Wolken klingen rosa

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Nichts geht mehr

Umweltkatastrophen, Lebensmittelskandale, Terror, Machtkämpfe in Politik und Wirtschaft, Betrüger, die das System ausnutzen, was letztendlich die wohlmeinenden, ehrlichen Menschen ausbaden müssen - jeden Tag erreichen uns Meldungen, die unsere Gelassenheit auf eine harte Probe stellen. Und doch scheint es Menschen zu geben, die sich durch all diese Nachrichten nicht beeindrucken lassen. Mich bringt es schon aus der Fassung, wenn unser Nachbar mal wieder bei laufendem Motor und in aller Seelenruhe sein nächstes Ziel in das Navigationsgerät eingibt. Es passt nicht in mein starkes inneres Wertesystem, dass er scheinbar nicht verstanden hat, wie es um den Zustand unserer Umwelt bestellt ist.

Und damit hat mich die Tragik wenige Tage nach dem schönen Abend mit meiner Freundin Merle bereits wieder eingeholt. Menschen strengen mich an, der Alltag strengt mich an, ICH strenge mich an.

Ich wühle in meiner Handtasche nach dem Autoschlüssel. Ich finde mein Handy, ein paar angebrochene Packungen Taschentücher, ein kleines Notizbüchlein, ein Fläschchen Desinfektionsmittel und einen Handspiegel. Gleich werde ich den Einkaufswagen - Chip und meine Bonuskarte suchen, aber erst muss ich den Startbildschirm meines Handydisplays entsperren um mich vom häuslichen W-lan Router abzukoppeln. Ich werde gefragt werden, ob ich ein Sicherheits- Update machen will, und wenn ja, jetzt gleich oder heute Nacht. Danach werde ich mich über die Menschen aufregen, die ihre Einkaufswagen so kraftvoll aus der Reihe der anderen abgestellten Wagen reißen, dass man das Scheppern noch in den angrenzenden Stadtteilen hört, ihr Obst und Gemüse in Plastiktüten stecken und über die gestresste Kassiererin, die in Schallgeschwindigkeit die Ware über den Scanner zieht, während die Kollegin sie über die Angebote der nächsten Woche informiert und die Kundin laut vorrechnet, dass acht mal vier zweiunddreißig ergibt und nicht vierunddreißig. In solchen Momenten ist es mir fast peinlich, dass auch ich sie noch mit meinem Einkauf behellige und vermeide es, das passende Kleingeld aus meinem immer schwerer werdenden Portemonnaie zu sammeln, damit ich hier so schnell wie möglich verschwinden kann. Kurze Zeit später werde ich in mein Auto einsteigen und mich fragen, welchen Beitrag ich eigentlich leiste um der Umwelt nicht zu schaden. Reicht es, auf Flugreisen zu verzichten? Ist es wirklich nachhaltig, Fleisch beim Biobauern zu kaufen und keinen Weichspüler zu benutzen? Ich habe darauf keine Antwort. Vielleicht sollte ich mich einer Naturschutzorganisation anschließen. Ich könnte mich auch ehrenamtlich in einem Tierheim engagieren oder wenigstens einen Vortrag zum Thema Ressourcenknappheit besuchen. Ich möchte in dieser Welt gerne Spuren hinterlassen.

Aber wie soll mir das gelingen, wenn es mir schon schwerfällt, die alltäglichen kleinen Dinge zu verrichten?

Heute ist ein guter Tag um all diese Fragen ruhen zu lassen. Ich werde ein entspannendes Bad nehmen und der Duft von Melisse und Lavendel wird mir sicher helfen, dem Alltag zu entfliehen. Ich werde mir selbst mal wieder Zeit schenken und ganz zur Ruhe kommen. Doch das, was sich so schön denkt, ist in Wirklichkeit gar nicht so einfach in die Tat umzusetzen, wenn man ausgebrannt und leer ist. Müde beobachte ich, wie das Wasser in die Badewanne fließt. Wie sehr wünsche ich mir, dass es alles Schwere, alles Trübe und Belastende fortspült.

