Die Rose lebt weiter

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Es war Jens’ erster Arbeitstag. Sonja war noch im Urlaub. Wie würde er sich verhalten? Ich hatte mir die letzten Tage etwas überlegt und wollte einen endgültigen Abschied hinbekommen. Darum bat ich ihn um ein Treffen mittags, wieder am Teich. Er sagte: „Ja, das geht, Sonja ist ja noch im Urlaub.“

Das ärgerte mich so sehr, trotzdem schaffte ich es nicht, ihn in den Hintern zu treten. „Warum komme ich von diesem Mann nicht los, was ist bloß in mich gefahren? Wieso nehme ich seine Verletzungen einfach hin, ich renne ihm ja regelrecht hinterher?“

Mittags regnete es wie aus Kannen und wir saßen dieses Mal in meinem Auto. Ich sagte ihm, dass ich meine Vorhaben immer mit einem Datum verbinde, zum Beispiel: Ab dem 1.1. fange ich an abzunehmen; oder bis zu meinem Geburtstag muss ich das und das fertig haben … So sei es auch jetzt, ich hätte mir vorgenommen, bis Monatsende von ihm loszukommen und mit ihm einen „Abschied“ zu erleben, um das Kapitel beenden zu können. Ich bat ihn, uns an diesem Tag etwas Zeit zu nehmen und über alles zu reden. Ich wollte sowieso Überstunden abfeiern, zu Hause würde ich sagen, dass ich ab Mittag frei hätte. Er willigte ein, auch wenn er diese Art Abschied nicht verstand und nicht wusste, wie das funktionieren sollte. Wo und wie wir uns treffen wollten, dazu traute sich keiner etwas zu äußern. Wir lagen uns schließlich weinend in den Armen, es war alles so traurig und aussichtslos.

Mit diesem Gespräch begann mein eigentliches und abgebrühtes Fremdgehen, wenn es auch zunächst nur beim Küssen blieb. Ich hatte gezielt ein Treffen geplant, welches weit über eine Mittagspause hinausgehen würde. Einerseits war ich glücklich, dass ich das Ende mit Jens hinausschieben konnte, andererseits war ich über mich selbst erschrocken, wozu ich fähig war. Mir wurde erst viel später bewusst, dass ich damit meine Unfähigkeit „Entscheidungen zu treffen“ ins Leben gerufen habe. Ich war immer ein Mensch gewesen, der in schwierigen Situationen nur kurz überlegen musste und dann entscheiden konnte, wie es weitergeht. Wenn ich dann etwas beschlossen hatte, zog ich es durch bis zum Ende, motivierte auch andere, die unentschlossen waren. Ich hatte nie nach Ausreden gesucht, um etwas nicht zu Ende zu bringen. Und auch Unehrlichkeit war untypisch für mich.

Nun begannen auch die Telefonate während der Autofahrten und obwohl es verboten war, war das Handy von meinem Ohr beim Fahren nicht mehr wegzudenken. Ich war traurig, wenn die Fahrt beendet war und rettete mich mit meiner Sehnsucht von einem Telefonat zum nächsten. Wir sprachen über Gott und die Welt, planten unsere paar Stunden, vermieden es aber, über die Zukunft zu reden. Wir wussten, dass unsere Zuneigung kein Ziel hatte, versuchten gegenseitig Vernunft zu zeigen und klammerten gleichzeitig am anderen, wünschten ihn in der Nähe und Verbindung zu ihm. Ich wollte meine Ehe retten, Jens wollte bei Sonja bleiben. Keiner schaffte es, dies konsequent umzusetzen. Sondern wir fieberten unseren kurzen geheimen Treffen entgegen, die von Tränen und Küssen erfüllt waren und den Versprechen, einander freizugeben und das Verhältnis endlich zu beenden.

Eines Tages machte Jens den Vorschlag, nicht „nur durch den Wald zu latschen“, sondern uns näher zu kommen, also mehr als nur zu küssen. Damit wurde das Unausgesprochene zur Wirklichkeit, wir wussten beide, was passieren würde. Ich war glücklich über diesen Vorschlag, zumal es ihm offenbar nicht nur ums Bett ging, sondern viel mehr Leidenschaft dahinter steckte als bloßer Sex. Wir wollten es beide, seine Gefühle konnte keiner mehr verbergen, wir konnten uns noch so bemühen. Einerseits konnte ich es kaum erwarten, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, ihn endlich für mich zu haben, ihn zu berühren und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn mochte. Andererseits hoffte ich, dass es vielleicht für uns beide eine Enttäuschung werden würde und wir so feststellten, dass wir doch nicht zusammenpassten, sodass alles ein Ende finden konnte. Ich würde ihn vergessen und vielleicht zu Hause auch „beichten“ und dann wäre alles wieder gut … Doch zunächst gab es für mich nur noch den letzten Tag des Monats, es war ein Donnerstag. Weiter konnte und wollte ich nicht denken. Alles danach war in meinem Kopf ein schwarzes Loch.

