Argumentation

Text
Aus der Reihe: narr studienbücher
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2.1.4 Argumentieren und Erklären

Der Grad an AgonalitätAgonalität zwischen verschiedenen Formen der Argumentation kann variieren und StrittigkeitStrittigkeit auch implizit angenommene StrittigkeitStrittigkeit sein. Aber wie unterscheiden sich dann Argumentieren und ErklärenErklären? Ist Begründen innerhalb einer Argumentation nichts anderes als die Erklärung, warum die Konklusion zu Recht besteht? Wenn man ErklärenErklären und Argumentieren in Verbindung bringt, dann ist Argumentation eine spezifische Form des ErklärensErklären, die Klein (2001) als „ErklärenErklären-warum“ bezeichnet. Aus Perspektive der SprechakttheorieSprechakttheorie gleichen sich ErklärenErklären-warum und Argumentieren dahingehend, dass beide konklusive Sprechhandlungen vollziehen (S. 1309), d.h. sie etablieren Schlüsse zwischen verschiedenen Aussagen. Sie unterscheiden sich aber, so Klein (2001), in ihrer pragmatischen Funktion. So geht es beim ErklärenErklären-warum um das „Explizieren des Zustandekommens von Sachverhalten“ (S. 1316), wohingegen Argumentieren auf „problematische Geltungsansprüche“ (S. 1316) bezogen ist. Nach Morek (2012) unterscheiden sich beide Formen durch die epistemische Haltung, die die Beteiligten zu ihren Aussagen einnehmen: Beim ErklärenErklären ist diese durch Gewissheit gekennzeichnet, beim Argumentieren durch Verhandelbarkeit. Allerdings ist die klare Bestimmung von Äußerungen als Argumentation oder Erklären-warum nicht immer möglich. Äußerungen können durchaus beide Funktionen vereinen. Deppermann (2006, S. 14) betont, dass sich die verschiedenen Bereiche Argumentieren, ErklärenErklären und semantisches Explizieren häufig nicht klar trennen lassen bzw. Äußerungen sich mehreren Kategorien zuordnen lassen. Analytisch sind ErklärenErklären-warum und Argumentieren also möglicherweise durchaus trennscharf, empirisch ist das nicht immer gegeben (für die Verbindung von ErklärenErklären und Argumentieren siehe weiterführend Antaki, 1994).

2.1.5 Status von Argumentation: Funktion oder Textsorte?

In der Unterscheidung von Argumentieren und ErklärenErklären wird eine weitere grundlegende Frage in der Untersuchung von Argumentation deutlich: Lässt sich Argumentation an Hand textueller Merkmale oder über die Funktion eines Textes bestimmen?

In der Linguistik befassen sich in erster Linie die Pragmatik und die Textlinguistik mit Argumentation. Dabei wird Argumentation unterschiedlich eingeordnet: als Diskurseinheit (Hausendorf & Quasthoff, 1996), als Form der Themenentfaltung (Brinker & Sager, 2006) oder auch als VertextungsmusterVertextungsmuster (Eggs, 2008). Argumentation wird dann als ein VertextungsmusterVertextungsmuster neben den anderen Mustern NarrationNarration, Deskription und Explikation gesehen (vgl. Brinker, Antos, Heinemann et al., 2008). Grundlegend für die Einordnung von Argumentation als ein VertextungsmusterVertextungsmuster ist die Annahme, dass Argumentation durch spezifische sprachliche Verfahren gekennzeichnet ist. Als sprachliche Indikatoren für Argumentation werden häufig KonnektorenKonnektoren wie „weil“, „daher“, „da“, „deshalb“ etc. genannt. Diese markieren die Verbindung von einzelnen Aussagen im Sinne einer argumentativen Verknüpfung als Grund und Konklusion. Dabei ergeben sich allerdings einige Probleme. In natürlicher Argumentation bleiben, wie bereits dargelegt, einzelne Anteile einer Argumentation oft implizit, so dass einzelne Aussagen zwar als Teile einer Argumentation fungieren, aber nicht als solche markiert werden. Im Beispiel der „zwölf Geschworenen“ ist die grundlegende Frage, auf die sich die meisten Äußerungen beziehen, ob der Junge schuldig ist oder nicht. Diese Konklusion wird aber nicht in jedem Fall geäußert. Doch auch wenn Grund und Konklusion einer Äußerung explizit geäußert werden, müssen sie nicht durch sprachliche KonnektorenKonnektoren verbunden sein, um als argumentativer Text kenntlich zu sein. Dies zeigt sich im folgenden Beispiel:

JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

Diese Äußerung lässt sich klar als ein Komplex von Konklusion und Grund analysieren: Unsere Waisenhäuser sind okay, denn wir zahlen Steuern dafür. Dies wird aber nicht sprachlich markiert. Zudem sind sprachliche KonnektorenKonnektoren, wenn sie auftreten, oft vage (eine argumentative Verbindung kann durch sprachliche KonnektorenKonnektoren markiert werden, diese Markierung ist aber nicht hinreichend, um den Text sicher als Argumentation zu identifizieren) und polyfunktional (durch einen sprachlichen Indikator kann eine argumentative, aber auch eine explikative Verbindung angezeigt werden) (vgl. Deppermann, 2006). Die Bestimmung von Argumentation als VertextungsmusterVertextungsmuster oder Funktion von Texten ist wichtig für verschiedene aktuelle Forschungsfragen in der Argumentationswissenschaft. Dieser Aspekt wird in Kapitel 6.1 noch einmal genauer aufgenommen, wenn das Verhältnis von Argumentation und NarrationNarration diskutiert wird.

2.2 Wenzels Modell der drei Perspektiven auf Argumentation

Um das Feld stärker zu ordnen, bevor in den folgenden Kapiteln dann einzelne Ansätze genauer vorgestellt werden, soll hier das Modell der drei Perspektiven auf Argumentation von Wenzel (1980) eingeführt werden. Es wird in der Argumentationswissenschaft – nur halb im Scherz – oft auch die „Heilige Dreifaltigkeit der Argumentationstheorie“ genannt. Dieses Modell ist als Heuristik zu verstehen, d.h. es bietet klare analytische Abgrenzungen zwischen verschiedenen Bereichen. Diese Abgrenzungen sind in der Analyse natürlicher Argumentation nicht mehr so leicht zu ziehen und können verwischen.

2.2.1 Die Entwicklung des Modells der drei Perspektiven auf Argumentation

Für die Einführung des Modells von Wenzel ist es sinnvoll, sowohl einen kurzen Abriss seiner Entwicklung zu geben als auch einen historischen Rückgriff auf seine Grundlagen zu unternehmen.

2.2.1.1 Die drei Perspektiven bei Aristoteles

Das Modell der drei Perspektiven lässt sich zurückbinden an die drei Schriften, in denen Aristoteles sich zur Argumentation äußert. Von Aristoteles liegt zur Argumentation keine eigene, umfassende Beschreibung oder Theorie vor. Er thematisiert das, was wir heute unter Argumentationswissenschaft fassen, in drei seiner Schriften: der „Analytik“, der „TopikTopik“ und der „Rhetorik“. In der „Analytik“ behandelt Aristoteles logische Schlüsse, in der „Topik“ die dialektische Methode und die unterschiedlichen Topoi, die der Argumentation zu Grunde liegen können, und in der „Rhetorik“ schließlich werden das EnthymemEnthymem und ParadigmaParadigmaals Schlussverfahren als rhetorische Schlussverfahren sowie wiederum die Topik, hier mit der Unterscheidung in allgemeine und spezielle Topoi, behandelt. Dies korrespondiert begrifflich und konzeptionell mit der Unterscheidung der drei Perspektiven, die Wenzel vorgeschlagen hat. Wichtig ist aber, dass diese Unterscheidung keine aristotelische ist!

Aristoteles behandelt Argumentation in den drei Werken „Analytik“, „TopikTopik“ und „Rhetorik“. Er verfasste aber keine eigene, umfassende Theorie der Argumentation.

2.2.1.2 Von einer zu drei Perspektiven

Das Modell der drei Perspektiven auf Argumentation hat eine Entwicklungsgeschichte, die zugleich einiges über die verschiedenen Ansätze der Argumentationswissenschaft erzählt. Daher soll die Geschichte des Modells der drei Perspektiven hier etwas ausführlicher an Hand von drei Aufsätzen dargestellt werden. Interessanterweise kommen die Autoren dieser Aufsätze alle aus derselben Disziplin, den Communication Studies. Diese firmierte bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts als Speech Communication und ist die deutlich größere und stärker differenzierte Schwesterdisziplin der Sprechwissenschaft. Eine Teildisziplin der Speech Communication (wie der Sprechwissenschaft) ist die Rhetorik. Zudem waren alle drei Autoren – wie auch der Großteil der anderen rhetorisch geprägten Argumentationswissenschaftlerinnen in den USA – Leiter akademischer, universitärer Debattenteams und hatten dadurch nicht nur einen theoretischen, sondern auch einen spezifisch praktisch ausgerichteten Blick auf Argumentation.