Wieder komme ich in der Nacht nicht zur Ruhe. Die Stille, die mir sonst heilig ist, bedrückt mich plötzlich. Ich höre kein vertrautes Geräusch. Keine Stimmen aus der Nachbarschaft, kein Hupen, nicht mal ein vorbeifahrendes Auto lenkt mich von meinen quälenden Gedanken ab. Sie ergeben keinen Sinn, ich kann sie nicht einmal benennen, aber ich halte sie trotzdem fest und bewege sie immer und immer wieder im Kreis.

Die Erschöpfung am nächsten Morgen ist grenzenlos. Ich kann mich nicht bewegen, alles in mir fühlt sich taub und steif an. Als wäre ich ein Luftballon, aus dem man die Luft herausgelassen hat. Nur ohne Knall. Es passierte ganz leise. Ich scheine vergessen zu haben, wie Leben geht.

Sonne, Mond und Berge

Als der Zug die Stadt verlässt, geht langsam die Sonne auf. In meinem Abteil bin ich alleine und ich blicke aus dem Fenster um diese faszinierende Stimmung einzuatmen. Noch gleitet der Zug langsam über die Schienen, hier und da knackt es, es ruckelt ein wenig. Schemenhaft kann ich die Skyline der Stadt und die Kräne im Hafen erkennen, bis die Lichter immer weiter in die Ferne rücken. Der Zugführer begrüßt die Fahrgäste, seine Stimme ist tief und warm. Vor mir liegen etwa acht Stunden Fahrt, ich freue mich auf das was kommt, auf die Zeit für mich, die Ruhe, die Erholung.

Der Zusammenbruch traf mich mit voller Wucht. Es musste so kommen, es konnte so nicht weitergehen. Wie lange braucht es, bis der Körper die Notbremse zieht? Wie lange hält die Seele es aus, beiseitegeschoben zu werden?

Der Arzt hat mich für zehn Tage krankgeschrieben. In dieser Zeit sollte ich mal zur Ruhe kommen, ganz an mich denken und mir etwas Gutes tun. Vielleicht mal in ein Café setzen oder ein gutes Buch lesen. Aber das hier war mehr als ein gutes Buch zu lesen. Ich kann das Gefühl nicht in Worte fassen. Diese Leere, diese Kraftlosigkeit. Es war als wäre ich in der Tiefe der Erschöpfung ertrunken. Unfähig, mich daraus zu befreien.

Und nun kann ich wieder atmen, habe wieder einen Zugang zu meiner inneren Kraft gefunden und ein leises Gefühl von Hoffnung. Ich würde es behutsam in der Hand halten wie ein Küken, das gerade geschlüpft war. Ich würde es aufpäppeln und ihm die Gewissheit geben, gut aufzupassen, wohl wissend um seine Zerbrechlichkeit.

Die Morgensonne steht bereits hoch am blauen Himmel als der Zug die erste Haltestelle erreicht. Inzwischen haben sich ein paar zarte, strahlend weiße Wolken formiert. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Das, was mir zuhause in der letzten Zeit nicht gelungen ist, erreiche ich nun mühelos.

Ich bin hingerissen von diesem wunderschönen Naturschauspiel. Im Abteil ist es mittlerweile angenehm warm, ich ziehe meine Jacke aus. Einige Fahrgäste verlassen den Zug, nur wenige steigen zu. Eine junge Frau öffnet die Tür zum Abteil und sinkt erschöpft auf einen der freien Plätze. Sie hat eine angenehme Ausstrahlung, wirkt aber müde. Wir lächeln uns kurz an, ich frage, ob ich ihr mit ihrem Gepäck behilflich sein kann. Dankend nimmt sie mein Angebot an, der Koffer ist groß und schwer. Ihr Handgepäck stellt sie auf dem Sitz zwischen uns ab, jedoch nicht ohne sich vorher zu vergewissern, ob ich mich dadurch auch nicht gestört fühle. Ich muss an Merle denken und stelle erleichtert fest, dass man doch immer wieder auf diese rücksichtsvollen Menschen trifft, für die Höflichkeit anscheinend kein Fremdwort ist.