Dann war der heiß ersehnte Tag endlich da. Ich hatte Holger erzählt, dass ich einen Außentermin hätte und telefonisch nicht erreichbar sei. Das war nun die größte Lüge seit Beginn meiner Beziehung zu Jens, aber es sollte auch die letzte sein! – Mit Jens war ausgemacht, dass ich mein Auto auf einem Parkplatz stehen lasse und wir mit seinem weiterfahren würden, an eine Stelle, wo wir ungestört sein konnten. Als ich in meinem Auto saß, war die ganze Vorfreude wie weggeblasen, die Gefühle für Jens waren so unwirklich. Ich wollte nicht drüber nachdenken, was mich jetzt erwartete. Mein Herz raste wie vor einer Prüfung. Er stand bereits auf dem Parkplatz und in dem Moment als wir uns begrüßten, klingelte mein Telefon. Es war Holger. „Bist du schon im Büro? Ich bin beim Korbmacher und hole dein Tablett ab, brauchst du also nicht mehr hinfahren.“

Ich war wie versteinert. Es war nicht das erste Mal, dass uns Holger „begleitete“. Wir fuhren vom Parkplatz, es herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Keiner wusste, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten soll. Als wir uns endlich gegenüber saßen, unbeobachtet, vertraut, und doch so fremd, konnten wir uns nicht rühren, saßen einfach nur da, ohne Gesprächsstoff, ohne Zärtlichkeiten, wie erstarrt. So verstrich die Zeit. Ich fragte mich, wofür ich eigentlich diesen Aufwand betrieben hatte. Wir überlegten laut, ob wir alles abbrechen und zurück zum Auto gehen sollten. Das war wohl der Moment, als das Eis brach. Die Scham wechselte zu Vertrautheit. Wir verlebten die schönsten Stunden seit dem Anfang unserer Beziehung. Der erhoffte Reinfall stellte sich nicht ein. Die Zeit verflog im Nu. Beide wollten wir, dass das der Abschied war. So gingen wir auseinander, weinend, verzweifelt.

Ich fuhr mit dem Auto in die Stadt und schaute mich erstmalig nach einem Kleid für die Silberhochzeit um. Holger drängelte schon lange, ihm war es wichtig, dass ich was Schönes fand. Doch gleich schämte ich mich, was für ein abgebrühter Mensch ich war. Vor einer Stunde war ich noch fremdgegangen und nun beschäftigte ich mich mit meiner Silberhochzeit. Was war bloß aus mir geworden? Und ich hatte keinen Schimmer, wie es weitergehen sollte. „Wie wird sich Jens jetzt verhalten? Geht er mir aus dem Weg? Reden wir nicht mehr miteinander? Wird er sich seiner Sonja jetzt besonders widmen? Kämpft er genauso mit seinen Gefühlen? Komme ich tatsächlich von ihm los? Kann ich ihn ignorieren?“ Zu kündigen und einfach woanders anzufangen, war auf dem aktuellen Arbeitsmarkt illusorisch und es war schade um die Zeit, darüber nachzudenken. Ich hatte einen gutbezahlten Job, der mich ausfüllte und mir Spaß machte, kam mit vielen Leuten zusammen und man respektierte mich. Oft war es anstrengend, aber ich behielt den Überblick. Das aufzugeben ging einfach nicht, obwohl es mir in den letzten Wochen immer schwerer fiel, die Termine zu organisieren und etwas voranzutreiben. Ich musste mich wieder in den Griff kriegen, bevor es andere merkten!

