Untreue von Betriebsräten gegenüber Arbeitnehmern

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II. Argumente gegen die Anwendung von Strafrecht im kollektiven Arbeitsrecht im Licht des Opportunitätsprinzips

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Dabei argumentieren die Strafrechtsgegner vor allem im Licht des überkommenen historischen Verständnisses von der betrieblichen Interessenvertretung der Arbeitnehmer.

1. Autonomie der Betriebsparteien

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So klingt bei vielen Äußerungen die Auffassung mit, dass die mühsam errungene Anhebung der Arbeitnehmer auf das Kräfteniveau der Arbeitgeberseite es rechtfertige, bzw. sogar regelrecht fordere, dass man die Parteien ungestört ihre eigenen Lösungen finden lässt. In diesem Sinne formulierte Klee bereits 1922 die hehre These, die Gesundung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse hänge nicht in erster Linie von den Mitteln der Strafjustiz ab, sondern von dem Geist der Gemeinschaft, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbst an diese Aufgabe herangingen.[18]

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Und Sinzheimer stellte in seinem Vortrag anlässlich des 35. Deutschen Juristentages im Jahr 1928 fest: „Ein Eingreifen des Strafrichters in die feinnervigen kollektiven Rechtsbeziehungen unserer Zeit kann nur Schaden stiften. Das kollektive Recht ist autonomes Recht. Es will und kann sich selber schützen.“[19]

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Und wenngleich sich dieses Verständnis seitdem geändert habe und in neuerer Zeit die Tarifparteien nicht eben selten nach staatlicher Hilfe und Schutz auf dem Arbeitsmarkt verlangten,[20] so möchte man doch den Staat in seiner sanktionierenden Funktion möglichst aus den Betrieben heraushalten.[21]

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Dabei glaubt man sich offenbar guten Gewissens darauf berufen zu können, dass der deutsche Staat mit der Schaffung des Betriebsverfassungsgesetzes für seine Arbeitnehmer bereits mehr getan hat, als in anderen europäischen Ländern zum Schutz der Arbeitnehmer unternommen wird.[22] Mit dem Betriebsrat, der das Vertretungsorgan der Arbeitnehmerschaft eines Betriebes darstellt, hat man den Arbeitnehmern einen Fürsprecher zur Seite gestellt, der als Garant der Wahrnehmung ihrer Rechte fungieren soll.[23] Ob er dies tatsächlich tut und was er mit dem Arbeitgeber aushandelt, möchte der Außenstehende oftmals gar nicht ganz genau wissen. Solange der Betrieb funktioniert und alle Beteiligten weitgehend zufrieden sind oder jedenfalls scheinen, wird kein Anlass gesehen, dieses in sich geschlossene System von außen, und gar durch den Staatsanwalt, zu stören.

2. Kriminalisierung des Arbeitsrechts

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Hinter der Ablehnung jeglicher strafrechtlicher Einmischung mag weiterhin die Befürchtung stehen, das Strafrecht könne im Arbeitsrecht leicht zur Unterdrückung des missliebigen Gegners missbraucht werden und so die Ausübung der Arbeitnehmerrechte massiv behindern. Gerade durch die Kriminalisierung streikender Arbeitnehmer zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ist deren Möglichkeit zur Einflussnahme ja nachhaltig unterdrückt worden.[24] Wenngleich diese Gefahr heute offenkundig nicht mehr besteht, scheint den Strafrechtsgegnern noch immer jede Kontrolle des Betriebsrats als eine Beschneidung seiner Rechte und damit gleichzeitig als eine Beschneidung der Rechte der von ihm repräsentierten Arbeitnehmer zu gelten.