2.2.1.3 Der Sonderfall argument<i>argument</i>

1974 hielt Wayne Brockriede einen Vortrag auf der Alta Conference mit dem Titel „Where is Argument?“. Der Vortrag (und der daraus resultierende Artikel) verortet argument an sechs Stellen. Argument ist demnach

1 „an inferential leap from existing beliefs to the adoption of new beliefs or the reinforcement of an old one“

2 „a perceived rationale to support that leap“

3 „a choice among two or more competing options“

4 „a regulation of uncertainty“

5 „a willingness to risk confrontation of a claim with peers“

6 „a frame of reference shared optimally“

In Brockriedes Ansatz wird deutlich, was weiter oben schon betont wurde. Argumentation ist immer zweierlei: die Bearbeitung von DissensDissens und die Verhandlung von Geltung. Insbesondere Punkt 1, 2 und 6 beziehen sich auf geteiltes Wissen und die Etablierung von Geltung, wohingegen sich 3, 4 und 5 eher auf die Bearbeitung von StrittigkeitStrittigkeit beziehen.

Zudem ist der Aufsatz von Brockriede exemplarisch für das terminologische Problem, das der englische Begriff argument<i>argument</i> mit sich bringt. Nicht alle der sechs Punkte beziehen sich auf Argumentation im Sinne von Begründungshandeln. So lassen sich die Punkte 3 bis 6 zwar auf Argumentation beziehen, sie sind aber nicht spezifisch für Argumentation. Sie lassen sich allgemein auf rhetorisches Handeln beziehen, innerhalb dessen argumentiert werden kann, aber nicht muss. Nun nimmt Brockriede auch nicht in Anspruch, dass die sechs Punkte Argumentation und Argumentieren abschließend definieren, dass es sich also hier um die notwendigen und hinreichenden Bedingungen handelt, um von argument zu sprechen. Die Unklarheit in Bezug auf die sechs Punkte beruht auf der semantischen Breite des Begriffs argument im Englischen, der neben Argument oder Argumentation auch agonale Interaktionsformen wie Streit oder Auseinandersetzung einbezieht.

 

Der englische Begriff argument<i>argument</i> hat eine semantische Breite, die im Deutschen nicht gegeben ist. Argument bezieht sich auf eine Interaktionsform und kann weitestgehend mit Streit übersetzt werden. Innerhalb eines argument kann argumentiert werden, dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Diesen Unterschied aufs Unterhaltsamste deutlich gemacht haben Monty Python mit dem Sketch „The argument clinic“. Das ist konzentrierte Argumentationstheorie.

2.2.1.4 Argument1 und Argument2

Drei Jahre später reagiert Daniel O’Keefe (1977) auf Brockriede mit seinem Vortrag „Two Concepts of Argument“. O’Keefe kritisiert Brockriede wegen der unklaren Begrifflichkeit, die sich durch die unterschiedlichen Bedeutungen von argument ergeben kann. O’Keefe führt eine Unterscheidung ein, die in der nicht-englischsprachigen Literatur nicht notwendig wäre, im angloamerikanischen Raum aber zu einer immer noch so benannten Unterscheidung in argument1 und argument2 führt. O’Keefe (1977) versteht unter argument1 „a kind of utterance or a sort of communicative act“ (S. 121). Dies entspricht damit dem Verständnis von Argumentation als BegründungshandelnBegründungshandeln. Argument2 auf der anderen Seite ist „a particular kind of interaction“ (S. 121), ein Verständnis, das vom deutschen Begriff Argumentation nicht abgedeckt ist. O’Keefe formuliert den Unterschied so: „An argument1 is something one person makes (or gives or presents or utters), while an argument2 is something two or more persons have (or engage in)“ (S. 121). Nun sind Streit und DissensDissens Kontexte, die Argumentation zu einem möglichen und vielleicht sogar erwartbaren, aber eben nicht notwendigen Verfahren machen. Diese Unterscheidung von O’Keefe ist vor allem im englischsprachigen Raum bis heute präsent.