Zu Hause angekommen, klingelte bereits das Telefon. Es war Jens. Die Trennung hatte gerade mal drei Stunden angehalten. Danach stürzte ich mich in meine Haus- und Gartenarbeit und pflanzte Stauden. Holger hatte nicht gefragt, wie mein Tag gewesen war und ich war froh, dass ich nicht noch mehr lügen musste. Weil ich aber so verschlossen und ruhig war, wollte er wissen, was mit mir los wäre. Jetzt kam alles auf einmal: morgens das einschneidende Erlebnis mit Jens und abends das Ausweichen beim Ehepartner. Ich hatte nur noch Angst und funktionierte wie eine Maschine. Ich fühlte mich so schäbig. Aber Holger merkte nichts, ich konnte meine wahren Gefühle tatsächlich verbergen. Wieso war ich dazu in der Lage? Aus Angst versagt zu haben, aus Angst, dass er ausflippen würde, aus Scham vor mir selbst und vor den anderen? Aus der Hoffnung heraus, es würde alles wieder gut werden? Aus Mitleid gegenüber Holger, weil er das nicht verdient hatte? Dieses schäbige Gefühl verfolgte mich die ganze Nacht hindurch.

Die nächste Zeit verlief mit Jens wie vorher, wir redeten. Auf meine Arbeit konnte ich mich nicht mehr richtig konzentrieren und war froh, wenn nicht so viele Leute um mich herum waren. Mit Jens war es so unwirklich, was passiert war. Jeder suchte die Nähe des anderen, keiner sprach das Thema „Abschied“ an. Wir verabredeten uns sogar noch mal nach Feierabend für eine halbe Stunde. Das ging solange gut, bis Sonja merkte, dass Jens von mir nicht lassen konnte und psychisch zusammenbrach. Jens zog sofort die Konsequenzen. Er ließ mich eiskalt im Regen stehen. Ich fühlte mich so allein und benutzt. Die folgenden Wochen waren die Hölle. Wir versuchten uns aus dem Weg zu gehen, die Tränen zu verbergen.

Eines Tages musste ich für unseren Chef zum Geburtstag Blumen besorgen. Sie sollten im kühlen Raum versteckt werden, zu dem nur zwei Leute einen Schlüssel hatten, einer davon war Jens. Er sollte mir die Blumen am Hintereingang abnehmen und verstecken. Ich war so aufgeregt, die Chance zu haben, nach Wochen mit ihm mal kurz alleine sein zu können und hatte aber zugleich Angst davor, dass wir uns streiten könnten. Als ich ihm die Blumen brachte, wusste er nicht, wie er mit mir umgehen sollte. Ich sagte: „Jens, ich halte diesen Zustand nicht mehr aus. Lass uns noch mal reden.“

Er antwortete nicht und drängte mich zur Tür hinaus, damit uns Sonja nicht entdeckte. Ich war so wütend, gekränkt, gedemütigt, obwohl ich ja diejenige gewesen war, die sich so siegessicher war, mit ihm abschließen zu können.

Zu Hause wurde ich zunehmend unausgeglichener, blubberte meine Kinder wegen Kleinigkeiten an und ging Holger aus dem Weg. Holger „quälte“ sich ebenfalls durch seinen Alltag, war unzufrieden mit seiner Arbeit, bemerkte aber dadurch wahrscheinlich meine Veränderungen nicht. Er war auch immer so hektisch und malte alles schwarz. Er zeigte keinerlei Trauer bezüglich seiner Mutter und ich dachte, dass er es recht gut und schnell verkraftet hätte. Wir hatten sie ja monatelang leiden gesehen, für sie war es sicher erlösend, als diese Quälerei ein Ende hatte. Vielleicht dachte er auch so und war deshalb so schnell drüber weggekommen?

 

Der Termin der Silberhochzeit rückte immer näher, ich hätte mich schon längst um die Vorbereitungen kümmern müssen, aber ich schob es immer wieder hinaus. Das Einzige, was ich erledigt hatte, war mein Kleid. Ein Kleid nach meinem Geschmack, im Stil der Rock’n’Roll-Zeit, weil ich so viel abgenommen hatte, freute ich mich, wie gut es mir stand. Als nächstes wollte ich die Tischkarten kaufen, aber ich hatte keinen Elan. „Was mache ich nur? Lasse ich doch die Silberhochzeit platzen? Rede ich mit Holger? Wird er dann zum Stier und schmeißt mich raus?“ Mein Vater hatte früher oft gesagt: „Wehe, du hast mal einen anderen, Holger bringt den Kerl um und sprengt das Haus in die Luft.“

