Argumentation

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2.4 Die dialektische Perspektive

Die dialektische Perspektive betrachtet Argumentation aus einer Verfahrensperspektive. Sie fragt nach der Lauterkeit der genutzten Argumente, der genutzten Verknüpfung und des Ablaufs des argumentativen Austauschs. Aristoteles (1995b) führt die Dialektik in der „TopikTopik“ ein und bestimmt sie als „eine Methode (…), nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten“ (100a118). Das Hauptaugenmerk der dialektischen Perspektive ist entsprechend auf die Argumentation als Verfahren und dialogischen Austausch gerichtet, nicht auf das einzelne Argument. Zudem befasst sich die Dialektik – ebenso wie die Rhetorik – mit Schlüssen aus der WahrscheinlichkeitWahrscheinlichkeit, nicht der WahrheitWahrheit.

Der Fokus auf das Verfahren der Argumentation beinhaltet die Annahme, dass Argumentation im DialogDialog zwischen ProponentProponenten und OpponentOpponenten entsteht, wenn eine Aussage strittig wird. Wenzel (1980, S. 115) betont, dass aus einer dialektischen Perspektive ProponentProponent und OpponentOpponent in zweierlei Hinsicht kooperativ agieren: zum einen, indem sie sich auf gemeinsame Verfahrensregeln einigen, zum anderen dahingehend, dass das Ziel ihres argumentativen Austauschs eine Einigung oder die Lösung eines Problems ist. Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, ob diese Einigung faktisch auch eintritt. Geltung kann ein Argument aus der dialektischen Perspektive dann beanspruchen, wenn die Teilnehmerinnen bestimmten Regeln zum Ablauf von Argumentation folgen. Der Bruch dieser Regeln wird dann in vielen Ansätzen als TrugschlussTrugschluss markiert. Die Regeln hängen von der theoretischen Ausrichtung ihrer Autorinnen ab. In Kapitel 3 werden verschiedene Ansätze aus der dialektischen Perspektive vorgestellt und diskutiert.

Das Beispiel aus den „Zwölf Geschworenen“ aus dialektischer Perspektive zu betrachten, würde also heißen: zu untersuchen, ob ProponentProponent und OpponentOpponent sich an bestimmte Verfahrensregeln halten.

JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch – auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen.

JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

Aus dialektischer Perspektive würde dieser Auszug daraufhin untersucht und bewertet werden, ob er bestimmten Regeln guten Argumentierens folgt. Diese beziehen sich sowohl auf die gegebenen Gründe und die Übergänge von Grund zu Konklusion als auch auf den Ablauf der Argumentation zwischen den Teilnehmerinnen. Ist die Entgegnung von Juror 3 also auf das Argument von Juror 8 bezogen? Können alle Teilnehmer Argumente vorbringen? Sind alle Teilnehmer bereit, wenn gefordert, Argumente zu präsentieren? Damit nimmt die dialektische Perspektive immer einen normativen Blick ein und zielt auf eine KritikKritik argumentativen Austauschs. Die Art dieser KritikKritik hängt von den zu Grunde liegenden Regeln ab.

In der Matrix lässt sich die dialektische Perspektive folgendermaßen darstellen:


Perspektive/Modell/ AnsatzFormaler Aspekt: Wie ist ein Argument aufgebaut?Funktionaler Aspekt: Welche Funktion hat Argumentation?Gute Gründe: Wie bestimmt sich die Geltung/Gültigkeit eines Arguments?
Logische PerspektiveVon wahren Aussagen auf wahre Konklusionen zu schließen
Dialektische PerspektiveAus wahrscheinlichen AussagenDie rationale Lösung einer Kontroverse zu erreichenDas Befolgen von Verfahrensregeln

2.5 Die rhetorische Perspektive

Rhetorik kann verstanden werden als die Praxis und Theorie der Überzeugung anderer. Dies ist insbesondere in Situationen notwendig, in denen keine sichere Entscheidungsgrundlage zur Verfügung steht und Entscheidungsdruck herrscht. Nach Aristoteles (2002) beschreibt Rhetorik „die Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten“ (1355b26–27).