3. Arbeitsrechtlicher Grundsatz der individuellen Rechtsverteidigung

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Weiterhin wird zu bedenken gegeben, dass das Arbeitsrecht die Funktion habe, den Arbeitnehmer zu schützen, und zwar allein vor seinem Arbeitgeber.[25] In dem Verhältnis dieser beiden spielt der Betriebsrat zunächst nur eine Nebenrolle, und so mag man sich auf den arbeitsrechtlichen Grundsatz zurückziehen, dass der Arbeitnehmer die ihm eingeräumten Individualrechte gegen den Arbeitgeber auch selbständig durchsetzen muss. Insoweit sind ihm prozessuale Mittel zur Seite gestellt, die ihn – formal gesehen – optimal schützen. Ihm daneben zusätzlichen strafrechtlichen Schutz gegen seinen Betriebsrat zu gewähren, wird vor diesem Hintergrund für überflüssig gehalten.[26]

4. Gefährdung der betrieblichen Mitbestimmung durch Haftungsrisiken

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Und zuletzt werden Bedenken hinsichtlich der Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung angeführt: Je höher das Haftungsrisiko, desto geringer sei die Bereitschaft zur Übernahme eines Betriebsratsmandats, das gemäß § 37 Abs. 1 BetrVG ja unentgeltlich als Ehrenamt auszuüben ist. Wenn sich aber aufgrund allzu restriktiver Kontrolle letztlich kaum mehr jemand für die Ausübung dieses Ehrenamtes zur Verfügung stelle, sei der betrieblichen Mitbestimmung u.U. ein erhebliches praktisches Hindernis entgegengesetzt.[27]

Teil 1 Das Verhältnis Arbeitnehmer – Betriebsrat: Ein strafrechtsfreier Raum? › B. Autonomie der Betriebsverfassung contra Strafverantwortung des Staates › III. Auseinandersetzung mit den Argumenten der Strafrechtsgegner

III. Auseinandersetzung mit den Argumenten der Strafrechtsgegner

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Dieser Auffassung muss ein heute deutlich verändertes Verständnis der betrieblichen Mitbestimmung entgegengehalten werden.

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Wo das Verhandeln von Arbeitgeber und Betriebsrat „auf Augenhöhe“ selbstverständlich geworden ist, wo Betriebsräte im vollen Bewusstsein ihrer (angenommenen) Nichtverfolgbarkeit bekennen, das Ehrenamtsprinzip regelmäßig zu unterlaufen,[28] wo das Kungeln und Dealen ohne jede Kontrolle durch Außenstehende (und zu diesen zählen auch die Arbeitnehmer) keine Ausnahmeerscheinung mehr ist, fehlt es an der Rechtfertigung für die strikte Ausklammerung von Kontrollmechanismen gegenüber dem Betriebsrat. Der Arbeitnehmer ist in der Gefahr, im „Machtpoker“ zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber zum Opfer zu werden.[29] Zu seinem Schutz wird es zunehmend als legitim empfunden, als Ultima Ratio auch vor dem Strafrecht nicht Halt zu machen,[30] wenngleich es der vorzugswürdigere Weg sei, die Freiheiten des Betriebsrats im Betriebsverfassungsgesetz an passender Stelle zu begrenzen.[31]