Er war schon immer eifersüchtig gewesen, war aber in den letzten Jahren vertrauensvoller geworden. Wenn ich jetzt ehrlich zu ihm war und er mich tatsächlich rausschmiss, ließe ich mich scheiden und dann? Egal, dann würde ich eben alleine dastehen, aber war wenigstens ehrlich. Ich fragte meine Freundin Martina, was sie davon hielt. Sie sagte: „Sei doch vernünftig. Was hast du dann gekonnt? Du machst deine Familie unglücklich und dich selbst ebenfalls. Was willst du denn Holger sagen? Dass du einen anderen Mann liebst, der dich aber nicht will? Das ist lächerlich. Warte ab, wie sich alles entwickelt, vielleicht schaffst du es, zu Holger zurückzufinden. Ich habe oft überlegt, was besser wäre, ihm die Wahrheit zu sagen oder es ein Leben lang als Geheimnis zu hüten. Wie ich Holger kenne, wirst du sicher mit dem Schweigen besser fahren. Er würde dir nicht verzeihen und dir die Ehe zur Hölle machen, dir keinen Freiraum mehr lassen. Eure Ehe könnte daran zerbrechen. Denk auch an deine Kinder und deine Eltern.“

Ich hatte lange über diese Worte nachgedacht und hin und her überlegt. In ein paar Tagen würde mein Großer mit dem Studium fertig sein. Informatiker! Ich konnte doch stolz sein. War ich ja auch. Aber das stolze Muttergefühl konnte nicht meinen „heiligen“ Familiensinn wieder beleben. Der Abschlussball stand an und ich wollte noch abwarten und meinem Sohn dieses Ereignis nicht verderben. Mein Kleiner würde dann ins Ferienlager fahren und es wäre eine günstige Gelegenheit, den Rest der Familie erst einmal schonend damit zu konfrontieren. Dieses Datum brannte sich in meinen Kopf ein und ich wurde jeden Tag unruhiger und unsicherer. „Was werde ich machen? Ist es wirklich richtig, alles aufs Spiel zu setzen, alle zu enttäuschen, Leid erzeugen?“ – Also entschied ich mich für die von Martina vorgeschlagene Variante des Schweigens und hoffte, dass mein Leben wieder in die richtigen Bahnen kommen würde. Ich brauchte mich nun vor keinem zu rechtfertigen, brauchte die Gäste nicht auszuladen, musste mich nur ein wenig verstellen. Und schon war das Leben wieder perfekt. Aber diese Schauspielerei musste erst einmal gelernt sein, ich war auf dem besten Weg dahin. Was war bloß aus mir geworden?

Ich wollte mich in der Mittagspause wieder mit Jens treffen. Die Vorfreude auf diese paar Minuten ließ kurzzeitig alles andere in den Schatten treten. Wir saßen auf einer Bank und keiner konnte seine Gefühle verbergen, dann liefen wir ein Stück. Jens versuchte mir näherzukommen. Ich war entsetzt. Am helllichten Tage, wo jeden Augenblick Spaziergänger auftauchen können. Gereizt fuhr ich ihn an: „Jens, für so etwas bin ich die Falsche. Ich brauche Zärtlichkeit und Zeit.“ Er ließ mich los und antwortete wütend: „Ich bin auch nur ein Mann. Zeit haben wir nie und Zärtlichkeit musst du dir zu Hause holen.“

Nach diesen Worten hätte ich ihm am liebsten eine geknallt. Dieser Satz hatte gesessen und ich versuchte, ihn zu hassen. Ich empfand Wut und wollte so schnell wie möglich in mein Auto. Er war ebenfalls wütend, entschuldigte sich nicht einmal. Aber ich schaffte es wieder nicht, ihn fallen zu lassen. Am nächsten Tag bemühte sich jeder, so vorsichtig und freundlich zu dem anderen zu sein, wie es nur ging. Doch der Satz hatte sich in mein Gehirn eingebrannt und tat so weh. Ich brauchte sehr lange, bis ich das vergessen konnte.

Die Wochen verstrichen, die Silberhochzeit rückte näher. Viele Leute nahmen an den Vorbereitungen meiner Feier indirekt teil. Und ich fühlte mich immer mehr hinterlistig und falsch. Auch gesundheitlich ging es mir nicht gut. Doch vergingen die Schmerzen meist wieder schnell und ich verdrängte das Erlebnis. Das Herzrasen kam in unterschiedlichen Abständen und Stärken. Dabei bekam ich Atemnot und das Herz tat am nächsten Tag noch weh, wie bei einem Muskelkater. Ständig plagten mich Bauchkrämpfe wie bei einer Gallenkolik. Als Jens einmal mitbekam, dass ich mich im benachbarten Raum auf die Stühle legen musste, um die Schmerzen auszuhalten, wurde er regelrecht panisch. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er telefonierte mir sogar hinterher, ob ich heil zu Hause angekommen wäre. Da merkte ich, wie wichtig ich ihm war. Aber sein Drängen, endlich zum Arzt zu gehen, ignorierte ich. Was alleine kommt, geht auch wieder alleine! Für eine Gallenoperation hatte ich derzeit keine Nerven, vielleicht kamen die Schmerzen auch nur von der ganzen Hektik. Außerdem ging es mir schon viele Jahre so.