Die rhetorische Perspektive untersucht Argumentation aus einem Prozessblick. Argumentation wird danach verstanden als ein kommunikatives Verfahren in Rede- oder Gesprächssituationen, das durch Begründungshandeln entweder Überzeugung beim Gegenüber oder aber auch die Verschärfung von Streitpunkten erreichen will. Argumentation dient aus diesem Blickwinkel der PersuasionPersuasion eines Publikums oder von Interaktionsteilnehmerinnen.

PersuasionPersuasion bezeichnet „bewusste Versuche, Verhalten mit Hilfe von Zeichen zu beeinflussen“ (Schönbach, 2016, S. 17). Anzufügen wäre hier, dass es nicht nur um die Beeinflussung von Verhalten, sondern auch von Einstellungen gehen kann.

Der Begriff der PersuasionPersuasion umfasst zwei Bedeutungen und Konzepte: das Konzept des ÜberredenÜberredens und das des ÜberzeugenÜberzeugens. Die Unterteilung in ÜberredenÜberreden und ÜberzeugenÜberzeugen bringt immer eine Wertung mit. Unter ÜberzeugenÜberzeugen kann man die Form der PersuasionPersuasion verstehen, die auch vom Rezipienten reflektiert wird. ÜberredenÜberreden wird hingegen in der Regel als ein Persuasionsprozess verstanden, in dem „das Bezugssystem des Hörers kurzgeschlossen wird“ (Geißner, 1988, S. 154). Das heißt, die Hörerin ändert zwar kurzfristig ihre Einstellung und/oder ihr Verhalten, sollte es jedoch zu einer genaueren Prüfung kommen, revidiert sie die Änderung in Einstellung und/oder Verhalten möglicherweise schnell wieder (wenn sie sie nicht ändert, ist sie nun überzeugt). Diese Unterscheidung von ÜberredenÜberreden und ÜberzeugenÜberzeugen wird in der Diskussion der einzelnen rhetorischen Ansätze noch relevant werden.

Ein gutes Argument ist aus rhetorischer Sicht ein effektives Argument, eines mit dem die Sprecherin ihre Ziele erreicht. Das Interesse der rhetorischen Perspektive wäre nun zu analysieren, welche argumentativen Verfahren Teilnehmerinnen nutzen, um möglichst erfolgreich zu agieren.

JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch – auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen.

JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

Aus Sicht der rhetorischen Perspektive ist hier interessant, dass Juror 3 sich nur auf einen Teil der Argumentation von Juror 8 bezieht und ihn versucht zu entkräften, nicht aber auf die anderen Teile, die ebenso die Konklusion von Juror 8 stützen: „das ist kein gutes Sprungbrett für’s Leben“. Allerdings macht Juror 3 auch nicht explizit, ob er meint, dass durch dieses Gegenargument das gesamte Argument von Juror 8 oder nur ein Teil als widerlegt zu gelten hat.

Die Frage, was aus einem Grund einen guten Grund macht, ist für die rhetorische Perspektive nicht einfach zu beantworten. Es ist eine Frage, die Rhetorikerinnen in der Argumentationswissenschaft immer wieder umtreibt. Einerseits könnte man sagen, dass die rhetorische Perspektive ein klares Kriterium vorgibt: die Akzeptanz durch das Gegenüber. Wenn das Gegenüber das Argument akzeptiert und daraufhin seine eigene Position korrigiert, war die Argumentation effektiv. Ein Argument, das vom Gegenüber nicht akzeptiert oder zumindest als relevant eingeordnet wird, kann keine Wirkung entfalten, wäre also ineffektiv. Dies würde aber andererseits auch bedeuten, dass Argumente, die auf Lügen, persönlichen Angriffen oder Drohungen beruhen, als „geltend“ eingeordnet würden, nur weil sie akzeptiert werden. Wirksamkeit und Geltung würden so gleichgesetzt, eine Gleichsetzung, die zumindest dann problematisch ist, wenn Argumentation als besonderes kommunikatives Mittel zur Entscheidungsfindung gilt. Fast alle Theoretikerinnen rhetorischer Ansätze haben sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und Lösungen entwickelt: Toulmin (1958) mit dem FeldkonzeptFeldToulmin, Perelman und Olbrechts-Tyteca (2004a, 2004b) mit dem Konzept des Universellen Publikums und Habermas (1981) mit dem Konzept der Idealen Sprechsituation. Zugleich ist der Ansatz, Argumentation aus einer Prozesssicht so zu beschreiben, wie sie auftritt, ohne sie sofort in ein normatives Modell einzuordnen, wichtig. Nur so können Theorien zur Argumentation für die Analyse von authentischem, argumentativem Diskurses relevant gemacht werden.


