieder.“

Die Beobachtungen und Gedanken der Gesprächspartner*innen können als Entgegnungen auf von der Dominanzgesellschaft entwickelte Praktiken der Auseinandersetzung mit Antisemitismus verstanden werden. Sie fordern dazu auf, etablierte Formen der (straf-)rechtlichen Ahndung und pädagogischen Auseinandersetzung sowie des Gedenkens an den Holocaust zu hinterfragen. Dabei geht es einerseits darum, dynamische Funktionen, die bestimmte Praktiken (Rollenzuschreibungen in Erinnerungskulturen, Verdrängung etc.) für Nachfahren der Täter*innen haben können, in den Blick zu nehmen und die damit verbundene Instrumentalisierung von Juden*Jüdinnen aufzugeben. Andererseits bzw. damit einhergehend wäre es wichtig, die biografisch-familiäre Nachgeschichte aufseiten der Nachfahren von Täter*innen konkret anzunehmen, um „[d]ie Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten“ als „never ending story“ (s. o.) zu unterbrechen. Und schließlich gilt es, die Spezifik und Singularität der Shoa mit ihrer menschheitsgeschichtlichen Bedeutung zu vermitteln.12

c) Orte und Praktiken der Besonderung einer Minderheit

In einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft13 zu leben, gehört zum Alltag der jüdischen Berliner*innen in Bezug auf die Stadt insgesamt wie auf die meisten ihrer Institutionen und Lebenswelten. Jenseits des damit gegebenen Umstands, eine zahlenmäßig kleine Gruppe zu sein, problematisieren die Gesprächspartner*innen in diesem Zusammenhang, als besonders markiert und damit zu ‚Anderen‘ gemacht zu werden. Solche Formen der Besonderung14 werden mit Blick auf öffentliche Reden, Institutionen und Einrichtungen sowie soziale Interaktionen und Settings thematisiert.

So wurde für den öffentlichen Diskurs von einem*r Gesprächspartner*in exemplarisch die Formel von „jüdischen Mitbürgern“ als Form der Verweigerung von Zugehörigkeit und Anerkennung als Gleiche benannt, denn „wenn du ‚Mit-‘ bist, bist du nicht dabei“. Insoweit diese oder ähnliche Formeln im öffentlichen Diskurs verwendet werden, können sie nicht unmittelbar erwidert werden. Ein*e andere*r Gesprächspartner*in teilt die Erfahrung mit, in einer nicht-jüdischen Schule in direkten Interaktionen das Gefühl der Zugehörigkeit und Normalität vermisst zu haben: „[W]as es gab, war so ne Form von Ausnahmeerscheinung-Sein bei mir an der Oberschule, weil ich war nicht auf der jüdischen Oberschule, die es ja in Berlin durchaus auch gegeben hätte, ich habe mich dagegen entschieden“. Während die Besonderung sich hier im Binnenraum einer normalisierten15 Schule vollzieht, wird im Kontext der von ihm*ihr besuchten jüdischen Grundschule von besondernden Blicken aus dem äußeren Umfeld des Schulgebäudes berichtet, „wenn du aus der jüdischen Schule rausgehst und die Leute hingucken.“

 

Insoweit jüdische Zugehörigkeiten nicht durch religiöse Zeichen oder säkulare Symbole sichtbar sind bzw. gemacht werden, gehören jüdische Berliner*innen vor allem für ihre nicht-jüdische Umwelt teils16 zu den sogenannten invisible minorities. Im letzteren Sinne meint etwa einer* unserer Gesprächspartner*innen: „Ich trage keine Kippa. Ich sehe genauso wie meine Vorfahren mitteleuropäisch aus, mehr oder weniger […]. Man wird mich nicht sofort für einen Juden erkennen. Vielleicht nicht ganz deutsch, aber irgendwie – ich falle nicht auf.“ Zugleich haben jüdische Berliner*innen auch grundsätzlich keinen Anlass, ihrer nicht-jüdischen Umwelt unmittelbar mitzuteilen, jüdisch zu sein: „Also man geht ja auch nicht rum und sagt: ‚Guten Tag, [Name des*der Gesprächspartner*in], Jude*Jüdin.‘“ Dass die eigene (auch) jüdische Zugehörigkeit in diesen Fällen weder wahrgenommen noch mitgeteilt wird, kann zu etwas führen, das ein*e Gesprächspartner*in als „Schrankjude“ bezeichnet: „Das Judentum wird im Schrank gelassen und nicht rausgelassen“, und es bedeutete „eine Überwindung, […] aus dem Schrank rauszukommen.“ So finden sich Juden*Jüdinnen in Situationen wieder, in denen sie auf unangenehme Art und Weise unsichtbar bleiben. Und schließlich wird geschildert, dass es unter diesen Umständen einer Art des ‚Outings‘ bedarf, wenn die eigene jüdische Zugehörigkeit mitgeteilt werden will: „Das heißt, es muss erstmal ein Bekenntnis geben.“