Meinen Urlaub legte ich so, dass ich solange wie möglich arbeiten gehen konnte, trotzdem hatte ich fast drei Wochen frei. Mit Jens wollte ich mich vorher noch einmal treffen, um mal wieder aufzutanken, weiter denken wollte ich einfach nicht. Wie immer hatten wir wenig Zeit. Wir mussten uns verstecken und es war alles andere als romantisch. Mit der Uhr im Nacken suchten wir Nähe und versuchten, all die traurigen Tatsachen zu verdrängen. Auf der einen Seite hoffte ich, dass die Gefühle verschwinden würden, andererseits tat ich aber auch nichts dafür, um von ihm loszukommen. Ich war so hilflos und leer. Ich sah nur, dass es galt, die nächsten drei Wochen abzuarbeiten. Doch wenn ich wieder zurück sein würde, dauerte es nicht lange, bis Jens in Urlaub fuhr. Diese Aussichtslosigkeit erdrückte mich beinahe.

Der Tag unserer Silberhochzeit war herangerückt. Natürlich hielt Holger sich nicht daran, dass wir uns nur eine Kleinigkeit schenken wollten. Ich bekam 25 riesengroße rote Rosen und eine Lederreisetasche, weil ich nichts hätte, wenn ich zum Lehrgang müsste. Mir blieb fast das Herz stehen. Ja, der Lehrgang war verschoben worden auf „ungewiss“. Ich klammerte mich an diese zwei Tage, an denen ich mit Jens alleine sein würde. Und Holger schenkte mir nichtsahnend noch eine Tasche dafür …

Die Eltern schenkten wie immer Geld und ich fühlte mich schuldig, es anzunehmen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Meine Mutter hatte unser Hochzeitsbild in einen silbernen Rahmen gebastelt. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben und war so ahnungslos. In ihren Augen verlief die Ehe perfekt: Uns ging es gut, Streit bekam sie nicht mit, die Kinder waren versorgt, wir unternahmen viel, alle waren fleißig und hilfsbereit, sozusagen rundherum trautes Familienglück. Wie sollte ich ihr jemals erklären, dass ich auf „Abwege“ geraten war? Viel mehr Angst hatte ich aber vor meinem Vater. Holger kannte er nur fleißig und hilfsbereit. Wie könnte ich so einem guten Mann so etwas antun? Ich würde es ihm nicht erklären können. Und ich wollte es ja Holger auch gar nicht antun. Aber ich kriegte Jens nicht aus meinem Kopf raus, keinen Tag, keine Stunde, fast schon keine Minute mehr.

Nach dem Essen wurden alle fürs Fotoalbum verewigt und weil ich krank war und Holger am nächsten Tag arbeiten musste, war die Feierei relativ schnell beendet. Ich war froh, im Bett liegen zu können und hoffte, dass die Tabletten rasch wirkten. Das war er also, der große Tag nach 25 Ehejahren! Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, als hätten wir Geburtstag gefeiert. Nun denn, gut so, ich hätte mich ohnehin über nichts besonders gefreut. Es stand sowieso noch die Feier mit unserer Clique bevor.

Die nächsten zwei Tage konnte ich mit Jens telefonieren, wir wussten beide, dass mit dem Beginn von Holgers Urlaub dieser Kontakt beendet wäre. Sicherlich könnte ich ab und zu eine SMS schreiben, aber zum Antworten war es eigentlich schon zu gefährlich. Mein Handy war im Urlaub das „Familientelefon“, ich würde es nie und nimmer wie eine Glucke ständig bewachen können.