Perspektive/Modell/ AnsatzFormaler Aspekt: Wie ist ein Argument aufgebaut?Funktionaler Aspekt: Welche Funktion hat Argumentation?Gute Gründe: Wie bestimmt sich die Geltung/Gültigkeit eines Arguments?
Logische PerspektiveVon wahren Aussagen auf wahre Konklusionen zu schließen
Dialektische PerspektiveAus wahrscheinlichen AussagenDie rationale Lösung einer Kontroverse zu erreichenDas Befolgen von Verfahrensregeln
Rhetorische PerspektiveAus wahrscheinlichen AussagenDie Überzeugung/Überredung des GegenüberDurch Akzeptanz? Ja, aber nicht nur …

2.6 Probleme der Unterteilung in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive

Die Schwierigkeit, den Status von argumentativer Geltung aus der rhetorischen Perspektive genau zu benennen, weist auf ein Problem des heuristischen Modells der drei Perspektiven auf Argumentation hin. Auch wenn es möglich ist, die drei Ebenen analytisch zu trennen, so werden die Grenzen in der Praxis doch immer wieder verwischen. In der Analyse von authentischer Argumentation ist oft insbesondere zwischen rhetorischer und dialektischer Perspektive nicht klar zu unterscheiden.

 

Die Differenzierung des Argumentationsbegriffs in drei Perspektiven ist nicht unumstritten. Sie ist kritisiert worden, da sie suggerieren könnte, es gäbe nur drei Perspektiven, aus denen Argumentation untersucht werden kann und diese drei seien in sich geschlossen (Gilbert, 2014; Johnson, 2009). So gibt es sicher nicht nur eine rhetorische, eine dialektische oder eine logische Perspektive, sondern innerhalb dieser Trias wiederum verschiedene, auch widerstreitende Ansätze. Zudem sind die verschiedenen Ansätze in sich nicht klar abgeschlossen, wie später in den Kapiteln zu dialektischen und rhetorischen Ansätzen zu sehen sein wird.

Blair (2012) hat die Einteilung grundsätzlich kritisiert, da er zum einen davon ausgeht, dass die Perspektiven sich nicht genau trennen lassen, zum anderen feststellt, dass einige Autorinnen beispielsweise unter „rhetorischer Argumentation“ eher einen bestimmten thematischen Bereich und keine analytische Perspektive verstehen: Diskurse, in denen die WahrscheinlichkeitWahrscheinlichkeit von Aussagen dominiert und dennoch Entscheidungen getroffen werden müssen, wie im politischen Diskurs. Blair selbst vertritt die Sichtweise, dass die rhetorische Perspektive auf die Rede und die dialektische Perspektive auf das Gespräch bezogen sein sollte und die Logik in beiden Bereichen die Normen bereitstellt, nach denen die Geltung der Argumente analysiert werden kann (vgl. Blair, 2012, S. 13). Jørgensen (2014), Vertreterin einer eher rhetorischen Sichtweise, antwortete darauf mit der Feststellung, dass insbesondere die Charakterisierung der rhetorischen Situation durch die Rede sowie die eher antiquiert wirkende Beschreibung von Redesituationen als monologisch und nicht-interaktional einem modernen Rhetorikverständnis und Verständnis von öffentlicher Rede nicht gerecht werden. Zugleich lehnt aber auch Jørgensen den Begriff der Perspektive ab, zumindest soweit er einen essentiellen Unterschied zwischen den einzelnen Perspektiven festschreibt (vgl. Jørgensen, 2014, S. 153). Jørgensen schlägt vor den Begriff der Perspektive durch den des Feldes zu ersetzen, im Sinne eines logischen, dialektischen und rhetorischen Feldes (vgl. S. 154, 162). Nun ist der Feldbegriff in der Argumentationswissenschaft klar besetzt durch den FeldbegriffFeldToulminFeldToulmin bei Toulmin (siehe Kapitel 4.2.1). Davon abgesehen erlaubt der Begriff der Perspektive aber auch einen analytischen Zugriff, der in der Behandlung des Beispiels deutlich geworden ist: Derselbe Text, dasselbe Gespräch, dieselben Aussagen können aus verschiedenen Blickwinkeln mit den dazugehörigen theoretischen Implikationen untersucht werden, ohne dass eine Perspektive besser oder angemessener wäre. Es ist aber durchaus möglich, dass eine Perspektive sich in einem bestimmten Fall als „interessanter“ herausstellt, d.h. neue Erkenntnisse bringt. Aus dieser Sicht ist die Heuristik der drei Perspektiven hilfreich, um einen Zugang zur Argumentationswissenschaft zu ermöglichen und das Feld zu ordnen, um den eigenen analytischen Zugang zu klären und um die scheinbare Inkompatibilität verschiedener Ansätzen aufzulösen. Gleichwohl bleibt es eine Heuristik.