1. Zum Argument der Gefährdung der betrieblichen Mitbestimmung durch Haftungsrisiken

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Um gleich mit dem letzten Argument der Strafrechtsgegner zu beginnen: Die Argumentation mit dem Ehrenamt ist hinlänglich u.a. aus dem Vereinsrecht bekannt. Immer dort, wo sich Menschen ehrenamtlich und gemeinnützig engagieren, ist allzu restriktive Haftung fehl am Platz. Das Ehrenamt im Idealverein stellt an sich schon eine Belastung dar, die meist nebenberuflich und unentgeltlich zum Nutzen der Allgemeinheit übernommen wird und verdient es daher tatsächlich, das persönliche Haftungsrisiko der Vorstandsmitglieder und der für den Verein tätigen Mitglieder zu reduzieren. Dem trägt das Gesetz zur Stärkung des Ehrenamtes vom 21. März 2013[32] Rechnung, das durch § 31b BGB[33] die Vereinsmitglieder, die Aufgaben des Vereins wahrnehmen, haftungsrechtlich den Organmitgliedern nach § 31a BGB gleichstellt, wenn sie im Wesentlichen unentgeltlich für den Verein tätig sind. Schädigen sie den Verein oder Dritte bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, so sind sie ebenso wie unentgeltlich tätige Vorstandsmitglieder von der Haftung frei oder freizustellen. Voraussetzung ist, dass sie den Schaden nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht haben. Im Umkehrschluss heißt dies, dass für eine vorsätzliche Schädigung eine persönliche Haftung natürlich nicht ausgeschlossen werden kann. Dies gilt auch für strafrechtliche Verantwortung bei der Begehung von Vorsatzdelikten wie § 266 StGB. Auch hier kann das Ehrenamt eine strafrechtliche Verfolgung nicht verhindern, auch dann nicht, wenn die Tat in Ausübung des unentgeltlich ausgeübten Amtes begangen wurde. Wenngleich bereits deswegen feststehen dürfte, dass das Ehrenamtsargument im vorliegenden Fall ohnehin nicht schlagkräftig ist, so soll dennoch nachfolgend gezeigt werden, dass und warum das private Ehrenamt im gemeinnützigen Verein im Hinblick auf das Maß seiner altruistischen Motivation nicht unmittelbar mit dem Betriebsratsamt vergleichbar ist. Zwar bestimmt § 37 Abs. 1 BetrVG, dass die Mitglieder des Betriebsrates ihr Amt unentgeltlich als Ehrenamt führen. Und ebenso wie beim privaten Verein handelt es sich auch beim Betriebsratsamt um ein privatrechtliches Ehrenamt.[34] Dieses wird jedoch, anders als viele andere private Ehrenämter, nicht neben, sondern eingebettet in das Arbeitsverhältnis selbst ausgeübt. Weil hier naturgemäß Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber dem Arbeitgeber bestehen, die mit der freien Amtsausübung kollidieren können, trifft das Betriebsverfassungsgesetz eine Reihe von Regelungen, die jede Besser- oder Schlechterstellung des Betriebsratsmitglieds, sowohl gegenüber seinen Kollegen außerhalb des Betriebsrats als auch gegenüber dem Arbeitgeber, verhindern sollen. Diese Maßnahmen dienen der Herstellung größtmöglicher Unabhängigkeit des Betriebsratsamts von dem Arbeitsverhältnis, innerhalb dessen es ausgeübt wird.[35]

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So werden Betriebsratsmitglieder von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung ihres Arbeitsentgelts befreit, sofern dies zur Durchführung ihrer Betriebsratstätigkeit erforderlich ist, § 37 Abs. 2 BetrVG.

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Auch ihre potentielle berufliche Weiterentwicklung, die wegen der Betriebsratstätigkeit stagniert, ist zu berücksichtigen: Bis ein Jahr nach Beendigung der Betriebsratstätigkeit hat das Arbeitsentgelt eines ehemaligen Betriebsratsmitglieds in seiner Höhe demjenigen zu entsprechen, das ein vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher Entwicklung erhält, § 37 Abs. 4 BetrVG.

 

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Auch die Tätigkeit, die das ehemalige Betriebsratsmitglied in diesem Zeitraum ausführt, muss derjenigen von vergleichbaren Arbeitnehmern entsprechen, § 37 Abs. 5 BetrVG.

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Zudem hat jedes Betriebsratsmitglied während seiner regelmäßigen Amtszeit Anspruch auf insgesamt drei Wochen bezahlter Freistellung zur Teilnahme an geeigneten Schulungsveranstaltungen, § 37 Abs. 7 BetrVG.

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Dem Schutz der Unabhängigkeit von arbeitgeberseitigen Druckmechanismen geschuldet ist die Vorschrift des § 15 Abs. 1 KSchG:[36] Danach ist jede ordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds während seiner Amtszeit und ein Jahr danach unzulässig.