Die letzten Vorbereitungen für unsere Feier ließen die Zeit schnell vergehen und kein großes Grübeln aufkommen. 18 Uhr sollte das Fest beginnen. Es war Holgers erster Urlaubstag. Wir hatten Schlafgäste, die schon nachmittags eintreffen sollten, sie trudelten auch nach und nach ein. Die Silberhochzeit fand in unserem Dorfgasthof statt, in dem wir schon unseren Polterabend gefeiert hatten. Als alle saßen, stand Holger auf und begrüßte die Gäste, bedankte sich, stellte alle vor und sprach über den organisatorischen Ablauf. Er war aufgeregt, machte es aber gut. Dann ging ich zur Bühne und begann, meine Reime vorzutragen. Sie stammten aus der Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Mittlerweile waren viele Zeilen davon Hohn geworden. Aber in diesem Moment verdrängte ich alles und redete mir ein, dass das traute Familienglück durch meinem Vortrag irgendwann wieder eintreten würde. Martina warf mir einen aufmunternden Blick zu und ich las meine Verse.

Der Abend verging durch Spiele und Tänze recht schnell und kurz vor Mitternacht gab es noch mal Kaffee und Kuchen. Als Überraschung trug meine Mutter ihre selbstgebackene Kirschtorte in den Saal, auf der sie ein Silberbrautpaar platziert hatte. Dieses rutschte just in dem Moment von der Torte und fiel auf den Fußboden. Von dem Bräutigam brach der Kopf ab. Sie war so entsetzt und brach in Tränen aus: „Der Kopf ist ab, das bringt Unglück!“

Weil meine Mutter so aufgelöst war, brachte ich diesen Vorfall nicht mit meiner Situation in Verbindung, sondern tat es ab als sinnlosen Aberglauben. Um halb vier Uhr früh lagen wir endlich im Bett, das heißt auf der Couch im Wohnzimmer, denn die Betten waren ja vergeben an unsere Gäste. Ich war zu müde, um zu grübeln und hatte nur noch den kommenden Ablauf im Kopf: Frühstück im Garten, Reste holen aus der Gaststätte, Sachen packen für den Urlaub, das Haus „urlaubsfertig“ machen … Bettina und Mario fuhren gleich von uns aus mit in den Urlaub. Jens hatte ich versprochen, eine SMS zu schreiben, wie die Feier abgelaufen war. Ich kam erst spät dazu, als alle im Bett waren. Holger schlief schon und ich schrieb im Wohnzimmer heimlich meine Zeilen. Die Vorstellung, nun lange von ihm nichts mehr zu hören und nicht zu wissen, wie es ihm geht, stimmte mich traurig und ängstlich. Der Gedanke, mich im Urlaub um meine Ehe zu bemühen, kam mir nicht. Denn es gab dafür nichts zu tun, ich musste mich nicht bemühen, für Holger war die Welt in Ordnung, er merkte nicht, was in mir vorging.

Die Urlaubstage vergingen schleppend und ich sehnte mich dem Ende entgegen. Am Montag würden Jens und ich miteinander telefonieren. Solange musste ich noch ausharren. Ich zählte die Stunden, und sorgte mich. Vor allem beschäftigte mich die Frage, was in der Zwischenzeit mit Sonja gelaufen war. Die Ungewissheit zermürbte mich. Mit Herzklopfen und Tränen begannen die ersten Minuten des Telefonats. Dann sagte Jens, dass er mich nicht belügen wollte und dass es mich sehr schmerzen würde. Ich hielt den Atem an, ich wusste, dass etwas im Zusammenhang mit Sonja kommen würde: „Als du verreist warst, habe ich mit Sonja einen Tag Urlaub verbracht. Ich hatte es ihr versprochen. Der Tag verlief harmonisch, bis zu dem Zeitpunkt, als das Thema auf dich kam. Sie sprach abfällig von dir und ich verteidigte dich instinktiv. Sie merkte dadurch, wie nahe wir uns immer noch sind.“

Ich merkte, wie ich innerlich zusammenrutschte. Warum tat er so etwas? Warum spielte er mit mir? Und warum war er andererseits so ehrlich und verheimlicht mir nichts? Ich war so verletzt, aber mir fehlte einfach der Stolz, diesen Menschen zur Hölle zu schicken. Ich sah nur wieder das Gute an ihm, schätzte seine Ehrlichkeit und Offenheit. Aber ich konnte es nicht begreifen. Das Datum seines „gemeinsamen Tages“ hat sich später so in mein Gehirn gebrannt und es war einer der allergrößten seelischen Schmerzen, die er mir je zugefügt hat. Trotzdem kam ich nicht von ihm los.