3 Die dialektische Perspektive

Aus der dialektischen Perspektive wird Argumentation als dialogisch gesehen (im Gegensatz zur logischen Perspektive) und ist bestimmt durch eine normative Herangehensweise, die authentische Argumentation nach externen Maßstäben und Regelkatalogen einordnet und bewertet (im Gegensatz zur rhetorischen Perspektive). Die Art dieser Regeln ist je nach Ansatz unterschiedlich, wobei es breite Überschneidungen gibt. Im Folgenden sollen die Hauptströmungen der dialektischen Perspektive vorgestellt werden: die Informelle LogikInformelle Logik und daran anschließend die Theorie der Fehlschlüsse, die Diskurstheorie Habermas’, die Normative PragmatikNormative Pragmatik, die Normen für Diskussionen bei Naess und die Pragma-Dialektik. Wie im vergangenen Kapitel ausgeführt, sind die drei Perspektiven auf Argumentation – Logik, Dialektik und Rhetorik – nicht immer trennscharf. Hinzu kommt, dass einige Ansätze um eine Verbindung und Integration von dialektischem und rhetorischem Zugriff bemüht sind. Diese „verbindenden“ Ansätze – zum einen das Konzept des strategic maneuvering<i>strategic maneuvering</i> aus der Pragma-Dialektik und zum anderen die Verbindung von Informeller Logik und Rhetorik bei Tindale – werde ich am Ende des Kapitels vorstellen.

3.1 Informelle Logik

Die Wurzeln der Informellen Logik liegen in der Praxis des Unterrichtens von Argumentationstheorie. Ihr Ansatz hat sich in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts innerhalb der Philosophie in Abgrenzung zur formallogischen Analyse von Argumentation entwickelt. Neben dem didaktischen Gründungsimpuls identifizieren Blair/Johnson (1987) mit den Argumentationstheorien von Stephen Toulmin sowie Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca noch einen zweiten. Diese Ansätze markieren eine rhetorische (oder dialektische, doch dazu später) Wende in der Argumentationswissenschaft, indem sie abkehren von der Beschreibung und Analyse von Argumentation aus Sicht der Formalen Logik (für eine weitere Diskussion vgl. Kapitel 4.2). Die Informelle LogikInformelle Logik folgt diesen Ansätzen in ihrem Statement „that formal deductive logic is not the logic of argumentation“ (Blair & Johnson, 1987, S. 147). Der Impuls für die Etablierung der Informellen Logik war also die Unzufriedenheit einiger Wissenschaftlerinnen mit den Methoden, die die Formale LogikLogikformale zur Analyse natürlichsprachlicher und authentischer Argumentation bietet. Dieser Impuls, zentral getragen von J. Anthony Blair und Ralph Johnson, entsprang den Seminarräumen der US-amerikanischen und kanadischen Universitäten.