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Obwohl diese Aufzählung noch nicht abschließend ist, wird bereits deutlich, dass ein Betriebsratsmitglied eine Reihe von Privilegien genießt, die ihre Rechtfertigung durchaus in der Sicherung seiner Unabhängigkeit gegenüber dem Arbeitgeber und der Vermeidung von Nachteilen durch die Übernahme des Amtes finden, die aber gleichwohl die Besorgnis dämpfen sollten, man finde bei Anlegung der üblichen Haftungsmaßstäbe keine Kandidaten zur Übernahme eines Betriebsratsmandats. Ohnedies ist es meines Erachtens irreführend, beim Betriebsratsamt von einem Ehrenamt zu sprechen, was gleichsam indiziert, es werde nur der Ehre wegen und aus keinem anderen Grund übernommen. Mit Belling,[37] der eine zivilrechtliche Haftung des Betriebsrats gegenüber Arbeitnehmern fordert, sollte vielmehr die enge Verwandtschaft des Betriebsratsamts mit anderen fremdnützig angelegten Ämtern des privaten Rechts, wie beispielsweise dem des Vormunds gemäß §§ 1773 ff. BGB, hervorgehoben werden.[38] Auch der private Vormund führt die Vormundschaft gemäß § 1836 Abs. 1 S. 1 BGB grundsätzlich unentgeltlich. Jedoch käme man bei ihm kaum auf die Idee, seine Verantwortung gegenüber dem Mündel auf grob fahrlässige und vorsätzliche Schädigungen zu begrenzen.[39] Er haftet vielmehr für jeden Grad der Fahrlässigkeit.[40] Der Zweck des privaten Amts, nämlich Störungen im Rahmen des Privatrechtsverkehrs zunächst ohne direkte Einschaltung des Staates zu beheben,[41] kann schließlich nur dann effektiv erfüllt werden, wenn dem Amtsträger auch Konsequenzen für schuldhafte Pflichtverletzungen drohen, die dem Interessenträger schaden.[42] Wegen der besonderen Missbrauchsgefahren, die daraus erwachsen, dass Rechtsinhaberschaft und Rechtsausübungsbefugnis auseinanderfallen, überlässt der Gesetzgeber dem Amtsinhaber keinen Freiraum ohne verbindliche Haftungsmaßstäbe. Dabei sind seine rechtlichen Befugnisse eng mit seinen Pflichten verknüpft, die aus der Funktion des Amts erwachsen.[43]

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Insbesondere wegen dieser wesensmäßigen Verwandtschaft[44] des fremdnützig angelegten Betriebsratsamts mit dem altruistisch konzipierten Amt des bürgerlichen Rechts kann das Argument der Haftungsbegrenzung zum Schutz des Ehrenamts nicht durchgreifen. Es sollte vielmehr entlarvt sein als eines, das letztlich nur dem Schutz unrechtmäßigen Handelns dient. Diesen Schutz hat jedoch derjenige nicht nötig, der sich ernsthaft zum Wohl des Betriebes und der Arbeitnehmer engagiert: Zum einen sind die Grenzen des vertretbaren Betriebsratshandelns, wie später gezeigt werden wird, sehr weit gesteckt. Erst ein Verhalten, das noch jenseits dieser weiten Ermessensgrenzen liegt, eröffnet überhaupt die Gefahr, sich strafbar zu machen. Kein redlicher Betriebsrat muss also eine strafrechtliche Verfolgung wegen eines fahrlässigen Fehlers fürchten.

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Zum anderen kann die Möglichkeit eines Rückzugs auf die persönliche Verantwortung dem Betriebsratsmitglied selbst eine durchaus willkommene Schutzbarriere gegenüber korrumpierenden Ansinnen von außen bieten. So möchte sich manch ein weniger durchsetzungsstarker Arbeitnehmer vielleicht im Betriebsrat engagieren, hat aber die Sorge, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kungelei gewissermaßen eine Voraussetzung der Betriebsratstätigkeit darstellt. Ihm wäre durch die Anlegung strafrechtlicher Maßstäbe regelrecht der Rücken gestärkt: Ein Hinweis auf sein persönliches Strafbarkeitsrisiko würde ausreichen, um ihn vor weiteren Versuchen der Meinungsbeeinflussung zu schützen. Die Betriebsratsarbeit würde dadurch sehr viel kalkulierbarer, weil ausschließlich an der Sache orientiert. Festzuhalten bleibt nach allem, dass das Argument des haftungsbedingten Ausblutens der Betriebsverfassung bei näherer Betrachtung seine Schlagkraft verliert.