Zu all diesem Durcheinander kam etwas Neues, Erfreuliches hinzu. Tommi, unser Großer, hatte sich verliebt. Einerseits war ich froh für ihn, andererseits rollte etwas auf mich zu, was mich sprachlos und unbeholfen machte. Er offenbarte uns am Telefon, dass er seit zwei Wochen eine Freundin habe, eine ehemalige Kumpeline, die sich von ihrem Freund getrennt hatte und die er am Wochenende mitbringen würde. Dies kam so geballt und ganz anders, als ich es von meinem Sohn gewohnt war. Er stellte uns vor vollendete Tatsachen.

 

Aufgrund meiner eigenen Probleme dachte ich gar nicht groß darüber nach. Am Freitag war schönes Wetter und wir grillten zum Abendbrot. Alle waren ein wenig aufgeregt. Jana war ein unscheinbares blondes Mädchen von 21 Jahren. Beide blieben nicht lange, wollten noch ausgehen. Ab diesem Sonnabend hatte ich ab sofort drei Kinder. Das Gästezimmer im Keller wurde zu ihrer Behausung, Tommis Kinderzimmer diente als Abstell- und Kleiderkammer.

Nun war ich an den Wochenenden noch mehr gefordert, ein Partner des Kindes bleibt trotzdem die erste Zeit wie Besuch. Man kann sich nicht mehr so frei bewegen, gibt sich mehr Mühe bei den Mahlzeiten und so weiter. Aber ich improvisierte und keiner konnte meine Gedanken lesen, ich gab mir Mühe mit meiner Hausfrauenaufgabe.

Jens’ Abwesenheit ertrug ich nur schwer, obwohl wir uns ab und zu SMS schickten und er sogar anrufen konnte. Aber seine Zeilen waren nichtssagend, ich konnte nicht deuten, wie er fühlte. Dann begann die Woche, in der Jens Donnerstag wieder da sein sollte. An dem Tag würde ich aber Überstunden abfeiern und zu Hause sein, ich hoffte deshalb auf ein Telefonat mit ihm.

Als ich Montagmorgen kaum im Büro saß, rief mich meine Kollegin von zu Hause an und meldete sich krank. Sie würde sich schon seit Längerem nicht wohl fühlen. Ich empfahl ihr, sich Zeit zu nehmen und sich auszukurieren, auch wenn ich dadurch die nächsten Tage mehr zu tun hätte.

Donnerstag klingelte bei mir zu Hause das Telefon, mein Chef war dran: „Es ist was ganz Schreckliches passiert! Unsere Kollegin, Frau Brummer, hat sich das Leben genommen. Sie wurde in der Nähe unserer Dienststelle in einer Gartenanlage gefunden. Die Kripo war grad hier.“

Ich konnte das gar nicht glauben, wir hatten doch alles ganz ruhig besprochen. Mein Chef weinte, war völlig fassungslos. Die Polizei hatte ihm gesagt, dass sie bereits am Montagabend mit dem Zug in Richtung Arbeit gefahren wäre. Dann hätte sie sich mit über 100 Tabletten vergiftet, die sie vermutlich über lange Zeit gesammelt hatte. – Nach diesem Gespräch stürzte ich mich wie wild in die Arbeit. Ich wollte nicht darüber nachgrübeln und doch stürzten die Gedanken auf mich ein. „Gerade hat sie sich so gut eingearbeitet. Warum hat sie sich, verdammt noch mal, nicht helfen lassen? Wir haben doch so oft über ihre Depressionen gesprochen?“ – Da klingelte wieder das Telefon. Jens wollte mich trösten. Es riefen an diesem Tag noch mehrere an und ich schaffte nicht, was ich mir vorgenommen hatte und es blieb vieles liegen.

Am nächsten Tag hatte sich mein Chef wieder gefangen und tröstete mich damit, dass er mir eine Nachbesetzung vorschlug: Sonja war die Auserwählte. Schlimmer konnte es nicht kommen! Später erklärte mir die Personalchefin, dass diese Variante allen helfen würde, denn da, wo Sonja jetzt sei, gäbe es nur Knatsch. Bei mir könne sie beweisen, was sie wirklich drauf habe.

Roberto und Karin wollten am Wochenende mit uns Essen gehen. Die Freundschaft zu beiden bestand noch nicht lange. Roberto hatte sowohl mit Holger als auch mit mir schon viele Jahre geschäftlich zu tun, seine Frau kannten wir erst eineinhalb Jahre. Da sie nicht sehr kontaktfreudig war, wurden Holger und ich regelmäßig angewiesen, sie anzurufen und ihr weiszumachen, der jeweilige Besuch wäre unsere Idee gewesen und auf alle Fälle nicht die von Roberto. Nur so konnte man sie „rumkriegen“, Einladungen anzunehmen. Wir spielten ihm zuliebe mit, aber dieser Affentanz ging uns auch gegen den Strich. Doch wir waren zu feige, ihm dies ins Gesicht zu sagen.