Blair/Johnson (1987) definierten die Informelle LogikInformelle Logik anfangs folgendermaßen: „We believe that informal logic is best understood as the normative study of argument. It is the area of logic which seeks to develop standards, criteria and procedures for the interpretation, evaluation and construction of arguments and argumentation used in natural language“ (S. 148). Diese schon ältere, aber bei Weitem nicht veraltete Definition – Blair/Johnson (2000) nennen sie genauso in einem späteren Überblicksartikel – macht deutlich, warum die Informelle LogikInformelle Logik in den Bereich der dialektischen Perspektive auf Argumentation eingeordnet wird. Es geht ihr um die Untersuchung des Verfahrens und damit um die Entwicklung von Normen für gültige, natürlichsprachliche Argumentation. Zugleich beschreiben Blair/Johnson (1987) die Informelle LogikInformelle Logik aber auch als einen Zweig der Logik. Auch Pinto (2009) ordnet die Informelle LogikInformelle Logik in die logische Perspektive ein.

Tindale (2013, S. 10) folgt in seiner sehr zu empfehlenden Einführung in die Informelle LogikInformelle Logik weitestgehend der Bestimmung von Blair/Johnson (1987), wenn er die Position der Informellen Logik mit folgenden Forschungsinteressen beschreibt:

 das Interesse an AlltagsargumentationAlltagsargumentation,

 das Interesse an den Kriterien für gute Argumente und Argumentation,

 das Interesse für die Theorie der Fehlschlüsse

 sowie das Interesse für die Verpflichtungen der Teilnehmer innerhalb einer Argumentation.

Der letzte Punkt macht deutlich, dass die Informelle LogikInformelle Logik, im Gegensatz zur Formalen Logik, Argumentation grundsätzlich als dialogisch konzipiert: Argumentieren ist hier etwas, das mindestens zwei Personen miteinander tun. Das Ziel von Ansätzen innerhalb der Informellen Logik ist also immer ein Abgleich von natürlichsprachlicher Argumentation mit Normen oder Standards guter Argumentation. Gute Argumentation wird dabei, anders als in den logischen Ansätzen, nicht mehr über formallogische ValiditätValidität der Schlussverfahren bestimmt, sondern über drei Kriterien (vgl. Tindale 2013):

 RelevanzRelevanz

 HinlänglichkeitHinlänglichkeit

 AkzeptabilitätAkzeptabilität

Ein gutes Argument, eingebettet in einen argumentativen Austausch, muss relevant sein in Bezug auf die Fragestellung, ausreichend sein in der Stützung der Konklusion und es muss akzeptabel sein. Hier ließe sich die Frage anschließen: Akzeptabel für wen? Diese Diskussion wird in 3.7 wieder aufgenommen.

Die Hinwendung zu der Frage, wie Geltung in natürlicher Argumentation beschaffen sein kann, hat in der Informellen Logik zu einer starken Beschäftigung mit der Theorie der Fehlschlüsse geführt. Diese ist einer der zentralen Bereiche der Informellen Logik geworden. Dabei ist zum einen die Diskussion der einzelnen Arten von Fehlschlüssen von Interesse, zum anderen aber auch die Frage, was die FehlschlüssigkeitFehlschlüssigkeit eines Arguments ausmacht (siehe dazu Kapitel 3.2).

Die Informelle LogikInformelle Logik ist ein normativer Ansatz. Sie entwickelt Standards und Normen für natürlichsprachliche Argumentation. Ein Hauptgegenstandsbereich ist die Forschung zu Fehlschlüssen.

Da sich die Informelle LogikInformelle Logik auf natürliche Argumentation und den Austausch von Argumenten konzentriert, bekommt die Dialogizität von Argumentation eine besondere Bedeutung, die sie in der Formalen Logik nicht hat. Eine Ausnahme in der Formalen Logik bildet das Konzept der Dialogischen LogikLogikdialogische von Lorenzen und Lorenz (1978), das Argumentation innerhalb der Logik als dialogisch, mit einem OpponentOpponenten und ProponentProponenten modelliert, sich aber nicht auf natürlichsprachliche und alltagssprachliche Argumentation konzentriert. Doch grundsätzlich ist das dialogische Prinzip ein Merkmal, durch das sich Ansätze zur Argumentation von der Formalen Logik abgrenzen. Das dialogische Prinzip verbindet die Informelle LogikInformelle Logik mit anderen dialektischen Ansätzen. Innerhalb der Informellen Logik ist daher auch der DialogDialog als Ort der Argumentation ausgearbeitet und weiter spezifiziert worden.