2. Zum Argument der Autonomie der Betriebsparteien

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Die Ablehnung jeden Eingreifens in das privatrechtliche Geflecht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (letzterer idealerweise unterstützt und repräsentiert durch den Betriebsrat) lässt außer Acht, dass es vorliegend nicht darum geht, die eine oder die andere Partei zu Lasten der andern zu stärken, bzw. sie zugunsten der Gegenseite zu schwächen. Es soll keineswegs in ein funktionierendes Kräftegleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern eingegriffen werden. Ziel der Strafrechtsbefürworter ist es vielmehr, einer zu beobachtenden Kräfteverschiebung in Richtung Betriebsrat, und zwar zu Lasten des Arbeitnehmers, entgegenzuwirken. Das Betriebsverfassungsgesetz, das 1952 erstmals in Kraft getreten ist, basierte auf anderen Voraussetzungen als denen, die heute in den Betrieben herrschen. Es ging damals davon aus, dass jede dem Betriebsrat zugestandene Freiheit den Arbeitnehmern zugutekam und dass jede Beschneidung der Betriebsratsrechte unmittelbar auch den Arbeitnehmern schadete, weil es beide gewissermaßen als Einheit ansah. Heute wird eine Kontrolle der Betriebsräte im Hinblick auf die pflichtgemäße Interessenwahrnehmung der von ihnen repräsentierten Arbeitnehmer zunehmend für notwendig gehalten.[45] Nicht nur die anfangs erwähnten LAG-Urteile bestätigen die Notwendigkeit hierfür. Es ist schließlich nicht der Schutz des Arbeitnehmers vor dem Arbeitgeber, sondern der Schutz des Arbeitnehmers vor seinem eigenen Betriebsrat, der im Fokus dieser Untersuchung steht.[46]

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Hier kann es dem Staat nicht gestattet sein, unter Hinweis auf das zur Verfügung gestellte Betriebsverfassungsgesetz und der darin weitgehend begründeten Privatautonomie der Parteien vornehme Zurückhaltung zu üben. Insofern fordert Rieble zu Recht, der Staat habe in einem Mindestmaß auf dem von ihm bereiteten Spielfeld als Schiedsrichter für Ordnung zu sorgen.[47]

3. Zum Argument der Kriminalisierung des Arbeitsrechts

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Ähnliches kann auch gegen das Argument vorgebracht werden, eine stärkere Kontrolle des Betriebsrats, die auch das strafrechtliche Instrumentarium nicht ausschließe, führe zu einer Kriminalisierung des Arbeitsrechts und beschneide letztlich mit den Rechten des Betriebsrats auch die Rechte der von ihm vertretenen Arbeitnehmer.

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Denn gerade denjenigen, die die Rechte der Arbeitnehmer stärken wollen, sollte es ein wichtiges Anliegen sein, dass die Anforderungen des Betriebsverfassungsrechts an den Betriebsrat, wie z.B. das Gleichbehandlungsgebot gemäß § 75 Abs. 1 BetrVG und das Verbot seiner Begünstigung gemäß § 78 S. 2 BetrVG, letzteres strafrechtlich abgesichert durch § 119 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, eingehalten werden. Denn mit der an diesen Vorgaben ausgerichteten Vertretung der Arbeitnehmer durch den Betriebsrat steht und fällt deren Macht im Betrieb. Ein Betriebsrat, der Arbeitnehmer beispielsweise aufgrund von Gewerkschaftszugehörigkeit unterschiedlich behandelt oder anstelle von berechtigten Anliegen der Arbeitnehmerschaft sachfremde eigene Ziele verfolgt, schwächt diese eher, anstatt sie im Verhältnis zum Arbeitgeber zu stärken. Damit stellt also eine verstärkte Kontrolle des Betriebsrats im Hinblick auf die Wahrnehmung seiner (vornehmlich) arbeitnehmerschützenden Pflichten kein Hindernis für seine Arbeit dar, sondern ist vielmehr eine Voraussetzung für das Funktionieren der Gleichberechtigung der Arbeitnehmer im Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber und so letztlich auch die Bedingung für die das Fortbestehen der betrieblichen Mitbestimmung als solcher.[48]