In der Gaststätte war viel Betrieb und alles dauerte ewig. Ich hatte wieder meinen Kloß im Hals und obwohl ich nur Gemüse bestellte, war es mir zu viel. Nach dem Essen machten wir mit Robertos neuem Auto eine Rundreise. Doch meine Gedanken waren schon beim nächsten Tag. Die Tasche musste ich noch packen. Oh je, Holgers Silberhochzeitsgeschenk, die teure Lederreisetasche, sollte eingeweiht werden. Da legte er großen Wert drauf. „Ich fahre mit dem Geschenk meines Mannes zum Liebhaber“, dachte ich und es war mir so gruselig und ekelhaft. Bloß gut, dass keiner Gedanken lesen kann! In der Nacht war ich aufgeregt wie ein kleines Kind. Holger fing um fünf an zu arbeiten, Benni fuhr kurz nach sechs in die Schule, kurz danach wollte Jens da sein. Theoretisch dürften sie sich nicht begegnen. Jens wollte ich noch einen Cappuccino machen, ein paar Minuten Zeit würden wir ja haben.

Als mein Kleiner sein Fahrrad aus der Garage holte, fuhr Jens gerade auf den Hof. Es war dunkel, ich sah es nicht, hörte nur, wie sie sich begrüßten, dann klingelte Jens. Wir standen uns wie Fremde gegenüber. Ich bat ihn ins Wohnzimmer und brachte ihm Cappuccino und etwas Kuchen. Da sah er mich ganz traurig an und sagte: „Martina, ich weiß nicht, ob du mit mir zum Lehrgang fahren willst, wenn du jetzt hörst, was ich dir zu sagen habe. Fahren müssen wir sicherlich, sonst bekommen wir Ärger mit unseren Vorgesetzten. Aber du musst dort mit mir nicht schlafen, ich bringe dich auch heute Abend nach Hause und hole dich morgen früh wieder ab.“ Entsetzt antwortete ich: „Was soll der Quatsch? Was ist los mit dir? Ich verstehe nur Bahnhof.“

Dann erzählte er mir schluchzend, dass er eine schlimme Auseinandersetzung mit Sonja zum Feierabend hatte. Sie habe ihn zur Rede gestellt wegen des Lehrgangs, sei dann hysterisch geworden, habe ihn fürchterlich angeschrien, was auch andere gehört hätten. Schließlich sei sie wie ohnmächtig zusammengebrochen. Daraufhin hatte er ihr versprochen, sich für sie zu entscheiden. Nun liege es an mir, ob dieser Lehrgang unser „Abschied“ würde oder ob ich gleich sagte, er solle verschwinden.

Erst dachte ich, er mache einen Witz. Aber dafür war unsere Situation viel zu ernst. Ich war hilflos. Wie sollten nun die beiden Tag ablaufen? Gedanklich spielte ich durch, was ich Holger sagen würde, wenn ich abends wieder vor der Tür stand: „Hallo, ich hab es mir anders überlegt, will doch lieber zu Hause sein über Nacht?“, oder: „Ich wollte dich betrügen zum Lehrgang, aber der andere Mann will mich nicht mehr?“ Ich konnte auf gar keinen Fall nach Hause. Ich würde mich abends in meinem Zimmer verkriechen und mir die Augen ausheulen … Ich konnte nicht zu Ende denken. Ich musste mich aber schnell entscheiden. Jens hatte Angst vor meiner Reaktion. Ich schaffte es jedoch nicht, ihn zu verstoßen oder abzuschütteln. Ich sah in diesem Moment nur, dass wir uns so sehr auf diese Tage gefreut hatten und nun alles umsonst gewesen war. Würden wir jemals wieder die Gelegenheit haben, uns so nah sein zu dürfen? Mir ging der Film „Die Dornenvögel“ durch den Kopf. Auch eine aussichtslose und verbotene Liebe. Sie wussten, dass ihre Liebe keine Zukunft haben durfte und hielten sich daran. Nur ganz begrenzt ließen sie ihren Gefühlen ihren Lauf. An diesem Vergleich hielt ich mich jetzt fest und sagte: „Jens, lass es unser Abschied sein, auch wenn wir das ‚Danach‘ noch schmerzlicher empfinden werden.“