Ob sie darauf wartet, dass ich ein Gespräch mit ihr beginne? Möchte sie überhaupt reden? Oder doch lieber in Ruhe gelassen werden? Was für einen Eindruck mache ich auf sie? Unnahbar? Sympathisch? Arrogant?

Wenige Minuten später ertönt das Signal des Schaffners am Bahnsteig, dann rollt der Zug sanft wieder an.

Je weiter wir Richtung Süden kommen, desto stiller wird es in mir. Ich blicke einfach nur aus dem Fenster und lasse die Landschaft vorüberziehen. Das Band, das mich mit allem verbindet, was meinen Alltag ausmacht, scheint langsam zu zerreißen. Ich halte nicht daran fest. Ich fühle mich frei.

Mich findet man in der Regel nicht in Freizeitparks, auf Partys oder an Samstagen zu ausgedehnten Shopping Touren in der Innenstadt. Ich reise gerne alleine und habe nicht die Absicht, Menschen kennenzulernen, es sei denn, sie interessieren mich. Und nun stehe ich am Münchener Bahnhof! Inmitten quengelnder Kinder an der Hand genervter Mütter. Geschäftsreisende drängeln sich durch die Masse ankommender Fahrgäste um ihre Anschlusszüge zu erreichen und aus den Imbissbuden wabert der Geruch ranzigen Fettes. Undeutliche Durchsagen an den Bahnsteigen und das Gewicht des eigenen Gepäcks führen dazu, dass ich mich sofort wieder überfordert fühle und alles wird von meinem Gehirn als besonders bedrohlich interpretiert. Jetzt heißt es, Ruhe bewahren. Auch ich muss meinen Anschluss erreichen um nicht stundenlang auf den nächsten warten zu müssen, aber zuvor muss ich mich erst einmal orientieren, wo ich überhaupt angekommen bin.

Zum Glück habe ich genügend Zeit, das Gleis zu wechseln. Mühelos erreiche ich die Regionalbahn und finde auch schnell einen Sitzplatz. Zügig verstaue ich mein Gepäck um weitere Fahrgäste nicht zu behindern. Ein paar tiefe Atemzüge, ein Blick aus dem Fenster und ein Schluck Wasser. Das müsste reichen um den Alarmzustand in meinem Körper wieder herunter zu regeln.

In der Ferne kann ich bereits schemenhaft den Umriss der Berge erkennen. Wieder spüre ich das Herz in meiner Brust. Dieses Mal aber vor Freude. Ich kann es kaum erwarten anzukommen und ich spüre, wie sich in jeder meiner Zellen ein Lächeln formt.

Um diesen malerischen Anblick ein wenig zu unterstreichen, setze ich meine Kopfhörer auf und stelle leise Musik an. Leider wird dieser wunderbare Moment durch eine ankommende WhatsApp Nachricht unterbrochen:

Hsllo Svhatz! wo bist du? Geht es dit gut” Typisch Sascha! Offensichtlich schreibt er die Nachricht wieder multitasking. Beim Anblick der Worte muss ich schmunzeln.

Danke Schatz, mir geht es gut. Ich bin gerade in München umgestiegen und abgesehen von meinem durchgesessenen Hintern freue ich mich auf die erste zünftige bayerische Mahlzeit!” Ich füge noch ein lächelndes Smiley hinzu und drücke auf senden.

 

Da Sascha online ist, lässt die Antwort nicht lange auf sich warten.

Meib spatzl in der grossen weitwn welt!”

Wieder amüsiere ich mich über die grauenhafte Rechtschreibung, dann antworte ich ihm noch kurz, dass ich mich melden werde, sobald ich angekommen bin.

Bussi!”

Bussi!”