Beispielhaft soll dazu das DialogDialog-Modell von Douglas Walton (2010) vorgestellt werden. Walton führt 1995 gemeinsam mit Krabbe ein Modell von sechs DialogtypenDialogtypen ein, die mit bestimmten Zielen und Formen der Beweispflicht verbunden sind. Ein Dialog bestimmt sich dabei nach Walton durch einen Ablauf in drei Schritten: einer Eröffnungsphase, einer argumentativen Phase und einer Abschlussphase (vgl. 2010, S. 1). In der Publikation von 2010 bezieht Walton einen siebten Dialogtypus ein. Die gesamte Einteilung ist theoretisch begründet und normativ konstruiert. Walton unterscheidet hier zwischen den Zielen der Teilnehmerinnen an einem Dialog und der Funktion der Dialogform.

Waltons (2010) sieben DialogtypenDialogtypen mit ihren verschiedenen Aufgaben und Zielen:


Type of DialogueInitial SituationParticipant’s GoalGoal of Dialogue
Conflict of opinionsPersuade other partyResolve or clarify issue
InquiryNeed to have proofFind and verify evidenceProve (disprove) hypothesis
DiscoveryNeed to find an explanation of factsFind and defend a suitable hypothesisChoose best hypothesis for testing
NegotiationConflict of interestGet what you most wantReasonable settlement both can live with
Information-SeekingNeed informationAcquire or give informationExchange information
DeliberationDilemma or practical choiceCo-ordinate goals and actionsDecide best available course of action
EristicPersonal conflictVerbally hit out at opponentReveal deeper basis of conflict

Abb. 1 Dialogtypen nach Walton (2010, S. 13)

 

Die Typologie trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht alle Diskursformen, in denen argumentiert wird, den gleichen Bedingungen unterliegen. Interessant sind an diesem Modell möglicherweise weniger die Typen an sich, sondern die Übergangsbereiche zwischen den einzelnen Typen. Genau an den Übergangsstellen können Probleme in der Argumentation auftreten. Dies lässt sich an einem Ausschnitt des Beispiels zeigen.

JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen!

JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu?

JUROR 10: Ach Sie – Sie sind ein ganz geriebener Gauner …

JUROR 1: Aber, aber, meine Herren! Immer mit der Ruhe!

JUROR 7: Lassen Sie ihn doch reden! Tief durchatmen, entspannen!

JUROR 10: Er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, Sie werden schon sehen –

JUROR 1: Gut, gut, wir sind doch nicht da, um uns zu streiten. Wer kommt dran?

Der Dialog entspricht wohl am ehesten dem Typus der Beratung (deliberation), da es darum geht, eine Entscheidung zu treffen. Man könnte auch dafür argumentieren, dass es sich eher um eine Untersuchung (inquiry) handelt. Allerdings liegen in einer Beratung von Geschworenen die Beweise bereits vor und müssen von ihnen „nur noch“ gewichtet werden. Interessant ist jetzt die Äußerung von Juror 10, der Juror 8 vorwirft ein „ganz geriebener Gauner“ zu sein. Hier könnte die Beratung (deliberation) in einen eristischen Dialog umschlagen. Das scheint auch Juror 1 zu befürchten, wenn er die Juroren zur Ordnung ruft und etwas später sagt: „Wir sind doch nicht da, um uns zu streiten.“ Die Äußerung des Jurors 10 könnte also als Versuch gesehen werden, den Dialogtypus zu ändern bzw. Anteile eines anderen Typus in den der Beratung zu implementieren. Die Nutzung von Äußerungen im „falschen“ Dialogtyp würde nach Walton einen FehlschlussFehlschluss darstellen. Damit ist FehlschlüssigkeitFehlschlüssigkeit nicht durch die spezielle Form eines Argumentes bestimmt, sondern dadurch, dass ein Argument im „falschen“ Dialogtyp genutzt wird.