Interessant ist, dass O’Keefe Brockriede zwar kritisiert, aber auch anerkennt, dass die Begriffsverwirrung einem Perspektivwechsel auf Argumentation entstammt: einer Abwendung von Argumentation als logischem Schlussverfahren und einer Hinwendung zu sozialer Interaktion, in der Argumente ausgetauscht werden, in der argumentiert wird.

2.2.2 Die drei Perspektiven auf Argumentation

1980 dann schlägt Wenzel eine Dreiteilung des Argumentationsbegriffs vor: Argumentation lässt sich, so Wenzel, aus einer rhetorischen, dialektischen und logischen Perspektive betrachten. Er schließt mit diesem Konzept explizit an die Aufsätze von Brockriede (1975) und O’Keefe (1977) an, die er als Bemühungen sieht, die konzeptionelle und terminologische Unordnung innerhalb der Argumentationswissenschaft zu ordnen. Den Grund dieser Unordnung sieht Wenzel in der Wende in der Argumentationswissenschaft, weg von formal-logischen Auffassungen von Argumentation, hin zur Untersuchung natürlich-sprachlicher Argumentation, und damit weg von ent-situierten, konstruierten Beispielen hin zu Argumentation in sozialer Interaktion.

Die Perspektiven in Wenzels Konzept – Logik, Dialektik, Rhetorik – korrespondieren wie beschrieben mit den Werken des Aristoteles, in denen er sich zur Argumentation äußert. Wenzel benennt diese drei Perspektiven als Prozess- (Rhetorik), Prozedur- (Dialektik) und Produkt- (Logik) Perspektive. Dabei handelt es sich nach Wenzel nicht um einander ausschließende Herangehensweisen, sondern um komplementäre Perspektiven, die abhängig sind vom Argumentationsverständnis und vor allem dem Erkenntnisinteresse der Forscherinnen. Die meisten Argumentationswissenschaftlerinnen werden Argumentation vorrangig aus einer Perspektive betrachten und bearbeiten, zugleich würden die meisten von ihnen aber zugestehen, dass alle drei Perspektiven nicht nur legitim sind, sondern ihre Kopplung und Integration produktiv sein kann, um Argumentation umfassend zu beschreiben und zu analysieren. Im Folgenden sollen diese drei Perspektiven näher dargestellt und am Beispiel der „Zwölf Geschworenen“ veranschaulicht werden. Die leitenden Fragen sind dabei für jede Perspektive:

Was konstituiert ein Argument? (formaler Aspekt)

Welche Funktion hat Argumentation? (funktionaler Aspekt)

Was konstituiert Gültigkeit/Geltung? (Geltungsaspekt)

2.3 Die logische Perspektive

Logik betrachten viele Autorinnen als fundamental für Argumentation, als „grundlegenden Teil der Lehre von den Methoden, Prinzipien und Kriterien […], mit deren Hilfe man gute von schlechten Argumenten unterscheiden kann“ (Beckermann, 2011, S. 2). Und auch wenn die vorliegende Einführung in die Argumentation sich stärker auf die dialektische und vor allem die rhetorische Perspektive in der Argumentationswissenschaft konzentriert, so ist die Logik doch wichtiger Bestandteil jeder Form von Argumentationswissenschaft; nicht zuletzt, weil zentrale Begriffe, mit denen Argumente und Argumentation beschrieben werden, aus der Logik stammen.

Die logische Perspektive thematisiert Argumentation aus einer Produktperspektive. Danach ist ein Argument eine Verbindung von Aussagen/Propositionen in der Weise, dass bestimmte Aussagen so verknüpft sind, dass sie eine weitere Aussage belegen können. Damit sieht eine logische Perspektive auf Argumentation auch vom Kontext ab, in dem argumentiert wird. Zudem werden Aussagen innerhalb formallogischer Argumentationstheorien von natürlicher Sprache in ein formales Zeichensystem übertragen.

JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch – auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen.

JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

Dieses Beispiel ist in natürlicher Sprache formuliert. Das Argument lässt sich bereits identifizieren, steht aber noch in seinem Kontext. Eine Rekonstruktion in der dreistelligen Argumentform würde folgendermaßen aussehen:


Übertragen in eine logische Formsprache könnten die Aussagen folgendermaßen ersetzt werden:


Damit reduziert sich das natürlichsprachliche Argument auf eine Schlussformel, die dem Kontext des Gesprächs enthoben ist. Diese ließe sich folgendermaßen formulieren: Wenn p, dann q. p! Also q.

Diese Umwandlung zeigt zwei Aspekte auf, die immer wieder an formallogischen Herangehensweisen kritisiert wurden. Zum einen entsteht durch die Übertragung von natürlicher in logische Sprache eine Reduzierung der Bedeutung. Aus potenziell vagen, mehrdeutigen Äußerungen werden eindeutige Zeichen. So steht q jetzt für die Äußerung „Waisenhäuser sind okay“. Schon diese Reduktion des ursprünglichen Textes ist nicht unproblematisch, mag in diesem Fall aber stimmig sein und ist angesichts der kurzen Äußerung wohl möglich (wobei das „unsere“ hier schon verschwunden ist und man sich streiten könnte, ob es nicht zum Argument dazugehört). Die Reduktion dieser Aussage nun auf „q“ wandelt etwas Mehrdeutiges (was genau heißt okay? Ist es das Gleiche wie gut? Oder gut genug? Und wer sind genau diese „wir“, die die Steuern zahlen? Alle im Raum? Alle Amerikaner? Alle guten Amerikaner?) in etwas Eindeutiges. Allerdings ist damit ein Einwand benannt, der nur bedingt trifft: Es geht an dieser Stelle der logischen Perspektive um die Beziehung zwischen den Aussagen, nicht um die Aussagen selbst. Hier setzt auch die nächste Kritik – möglicherweise dann nicht ganz zu Recht – an. Die logische Perspektive trifft keine Aussage über die WahrheitWahrheit oder WahrscheinlichkeitWahrscheinlichkeit der PrämissePrämissen, sondern nur über die Beziehung der PrämissePrämissen untereinander. Häufig ist es aber der Inhalt der Aussagen – in seiner Vagheit und Mehrdeutigkeit –, der die Probleme bereitet. So könnte Juror 8 hier entgegnen: Was meinen Sie denn mit okay? Die logische Perspektive kann Argumentation nicht in Bezug auf ihren Inhalt und die daraus resultierende Überzeugungskraft untersuchen und nimmt dies für sich auch nicht in Anspruch.

Zur logischen Argumentationstheorie liegen eine Vielzahl von sehr guten Einführungen vor, so z.B. Bayer (2007), der auch AlltagsargumentationAlltagsargumentation in seine Überlegungen einbezieht, Bühler (1992), Tetens (2006) zur philosophischen Argumentation, Wolff (2006) oder Walter/Wenzl (2016) in einer sehr praktischen Heranführung. Die vorliegende Einführung stellt daher die dialektische und rhetorische Perspektive in den Vordergrund. Dennoch kommt auch sie ohne grundlegende Begriffe der Logik nicht aus: So wird in der Logik in der Regel nicht von einer argumentativen Äußerung, sondern einer Aussage gesprochen. Häufig wird auch der Begriff der PrämissePrämisse genutzt. Grundlegende logische Schlussverfahren wie deduktive und induktive Schlüsse sind auch für die dialektische und rhetorische Argumentationstheorie relevant. Daher folgt hier eine Erläuterung einiger zentraler argumentationswissenschaftlicher Begriffe aus der Logik.

Prämisse:

Prämisse Eine gegebene Aussage, rekonstruierbar aus einer Äußerung innerhalb einer Argumentation. Diese Aussage wird als wahr gesetzt.

SyllogismusSyllogismus (manchmal auch deduktiver Syllogismus): Ein analytischer Schluss bestehend aus Oberprämisse, Unterprämisse und Konklusion. Teilweise findet sich auch die Terminologie ObersatzObersatz, UntersatzUntersatz, Konklusion. Die PrämissePrämissen werden als wahr behandelt. Dabei formuliert die Oberprämisse einen allgemein geltenden Satz, die Unterprämisse einen spezifischen Fall. Aus beiden folgt zwingend die Konklusion, d.h. die Prämissen beinhalten bereits die Konklusion. Ein deduktiver SyllogismusSyllogismus kann in der Konklusion also keine Informationen bringen, die in den Prämissen nicht schon enthalten gewesen wären. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Sterblichkeit Sokrates’:


Oberprämisse:Alle Menschen sind sterblich.
Unterprämisse:Sokrates ist ein Mensch.
Konklusion:Also ist Sokrates sterblich.