Sascha liebt seine Freiheit. Genauso wie ich. Vielleicht ist das der Grund, warum er sein Hobby zum Beruf gemacht hat. Seitdem ich ihn kenne, liebt er es, Modellflugzeuge zu bauen. Fliegen sei für ihn der Inbegriff der Freiheit, sagte er einmal. Und jetzt schraubt er mit derselben Leidenschaft an echten Flugzeugen herum und träumt davon, irgendwann einmal in leitender Position zu sein. Immer wenn wir einen gemeinsamen Spaziergang im Naturschutzgebiet am Rande des Hamburger Flughafens machen, schaut er sehnsüchtig startenden Flugzeugen nach und manchmal, wenn einer seiner “Patienten”, wie er sie liebevoll nennt, über unseren Köpfen gen Himmel klettert, erklärt er mir ganz aufgeregt, dass er bei der Inspektion des Leit – und Steuerwerks dabei war. Selbstverständlich zählt er mir bis ins kleinste Detail alle Daten der Maschine auf, bis mir ganz schwindelig wird vor lauter Informationen.

Während es für ihn immer selbstverständlich war, in einem Team zu arbeiten und er nach Feierabend noch gerne mit seinen Kollegen ein Bier trinken geht, brauche ich nach einem anstrengenden Arbeitstag etwas zu Essen und meine absolute Ruhe. Dass ich mir ein paar Tage Auszeit genommen habe, gab uns beiden nie einen Anlass zur Diskussion. Er gönnt mir meine Freiheit ebenso wie ich ih

Bad Reichenhall empfängt mich mit Sonnenschein. Es ist kühl aber nicht zu leugnen, dass endlich der Frühling im Anmarsch ist.

Ich bin erschöpft aber glücklich, beseelt von dem Anblick der Berge, die nun zum Greifen nah scheinen. Ich sauge die frische Luft ein, trinke sie förmlich und brauche eine Weile um zu verstehen, dass ich wirklich hier bin. Vor mir liegen drei Wochen ganz für mich alleine. Ich werde viel schlafen, spazieren gehen, lesen und mich treiben lassen. Der Anblick dieser vollkommenen Schönheit der Natur wird mir jeden neuen Morgen die Erfüllung sein.

Das kleine Hotel liegt in unmittelbarer Nähe des Kurparks. Das Zimmer ist schlicht eingerichtet, aber gemütlich, sauber, hell und ruhig. Genauso wie ich es mag. Unruhige Muster von Tapeten oder grelle Farben würden mich wahrscheinlich wieder nur nervös machen. Am liebsten würde ich mich jetzt einfach auf das große Bett fallen lassen, prüfen ob es weich genug ist, und dann einfach nur schlafen. Ich habe nicht das Bedürfnis zu reden oder jemandem zu begegnen, aber ich habe versprochen, Sascha anzurufen, wenn ich angekommen bin. Dass es mich ein klein wenig Überwindung kostet, dies zu tun, löst sofort wieder einen Alarm in meinen Gedanken aus.

“Hallo Schatz, ich bin gut angekommen! Es ist soooo schön hier!”

Müsste jetzt nicht eigentlich kommen, wie schön es wäre, wenn er jetzt auch hier ist? Wäre das tatsächlich schön?

“Das freut mich, mein Spatzl,” versucht Sascha in einem gequälten bayerisch zu erwidern.

“Hast du die lange Fahrt gut überstanden?”

Jetzt fehlt nur noch, dass er mich nach der Wetterlage fragt und ob ich genügend warme Kleidung mitgenommen habe. Im Geiste verdrehe ich die Augen.

“Naja, es war schon anstrengend, aber in meinem Abteil war es schön leer, ich habe zwischendurch immer wieder geschlafen. In München war es hektisch, aber das habe ich ja schon erwartet. Großstadt eben...”

Ich ertappe mich dabei, wie ich tatsächlich mit den Augen rolle.

“Aber mein Anschluss ging pünktlich,“ füge ich noch schnell hinzu.