Was innerhalb der Informellen Logik unter Argumentation verstanden wird, ist am Beispiel der Dialogtheorie Waltons deutlich geworden: Argumentation ist dialogisch, findet zwischen verschiedenen Beteiligten statt, ist aber normativ eingebettet in bestimmte Verfahrensregeln. Die Frage, wie sich Geltung konstituiert, ist für die Informelle LogikInformelle Logik nicht insgesamt zu beantworten, sondern wird stark diskutiert. Welche Rolle spielen die Kriterien RelevanzRelevanz, HinlänglichkeitHinlänglichkeit und AkzeptabilitätAkzeptabilität, die oben bereits genannt wurden? Welche Rolle spielen WahrheitWahrheit und EffektivitätEffektivität in diesem Zusammenhang? Diese Diskussion soll am Beispiel der Debatte um Johnsons Veröffentlichung „Manifest Rationality“ (2000) dargestellt werden. Johnson, eine der Gründungsfiguren der Informellen Logik, entwickelt in seinem Buch, auf der Grundlage der Geschichte der Informellen Logik, eine Theorie der Argumentation, die zentral auf dem Begriff der dialectical tier fußt. Dieser lässt sich am besten übersetzen als ‚dialektische Ebene‘ innerhalb der Argumentation. Diese dialektische Ebene bezieht sich darauf, dass Argumentationspartnerinnen innerhalb ihrer Argumentation die möglichen Einwände und Gegenargumente einbeziehen müssen. Dieses Einbeziehen möglicher Gegenargumente bestimmt die Qualität der eigenen Argumente. Johnson (2000) definiert Argument folgendermaßen:

An argument is a type of discourse or text – the distillate of the practice of argumentation – in which the arguer seeks to persuade the Other(s) of the truth of the thesis by producing the reasons that support it. In addition to this illative core, an argument possesses a dialectical tier in which the arguer discharges his dialectical obligations (S. 168).

Ein Argument ist hier also das Produkt – distillate – von Argumentation. Es bestimmt sich nicht nur durch die Schlussbeziehung (illative core), sondern auch durch dialektische Verpflichtungen. Diese sind, wie oben beschrieben, gefasst als die Aufnahme von Gegenargumenten in die eigene Argumentation, eine Aufnahme, die, so Johnson (2000, S. 166), die erwartbaren Gegenargumente (standard objections) berücksichtigen muss. Wichtig ist hier, dass sich ein Argument nicht durch die dialektische Ebene von anderen Argumenten abgrenzt, sondern durch diese Ebene erst zu einem guten Argument wird. Weiterhin wird WahrheitWahrheit zu einem wichtigen Kriterium für Argumentation. Die Teilnehmerinnen wollen einander nicht von der Plausibilität oder Akzeptabilität ihrer Thesen überzeugenÜberzeugen, sondern von deren WahrheitWahrheit.

Tindale (2002) kritisiert an Johnsons Ansatz, dass hier die Kriterien für gute Argumente innerhalb der Informellen Logik – RelevanzRelevanz, HinlänglichkeitHinlänglichkeit und AkzeptabilitätAkzeptabilität – um WahrheitWahrheit erweitert werden (vgl. S. 303). Man könnte sagen, dass Johnson damit das Konzept argumentativer Geltung stärker in Richtung der Formalen Logik bewegt und damit weg von eher rhetorischen Konzepten. Zudem ist bemerkenswert, dass bei ihm nur schriftlicher Diskurs in den Bereich der Argumentation einbezogen wird, was große Bereiche – Alltagsgespräche und auch politische Debatten – außen vor lässt. Sicher lassen sich mündliche und schriftliche Argumentation voneinander unterscheiden, mit der Definition Johnsons wird der mündliche Bereich des BegründungshandelnsBegründungshandeln in Bezug auf einen strittigen Punkt aber als nicht-argumentativ etikettiert (vgl. zu einer weiterführenden Kritik auch Tindale, 2002). Diese Diskussion mag andeuten, dass es nicht möglich ist, zu sagen, wie Geltung innerhalb der Informellen Logik insgesamt bestimmt wird, sondern „nur“, welche Diskussionslinien sich zu diesem Thema ausmachen lassen.