Zu dieser unfreiwilligen Unsichtbarkeit und der Schwierigkeit, sich als (auch) jüdisch zu zeigen, trägt insbesondere bei, dass es im Umgang mit nicht-jüdischen Interaktionspartner*innen keine Selbstverständlichkeit ist, die eigene jüdische Zugehörigkeit, wenn es passend und gewollt wäre, ansprechen zu können. Vielmehr berichten unsere Gesprächspartner*innen von verkrampften, unsicheren und übergriffigen Reaktionen, wobei unterschiedliche Gründe und Motive eine Rolle spielen können: „Im Kontakt mit […] nicht-jüdischen Menschen [ist] es ganz schwierig […], ein gleichberechtigtes Erstgespräch zu führen“, was „etwas mit Geschichte und mit Unsicherheiten und mit […] vielleicht auch transportieren Vorstellungen von Antisemitismus, aber vor allen Dingen mit ‚man weiß nicht, wies geht‘ zu tun hat“. Ursächlich seien demnach nicht immer antisemitische Projektionen, sondern auch der Umstand, dass jüdische Kulturen für viele nicht-jüdische Berliner*innen kein Teil der eigenen Lebenswelt sind und in der Begegnung mit Juden*Jüdinnen angesichts der – hier in ihrer Bedeutung nicht näher erläuterten – ‚Geschichte‘ Unsicherheiten aufseiten der nicht-jüdischen Interaktionspartner*innen entstünden.17

Diese Konstellation ist gravierend, weil es um Bekannte, Kolleg*innen und Mitstreiter*innen geht, Menschen also, die zum engeren privaten, beruflichen und politischen Umfeld gehören. Diese Kontexte ermöglichen es den Betroffenen zwar im Gegensatz zu Äußerungen im öffentlichen Diskurs grundsätzlich, selbst direkt zu reagieren und sich zu solchen Formen der Besonderung zu verhalten, erschweren eine Auseinandersetzung aber offenbar zugleich (vgl. Kapitel I, g). Entsprechend berichtet ein*e Gesprächspartner*in beispielhaft davon, ungewollt als jüdisch markiert zu werden: „,[D]as ist meine jüdische Blablabla.’ Also, tja.“ Diese philosemitische18 Übergriffigkeit wird als belastend erlebt und zugleich fällt es schwer, ihr offensiv zu begegnen: „Wenn es passiert, ist es eigentlich immer mit so nem Rumpelstielzcheneffekt verbunden. Ich möchte sofort im Erdboden versinken und auf der anderen Seite der Erde wieder rauskommen, weil ich es als ganz schrecklich empfinde. Und da es so schwierig zu thematisieren is, schluck ich das meistens runter.“

Ein*e andere*r Gesprächspartner*in berichtet von der Erfahrung, von nicht-jüdischen Kolleg*innen in Reaktion auf einen von Dritten verursachten antisemitischen Vorfall in einer Art höflichen Distanz gehalten zu werden, die auf einer Mischung aus Abwehr und Selbstinszenierung als ‚gute Deutsche‘ beruhe: „Und die zweite Sache war, wie, die [Kolleg*innen] sind sehr nett, aber wie sie reagiert haben, war ein bisschen problematisch, dachte ich, weil – und das ist nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl habe. Die haben Angst vor dem Thema gehabt und dann […] waren sie mehr damit beschäftigt, nett zu mir zu sein und zu zeigen, wie offen sie sind und dass es doch keine Rolle spielt, welche Religion ich habe und blablabla.“ In der hier beschriebenen Alltagserfahrung wird eine direkte, offene Beziehung zur*m Betroffenen als auch jüdischer Person vermieden und sie im Sinne der Befindlichkeit des nicht-jüdischen Umfeldes (Schamgefühle, Unsicherheiten) auf Distanz gehalten.