4. Zum arbeitsrechtlichen Grundsatz der individuellen Rechtsverteidigung

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Dass der Arbeitnehmer im seinem Arbeitsverhältnis grundsätzlich gehalten ist, seine Rechte selbständig durchzusetzen, ist zutreffend. Insoweit steht ihm im Kündigungsfall beispielsweise die Kündigungsschutzklage zur Verfügung oder Zurückbehaltungsrechte betreffend seine Arbeitskraft bei Verstößen gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz[49] oder Arbeitsschutzvorkehrungen.[50] Die Konzeption des Kündigungsschutzes basiert auf dem durch das Bundesarbeitsgericht entwickelten Prinzip der nachträglichen Rechtsinhaltskontrolle,[51] wonach der Arbeitnehmer die Wirksamkeit der Kündigung nachträglich gerichtlich überprüfen zu lassen hat.[52]

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Der Betriebsrat nimmt gewöhnlich bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nur eine Nebenrolle ein, denn ebenso wie die Begründung des Arbeitsverhältnisses individualvertraglich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber stattfindet, findet auch seine Beendigung in diesem Verhältnis statt. Auch wenn der Betriebsrat bestimmte Arbeitnehmer auf die Namensliste setzt, so muss deren Kündigung dennoch vom Arbeitgeber selbst ausgesprochen werden. Ebenso kann sich der Arbeitnehmer auch ohne den Kündigungswiderspruch des Betriebsrats gemäß § 102 BetrVG gerichtlich gegen seine Kündigung wehren. Warum also sollte der kündigungsrechtliche Nebendarsteller Betriebsrat in dieser Funktion besonders kontrolliert werden – und gar mit Mitteln des Strafrechts?

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Dies liegt deswegen nahe, weil neben dem durchaus gegebenen rechtlichen Einfluss auch der tatsächliche Einfluss des Betriebsrats im Kündigungsschutz erheblich ist:

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Zum einen verbessert die Intervention des Betriebsrats gegen die geplante Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Erfolgsaussichten eines Kündigungsprozesses. Liegen Widerspruchsgründe gemäß § 102 Abs. 3 BetrVG vor und ist vom Betriebsrat Widerspruch erhoben worden, so wird diesem Votum des Betriebsrats gegen den Arbeitgeber insofern Geltung verschafft, als zugunsten des gekündigten Arbeitnehmers kollektive Elemente in die gerichtliche Bewertung einbezogen werden können.[53]

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Zum anderen darf aber auch die psychologische Wirkung des Betriebsratsvotums nicht unterschätzt werden: Widerspricht der Betriebsrat der geplanten Kündigung, so nimmt der Arbeitgeber in 30 Prozent der Fälle von der Kündigung Abstand.[54] Umgekehrt senkt ein versagter Kündigungswiderspruch in der ohnehin belastenden Situation einer arbeitgeberseitigen Kündigung nachweislich die Bereitschaft des Arbeitnehmers, ohne die „Rückendeckung“ durch den Betriebsrat in einen Kündigungsschutzprozess zu gehen.[55] Nach einer empirischen Erhebung des Max-Planck-Instituts zum Kündigungsschutzrecht klagen Arbeitnehmer, deren Betriebsrat gegen ihre Kündigung Widerspruch eingelegt hat, doppelt so oft, wie diejenigen, auf der Kündigung der Betriebsrat nicht mit einem Widerspruch reagiert hat.[56] Offenbar geht der Arbeitnehmer in diesem Fall davon aus, der Betriebsrat habe das Vorliegen von Widerspruchsgründen zu seinen Gunsten gemäß § 102 Abs. 3 BetrVG sorgfältig geprüft, aber letztlich keine gefunden. Er wird insoweit fehlende Erfolgsaussichten einer Kündigungsschutzklage annehmen und deswegen auf sie verzichten. Aber selbst dann, wenn der Arbeitnehmer entgegen dem Betriebsratsvotum seinerseits der Auffassung ist, es sprächen durchaus Widerspruchsgründe für ihn, so mag er sich fragen, warum der Betriebsrat diese nicht zu seinen Gunsten eingebracht hat, und daraus resultierend, ob er es sich zumuten möchte, in einem Klima der Ablehnung seiner Person, nicht nur von Seiten des Arbeitgebers, sondern zusätzlich auch von Seiten der Arbeitnehmervertretung, weiter in diesem Betrieb tätig zu sein.