“Und jetzt bist du ganz fasziniert von der Landschaft, richtig?”

Warum hat er nicht “gell” gesagt?

“Und wie!” bestätige ich aufgeregt.

“Dann genieße deine Auszeit und erhol´ dich gut. Hast es verdient!”

Seiner sanften Stimme entnehme ich, dass er mir meine Pause vom Alltag wirklich gönnt und ich mich nun um mich selbst kümmern darf. Warum also dieser Anflug von schlechtem Gewissen? Als ich spüre, dass er mir nun doch ein klein wenig fehlt, bin ich erleichtert.

Wir versichern uns noch einige Male, dass wir uns liebhaben, dann legen wir auf.

Wieder muss ich dem Impuls, mich unter der Bettdecke zu verkriechen und zu schlafen, widerstehen, denn mein Magen meldet sich. Eine wirklich vernünftige Mahlzeit hatte ich heute auch noch nicht, und ich könnte mir gleich ein Bild von der Umgebung machen. Selbstverständlich nur ein kleines!

Nachdem ich mich ein wenig erfrischt und die Kleidung gewechselt habe, fühle ich mich gleich etwas wohler. Meine Sachen würde ich in Ruhe später auspacken. Mich beschleicht ein leises Gefühl von Gelassenheit. Zu Hause wäre ein Koffer mit lauter Zeug drinnen undenkbar. Ich spiele noch kurz mit dem Gedanken, ein paar Socken quer über dem Bett zu verteilen, aber das wäre für meinen Geschmack doch etwas zu übermütig.

Obwohl die Fußgängerzone im Ort noch gut besucht ist, verspüre ich keine Hektik. Weder in mir, noch in den Menschen. Die Uhren ticken hier anders. Ich weiß, warum ich dieses Ziel gewählt habe. Eine Woge der Freundlichkeit umspült mich und mir gelingt es, Blickkontakt mit den Passanten aufzunehmen. Eine Fähigkeit, die ich zu Hause an den wenigsten Tagen besitze. Meine Schritte werden immer langsamer, immer leichter und gelöster. Ich finde eine kleine, einladende Gaststube, habe aber noch gar nicht das Bedürfnis, einzukehren. Ich möchte am liebsten immer weiter gehen.

Vom Gradierhaus weht eine frische Brise Alpensole herüber, die an tausenden von Schwarzdornbündeln herabrieselt. Davor sprudelt ein prachtvoller Springbrunnen, dessen Anblick mich tief beeindruckt. Einen Moment lang bleibe ich stehen, schließe die Augen und atme die salzhaltige Luft in tiefen Zügen ein, bis ich ein klein wenig husten muss. Ich fühle mich so wohl, so geborgen, so in mir ruhend, dass ich weinen möchte. Wann ich das letzte Mal einen solchen Moment der absoluten Freiheit und Leichtigkeit in mir spürte, weiß ich nicht. Ich gehe ganz in ihm auf und möchte ihn am liebsten für immer festhalten.

Nachdem ich eine Weile dieses herrliche Gefühl ausgekostet habe, mache ich noch ein paar Fotos und schicke sie an Merle. Nicht, weil ich angeben möchte – nein – ich möchte sie an meiner Freude teilhaben lassen.

Das Knurren meines Magens unterbricht diese fast tranceartige Stimmung und ich entschließe mich, nun doch zu der kleinen, gemütlichen Gaststube zurück zu kehren. Draußen sind noch Tische und Stühle aufgestellt, da die Abendluft mir aber zu kühl ist, gehe ich hinein.

Als ich eintrete, nehme ich sofort ein lebendiges Treiben wahr und der Geruch frisch zubereiteter Speisen dringt in meine Nase. Der aufmerksame Kellner weist mir einen Tisch zu, der zum Glück etwas abgelegen steht. Erschöpft aber zufrieden lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Fast alle anderen Plätze sind belegt, überwiegend mit Paaren oder geselligen Runden. Im Stimmgewirr fällt es mir etwas schwer, mich auf die Speisekarte zu konzentrieren, die ich wenige Minuten später gereicht bekomme.