Der Alltag mit seinen Situationen und Konstellationen der Besonderung, die sowohl aus Folgen des dominanzkulturellen Umgangs mit dem Holocaust resultieren als auch unmittelbar philo- bzw. antisemitisch begründet sein können, wird von jüdischen Berliner*innen aktiv und widerständig gehandhabt (vgl. Kapitel I, j). Und zugleich bringt ein*e Gesprächspartner*in etwas zum Ausdruck, das als Auftrag an die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft und insbesondere an die Dominanzgesellschaft gelesen werden kann: „Ich glaube, ich habe mir sehr oft in meinem Leben gewünscht, dass Judentum in Deutschland nicht so was Besonderes sein muss“.

d) Jüdische Berliner*innen im ‚Israel-Blick‘ der Mehrheitsgesellschaft

Eine spezifische Form der projektiven Besonderung bzw. Antisemitismuserfahrung, die unsere Gesprächspartner*innen im beruflichen oder privaten Umfeld erleben, ist, seitens nicht-jüdischer Interaktionspartner*innen unvermittelt mit dem Staat Israel identifiziert und für dessen Politik verantwortlich gemacht zu werden. Ein*e Gesprächspartner*in schätzt dies als verbreitetes Phänomen ein: „Das ist aber so allgemeiner Mainstream. Und es machen – also ich würde denken, es machen achtzig bis neunzig Prozent aller Deutschen. Und zwar gewohnheitsmäßig.“19

Dabei werden Juden*Jüdinnen in Berlin unter Absehung von ihrer konkreten Persönlichkeit und ihren Zugehörigkeiten auf ein abstraktes ‚Jüdischsein‘ festgelegt, symbolisch aus Berlin/Deutschland ausgeschlossen und mit dem Staat Israel identifiziert, also einer spezifischen, israelbezogenen Projektion ‚des Juden‘ unterworfen.20 Auch von der Komplexität der Geschichte (und Gegenwart) des jüdischen Staates als eines „Gemeinwesens, das nicht in Europa, aber doch von Europa ist“ (Diner 2002, 103), wird abgesehen, um unter Einebnung des Unterschieds zwischen Regierungen und Staat sowie der Konstruktion eines ‚jüdischen‘ Staates21 einer ‚Israelkritik‘22 Ausdruck zu geben. Im Resultat verlangt eine sich auf moralisch sicherem Posten wähnende nicht-jüdische Person von einer jüdischen Person, der Verantwortung für und ggf. Schuld an Unrecht zugeschrieben wird, Rechenschaft abzulegen und sich ggf. gar zu exkulpieren (Täter-Opfer-Umkehr). Diese Dynamik wird von Gesprächspartner*innen als belastend erlebt und beschrieben: „‚Warum macht ihr denn das?‘ Also, als Israeli, ‚Warum stört ihr die Palästinenser?‘ oder so was, aber Sachen, wo ich so-, es macht alles so glatt und so unkompliziert. […] Und wenn man spricht mit dir, als ob du verantwortlich bist für alles, was Israel macht, oder alles, was Juden machen etc., ist es, it’s exhausting.“