Der SyllogismusSyllogismus ließe sich auch in der dreistelligen Form des Arguments wiedergeben, mit der Unterprämisse als Grund, der Oberprämisse als Übergang und der Konklusion.

Deduktion:

DeduktionAusgehend von einem allgemeinen Satz wird ein Schluss für einen speziellen Fall gezogen.

Wenn im Beispiel Juror 10 argumentiert, dass der Junge ein Verbrecher ist, weil alle von „ihnen“, den Menschen aus dem Slum, geborene Verbrecher sind, ist das ein deduktiver Schluss.

Induktion:

InduktionAusgehend von einem spezifischen Satz oder einer einzelnen Beobachtung/Erfahrung wird ein Schluss für einen allgemeinen Fall gezogen.

Wenn die Geschworenen einzelne Indizien und Zeugenaussagen zusammentragen, soll aus einzelnen Beobachtungen eine Aussage für den gesamten Fall konstruiert werden: Der Junge ist schuldig/nicht schuldig. Dies ist ein induktives Schlussverfahren, allerdings nicht mit dem Ziel eine allgemeingültige Regel aufzustellen, sondern einen Schluss für diesen konkreten Fall zu finden.

Abduktion:

AbduktionDie Abduktion ist ein Schlussverfahren, das im Gegensatz zu InduktionInduktion und DeduktionDeduktion neue Erkenntnis ermöglicht. Ein überraschendes Phänomen wird mit einer neuen, allgemeinen Regel erklärt (DeduktionDeduktion), die dann über Beobachtung und Erfahrung verifiziert wird (InduktionInduktion). Für die Wissenschaftstheorie hat Charles Saunders Peirce diesen Begriff aus der antiken Analytik nutzbar gemacht.

 

Fehlschluss:

Auch TrugschlussTrugschluss oder FallazieFallazie genannt. Die Standarddefinition eines FehlschlussesFehlschluss ist: Ein Schluss der valide erscheint, es aber nicht ist. Fehlschlüsse werden gesondert im Kapitel zur Dialektik (3.2) behandelt.

Was würde es nun bedeuten, das Stück „Die zwölf Geschworenen“ aus einer logischen Perspektive zu betrachten? Wie oben gesehen, beinhaltet eine Produktperspektive auf Argumentation eher eine Perspektive auf das einzelne oder die einzelnen Argumente. Es setzt diese einzelnen Argumente nicht in Beziehung zum Kontext und zu den Teilnehmern oder dem Publikum der Argumentation. Wenzel (1980) meint mit einer logischen Perspektive auf Argumentation aber nicht unbedingt ein formallogisches Vorgehen, sondern vor allem eine Konzentration auf die Beziehung zwischen den einzelnen Aussagen. Ein gutes/geltendes/valides Argument ist demnach eins, das einen gültigen Schluss vollzieht, in dem Sinn, dass die Verbindung von PrämissePrämisse zu Konklusion einem akzeptierten Muster folgt, beziehungsweise die PrämissePrämissen die Konklusion beinhalten, so dass der Schluss von beiden PrämissePrämissen auf die Konklusion zwingend ist.

[bad img format]Im Folgenden wird jeder grundlegende Ansatz zunächst in Bezug auf die oben genannten drei Grundfragen (formaler Aspekt, funktionaler Aspekt, Aspekt der Geltung) betrachtet (vgl. auch das Onlinematerial zu diesem Buch). Für die drei Perspektiven hat Wenzel (1980, S. 124) selbst eine deutlich umfassendere Matrix konstruiert, auf die ich mich für diese drei Perspektiven beziehe.


Perspektive/Modell/ AnsatzFormaler Aspekt: Wie ist ein Argument aufgebaut?Funktionaler Aspekt: Welche Funktion hat Argumentation?Gute Gründe: Wie bestimmt sich die Geltung/Gültigkeit eines Arguments?
Logische PerspektiveAus wahren PrämissePrämissenVon wahren Aussagen auf wahre Konklusionen zu schließen