Ich entscheide mich für Käsespätzle, einen Salat und ein Malzbier.

Das Letzte was ich jetzt tun sollte, ist, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was die anderen Gäste wohl von mir denken, wenn sie mich hier so alleine sitzen sehen. Und trotzdem kann ich mich diesen Gedanken nicht widersetzen. Ich versuche mir einzureden, dass sie mich doch gar nicht kennen, es ihnen gar nicht zusteht, über mich zu urteilen und wenn sie es doch täten, ich sowieso nichts dagegen tun könnte.

Warum also wieder in das alte Muster der Anspannung zurück verfallen? Wahrscheinlich denken die gar nichts über mich und ich habe mich wieder eines schönen Moments beraubt. In Wirklichkeit bin ich nämlich ganz froh, dass ich nicht reden muss, und niemand da ist, der meine Aufmerksamkeit fordert.

Am nächsten Morgen werde ich von der Sonne wach geküsst. Ich habe tatsächlich die ganze Nacht durchgeschlafen. Die Uhr auf meinem Handy zeigt sieben Uhr zweiundzwanzig an und ich würde mich am liebsten noch einmal umdrehen, aber Sascha wünscht mir bereits einen schönen guten Morgen und einen angenehmen Tag. In Hamburg regnet es, Grund genug, gute Laune zu bekommen. Ich bin hier, die Sonne scheint und die Berge sind immer noch da. Ich habe nicht geträumt. Ich bin tatsächlich hier.

Einmal ausgiebig recken und strecken, ein herzhaftes Gähnen, dann bin ich auch schon bereit, in den Tag zu starten. Ich öffne die Fenster weit um mir einen tiefen Atemzug dieser herrlich frischen Bergluft zu genehmigen, die ich in jeden auch noch so kleinen Winkel meines Körpers strömen lasse.

Im Frühstücksraum geht es ebenso besonnen zu, wie im gesamten Haus. Ich werde freundlich begrüßt und grüße gut gelaunt zurück. Es duftet nach frischen Brötchen und Kaffee. Wie herrlich es ist, sich einfach nur an den Tisch zu setzen und aus lauter leckeren Speisen auszuwählen. Ein Gast scheint mein inneres Lächeln zu bemerken und wünscht mir einen guten Appetit. Er geht mit einem Teller voller Obst zu einem Tisch, unter dem ein außerordentlich drolliger Beagle geduldig wartet. Unglaublich! So etwas habe ich zu Hause noch nie erlebt. In der Kantine begegnet man meistens nur muffeligen Kollegen, die darauf bedacht sind den Arbeitstag möglichst schnell hinter sich zu bringen, oder hochwichtige Mitarbeiter aus der Chefetage, die am Handy ebenso hochwichtige Informationen austauschen, die keinen Aufschub dulden und die so ganz nebenbei ihr Frühstück hinunterwürgen.

Aber das hier ist zum Glück keine Kantine. Und der Mann scheint auch nicht in weiterer Begleitung zu sein. Er schiebt ein kleines Stückchen Käse unter den Tisch, welches von dem Hund vorsichtig aber mit Begeisterung aufgeschnappt wird. Selig leckt er sich die Schnauze.

Ich frage mich, warum ich die Beiden so verträumt beobachte und es mich interessiert, ob der Mann in weiterer Begleitung ist oder nicht. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich ihn attraktiv finde, mit seinem vollen, leicht lockigen dunkelbraunen Haar, dem Dreitagebart und der sportlichen Statur.

Heute möchte ich mir in aller Ruhe den Kurpark ansehen. Erste zarte Knospen haben sich bereits den Weg durch den Boden gebahnt und lassen erahnen, welch farbenprächtiger Blütenteppich sich hier bald ausrollen wird. Es riecht nach Frühling!