Die israelbezogenene projektive Besonderung, die Juden*Jüdinnen in Berlin erleben, kann aufseiten der nicht-jüdischen Akteur*innen neben der Funktion der Täter-Opfer-Umkehr auf spezifischen Ressentiments beruhen, die in solchen Situationen indirekt kommuniziert werden, oder solche Ressentiments können direkt in die Kommunikation einfließen. Während solche Erfahrungen mit der Umwegkommunikation bzw. explizit antisemitischen Adressierungen im Zusammenhang mit dem ‚Israel-Blick‘ von unseren Gesprächspartner*innen nicht mitgeteilt wurden, wurde von einer*m Gesprächspartner*in von einer israelbezogenen Aggression auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 9. November berichtet: Hier wurde ihr*ihm von (vermutlich nicht-jüdischen) Teilnehmer*innen gesagt, die „Scheißfahne“ – gemeint war die Fahne des israelischen Staates – herunterzunehmen. Ein*e andere*r Gesprächspartner*in brachte Angst vor Anschlägen, die aus (auch israelbezogenem) Antisemitismus resultieren können, zur Sprache: „ob sie von Nazis kommen oder ob sie doch vom islamistischen Terror kommen. Oder ob sie von Palästinenser*innen kommen. Oder ob sie von der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Wahn der Befreiung Palästinas kommen“, könne man dabei nicht wissen. „Aber, was du genau weißt – es geht überhaupt nicht um dich. Sondern es geht um ein Bild von ‚dem Juden‘“.

Alldem zum Trotz wägen Gesprächspartner*innen teils ab, ob es in bestimmten Situationen potenziell tatsächlich um ein Gespräch über „Israel“ gehen könnte. Wo sie dies für möglich erachten und sich darauf einlassen, scheitere dies aber häufig einerseits an einer „große[n] Unkenntnis von sozusagen ’ner israelisch-palästinensischen Lebensrealität“ und andererseits daran, dass „das […] irgendwie dominiert [ist] von was Weirdem 23“, was „super wenig mit israelischer Lebensrealität zu tun [hat], so. Weder auf palästinensischer noch auf israelisch-jüdischer Seite.“ Diskussionen, die der Komplexität des Gegenstandes gerecht würden, könnten nur mit wenigen geführt werden.24

Zudem, so bringen Gesprächspartner*innen zum Ausdruck, hat Israel für sie als Teil der jüdischen Minderheit in dieser Stadt nicht nur eine andere Bedeutung als für die nicht-jüdische Mehrheit. Es mangele auf deren Seite auch an dem Verständnis dafür, „was Israel für ein Zufluchtsort war“25 und für viele Jüdinnen*Juden in Deutschland/ Berlin aus den in diesem Kapitel beschriebenen Gründen potenziell auch weiterhin ist. Zugleich ist dieses Bild für Gesprächspartner*innen damit verbunden, dass es weltweit „keinen sicheren Ort für Juden“ gebe und dies in gewisser, wenn auch anderer Weise auch für Israel gelte, denn „in Israel gibt es Krieg öfters mal“.26

Die unter diesen Voraussetzungen aufgedrängten und/oder geführten Debatten um, wie Gesprächspartner*innen es formulieren, die Topoi „Israel“ und „Nahostkonflikt“ führen bei einem*r Gesprächspartner*in zu der Aussage, „irgendwie einfach zu wund an der Stelle zu sein“. Und auch die kulturelle und politische Vernetzung mit der nicht-jüdischen Zivilgesellschaft wird behindert, „weil es so ’ne sehr starke Polarisierung zum Thema Israel gibt, und […] du dich so deutlich distanzieren müsstest, um überhaupt gehört zu werden, dass wir das nicht tun. […] Is’ nicht unser Thema. Israel ist nicht unser Thema.“ (Vgl. dazu Kapitel II, j und III, m)

Mit Blick auf die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft, ob als Einzelne in sozialen Interaktionen oder in der kulturellen und politischen Arbeit, lässt sich aus dem Gesagten als Forderung mitnehmen, dass die dynamische Fixierung auf Israel zu reflektieren und die für Juden*Jüdinnen belastenden und sie gefährdenden Implikationen (projektive Besonderung, Umwegkommunikation, Aggression [s. u.] sowie Bedrohungspotenziale) zu unterbrechen sind. Insoweit dies gelänge und die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft sich der Komplexität der israelisch-palästinensischen Konstellation zu nähern bereit wäre, könnten auch Dialoge über diese möglich werden.