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Noch stärker stellt sich die psychologische Wirkung bei der sogenannten Namensliste dar: Wenn der Betriebsrat zusammen mit dem Arbeitgeber anlässlich einer Betriebsänderung im Rahmen des Interessenausgleichs gemäß § 112 BetrVG eine Liste derjenigen Arbeitnehmer zusammengestellt hat, die sozial am wenigsten schutzwürdig und daher unter erleichterten Voraussetzungen kündbar sind (§ 1 Abs. 5 KSchG), so richtet sich das Vertrauen der Arbeitnehmer darauf, dass der Betriebsrat nur absolut unvermeidlichen Kündigungen zustimmen wird und dass er deren soziale Rechtfertigung zuvor sorgfältig geprüft hat.

 

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Diese Namensliste, die nebenbei bemerkt, einen systemfremden Einbruch in die individualistische Konzeption des Kündigungsschutzes darstellt,[57] findet ihre Rechtfertigung darin, dass es dem Arbeitgeber möglich sein soll, im Falle der Notwendigkeit von erheblichem Personalabbau nicht auch noch mit der Rechtsunsicherheit zahlreicher Kündigungsschutzverfahren belastet zu werden.[58] Diese Rechtssicherheit, die ihm die Namensliste verschaffen soll,[59] wird aber nicht nur durch die beschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit der Sozialauswahl im einzelnen Kündigungsschutzprozess gewährleistet, sondern maßgeblich auch durch die resignative Haltung der gekündigten Arbeitnehmer, die von einer Kündigungsschutzklage allein schon deshalb absehen, weil sie annehmen, dass ihr Betriebsrat sicher nicht anders habe entscheiden können und daraus schließen, auch vor Gericht allenfalls äußerst geringe Erfolgsaussichten zu haben. Ein solcher Verzicht auf Rechtsschutz stellt aber nach der gesetzgeberischen Konzeption geradezu den Idealfall dar, denn nur so lässt sich der erklärte Zweck der Namensliste erreichen, der ja darin besteht, dem Arbeitgeber die Rechtsunsicherheit zahlreicher Kündigungsschutzverfahren zu ersparen. So wird, gewissermaßen durch die Hintertür, neben der tatsächlichen prozessualen auch eine psychologisch bedingte Reduktion der Rechtsschutzmöglichkeiten vorgenommen. Preis[60] bezeichnet die den Betriebsräten übertragene Rolle vor diesem Hintergrund sogar als Missbrauch der Betriebsräte und als „schmutziges Geschäft“, Grunsky[61] nennt die Namensliste gar „Hinrichtungsliste.“

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Deutlich wird daran jedenfalls, dass der Betriebsrat allein aufgrund des vom Arbeitnehmer in ihn gesetzten Vertrauens praktisch erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten darauf hat, ob dieser gerichtlichen Schutz gegen seine Kündigung in Anspruch nimmt oder von vornherein darauf verzichtet. Den Betriebsrat unter Hinweis auf den formal von seinem Votum (weitgehend) unabhängigen individuellen Rechtsschutz im Arbeitsrecht von jeder Verantwortung zu entbinden, muss sich daher verbieten.

Teil 1 Das Verhältnis Arbeitnehmer – Betriebsrat: Ein strafrechtsfreier Raum? › B. Autonomie der Betriebsverfassung contra Strafverantwortung des Staates › IV. Ergebnis zu B.: Kein genereller Ausschluss der staatlichen Strafverantwortung unter Opportunitätsgesichtspunkten