Dort hinten schlängelt sich ein Barfuß Weg durch den Park, ausgelegt mit Holzstäben, kleinen Steinchen, Torf und einer Art geschliffener Scherben in einem dunklen Blau, das herrlich in der Sonne leuchtet. Nebenan gibt es ein Kneippbecken, in dem einige Kurgäste wie die Störche ihre Runden ziehen. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und spüre unter meinen Füssen das taufrische Gras. Es ist zwar noch etwas kühl, aber nachdem ich die verschiedenen Zonen des Weges passiert habe, kribbelt es angenehm warm. Diesem Gefühl möchte ich auf einer Bank noch etwas nachspüren. Wieder lasse ich meinen Blick über die Berge schweifen, die seit meiner Ankunft nichts von ihrem Zauber und ihrer Anziehungskraft verloren haben. Wie könnten sie auch? Sie sind so unerschütterlich, wie ich es nie sein werde.

Nach einer Weile setze ich meinen Spaziergang fort, noch immer kribbelt es unter meinen Füßen. Ich gelange zum Kurgastzentrum, in dem zahlreiche Kataloge und Informationen über den Ort und die Umgebung ausliegen. In einem Nebenraum hat ein Maler seine Werke ausgestellt. Die Bilder ziehen mich magisch an. Sie sehen so wahrheitsgetreu aus, dass man denken könnte, es seien Fotos. Besonders hingerissen bin ich von der Eule und dem Papagei. Doch dann bleibt mein Blick an einem Bild regelrecht haften. Es zeigt eine Gruppe von Delfinen, die vor einer großen Welle flüchten. Die Welle besteht aus Müll, Autoteilen, Fässern und Unmengen von Plastik. Ich kann meine Augen nicht davonlassen. Wie erstarrt bleibe ich stehen, meinen Mund leicht geöffnet. So ausdrucksstark kann nur ein wahrer Künstler malen. Ja, das ist für mich Kunst! Nicht dieser moderne Schnickschnack, der irgendwelche Kleckse zeigt, die angeblich eine Botschaft vermitteln sollen. Dieses Bild aber hat eine Botschaft! Noch immer stehe ich davor, total überwältigt. So malen können! Das, was sich tagtäglich in meinem Kopf abspielt zu Papier zu bringen, den Gedanken Farben geben, sie lebendig werden lassen! Das wär´s!

Als ich mich nach einer gefühlten Ewigkeit von dem Bild abwenden kann, schaue ich mir den Veranstaltungskalender an. Vielleicht gibt es hier einen Malkurs, den ich besuchen könnte. Zeit genug hätte ich ja.

 

Langsamer. Stiller. Menschlicher. Drei Worte, die meine Begeisterung von den Bildern schlagartig in eine andere Richtung lenken.

Du liebst Ruhe, bist gerne alleine und erlebst Dinge sehr intensiv?

Du bist sehr schreckhaft und reagierst empfindlich auf Lärm, Gerüche und den Stress dieser Zeit?

Kunst, Musik und die Natur berühren Dich tief?

Dann bist Du möglicherweise hochsensibel.

Was das ist und wie Du diese wertvolle Gabe für Dich nutzbar machen kannst, erfährst Du in meinem Workshop.

Ich freue mich auf Dich!”

Das, was so unscheinbar auf einem zart mintgrünen Flyer daherkommt, zeichnet ein exaktes Bild meines Selbst. Ich bin fassungslos, wie wenig Worte es braucht, genau das, was ich bin, zu beschreiben. Am kommenden Samstag von zehn bis siebzehn Uhr findet der Workshop im kleinen Saal des Kurgastzentrums statt. Ich werde da sein!

Die wenigen Tage bis dahin vergehen wie im Fluge. Ich vermisse nichts und niemanden, genieße die Ruhe und die Natur und bin mir selbst genug. Wenn ich abends im Bett liege, lasse ich mich vom Mondschein in den Schlaf begleiten und freue mich auf die kleinen Geschenke, die der neue Tag für mich bereithält.

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