Sterben mit oder ohne Gott?

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Stefan B., 78

Es war vor langer Zeit, da wurde ich zu Stefan B. gerufen. Leidend lag er da, nackt, der Leib verstellt mit einer kindskopfgroßen Geschwulst, nur in Windeln gewickelt, ganz armselig. Der Anblick war traurig und auch unschön.

Stefan sprach kein Wort. Konnte er nicht mehr, oder wollte er nicht? Sprach ich ihn an, gab er mir kein Zeichen. Wie nur konnte ich herausfinden, was er brauchte? Sein Gesicht war sterbend. Grau und fahl mit einer spitzigen Nase. Sein Atem äusserst mühsam.

Die Pflegerin hatte keine Ahnung, ob er ein gläubiger Mann war. Auf seiner Karteikarte sei nichts erwähnt, meinte sie teilnahmslos. Mich trifft solches immer wieder, ist doch das Religiöse das Fundament eines jeden Lebens. Wie will einer ein gutes Leben haben ohne Rückbindung zum Schöpfer? Wie will sich ein leitender Berufsmann oder eine Berufsfrau, bestens ausgebildet, ein Leben lang um Menschen kümmern, wenn ihnen diese Ebene verschlossen ist?

Solche und viele ähnliche Fragen gingen mir am Anfang dieser Nacht durch den Kopf. Ich wurde hilflos, innerlich sogar leicht aufgebracht. Sollen sie doch alle leiden, dachte ich! Solch freche und ungehaltene Gedanken stiegen mir auf, und ich schämte mich tief.

Sachte deckte ich Stefan mit dem Leintuch zu, mehr weil ich diesen nackten sterbenden Anblick nicht aushielt. Aber er strampelte das Leintuch augenblicklich wieder weg. Solches Verhalten traf ich immer wieder an; oft leidet nämlich der Leib so entsetzlich, dass sogar das sanfte Berühren eines Leintuchs brennenden Schmerz auf der Haut auslösen kann. Ich setzte mich am Fußende des Bettes auf einem Stuhl.

Also wird Stefan nun die ganze Nacht durch nackt und in Windeln eingepackt vor mir liegen? Selbst nach vielen Wachenächten war es für mich nicht einfach, diesen Anblick stundenlang auszuhalten. Dann die Geschwulst am Kopf.

Wir schwiegen beide ein bisschen in die Nacht hinein. Es ist schwierig, in solchen Situationen nicht müde zu werden und sich nicht ablenken zu lassen von tausend Dingen.

Gegen Mitternacht nahm ich den „Akathistos“-Hymnus aus meinem Korb hervor. Er gehört zu jenen Kleinigkeiten, die mich stets begleiten, wenn ich in eine Sterbe-Nacht gehe. Vierundzwanzig Strophen sind’s, ein Loblied auf die Muttergottes und auf Christus. Über Jahrhunderte wurde er in den östlichen Klöstern gesungen. Neunzehn Strophen hatte ich zu Hause gelassen, fünf aber waren da. Ich begann zaghaft und leise zu summen und beobachtete Stefans Gesicht. Sein Atem wurde ruhiger, sanfter.

Als ich nach einer Weile diesen Hymnus leise mit Worten sang, stellte ich fest, dass sich der leidende Leib von Stefan entspannte. Alles an ihm wurde weicher. Ich sang und sang, eine Stunde, zwei Stunden lang und mehr. Nach und nach wandelte sich sein Klinikzimmer in eine Kapelle, erfüllt vom Geiste Christi und Mariens.

Da, plötzlich füllten sich seine sterbenden Augen mit Wasser. Eine Träne rann ihm über die Schläfe aufs Kissen. Eine zweite folgte, und daraus gab’s einen ganzen Bach.

Sachte ging ich an sein Bett. Wortlos trocknete ich Stefan sein Gesicht. Er, der stumm schien, begann zu reden:

„Singen Sie weiter, das ist so schön! Das ist genau, was ich nun brauche.“

Und also sang ich so lange wie mich meine Stimme trug, immer wieder Strophe eins bis fünf; und was in mir geschah, überraschte mich: Ich hielt den nackten, leidenden Leib von Stefan mühelos aus. Keine Abscheu mehr und keinen Widerstand, obwohl die Krankheit ihn ganz verstellte.

Wochen darauf traf ich eine Sitzwach-Kollegin einer anderen Gruppe. Jung und dynamisch war sie. Sie erzählte mir von der Nacht darauf, wie Stefan einsam und traurig gestorben war.

Ob sie mit ihm auch gebetet oder ihm gesungen habe, fragte ich scheu.

„Ah nein, solches tue ich nie“, gab sie spontan und eher unbeteiligt zur Antwort. „Ich nehme immer Kreuzworträtsel mit, damit ich nicht einschlafe.“

Mich erschütterte ihre Reaktion. Es versetzte mir einen Stich. Diese Sitzwachkollegin hatte keine Ahnung, was ich mit Stefan nachts zuvor erlebt hatte.

Anton S., 92

Die Pflegerin, die Nachtdienst hat, meint, Herr S. sei sehr verwirrt und stets nachtaktiv. Sie wüsste bald nicht mehr, was mit ihm machen, so mühsam sei er; wegen einer Lungenentzündung sei er hier, er verhalte sich aber unmöglich, nichts könne man ihm recht machen. Unruhig liege er da, schlafe nachts nicht und döse den ganzen Tag vor sich hin.

Ich versuche, mich im kühlwirkenden Zimmer zu installieren, bete wie so oft als Einstieg in die Nacht ganz im Stillen den Barmherzigkeits-Rosenkranz der Sr. Faustina Kowalska aus Polen (1905–1938; im Jahr 2000 heiliggesprochen). Sie ist meine treue Begleiterin in den Sterbenächten. Ich glaube, sie lässt mich mit dem leidenden Menschen nie allein.

Er ist nicht gesprächig, der Herr S., er mag gar nicht, und in seiner Haut ist es ihm nicht wohl. Ich habe keine Ahnung, was ihn bedrückt. Sicher ist es nicht allein die Lungenentzündung.

Leise singe ich den „Introitus“ der klösterlichen Stundengebete, mal deutsch, dann wieder lateinisch. Herr S. reagiert nicht, wehrt aber auch nicht ab. Es ist ihm einerlei, ob ich etwas mit ihm tue oder ob ich mich zurückziehe. So oder so ist er enttäuscht vom Leben, sein Zustand ist wie die letzte Glut eines Feuers, die am Auslöschen ist.



Nicht immer gelingt es, die Ursache des Traurig-Seins eines Patienten herauszufinden. Manchmal wird es einem geschenkt, manches Mal eben nicht. Geht es, so ist es Sein Werk – geht es nicht, so hat man sich in Geduld und Demut zu üben.

Also, ich habe Zeit.

Es ist für mich immer dieselbe Frage: Wie kann ich zwischen Himmel und Erde Brücke sein, damit der Schwerkranke seine Seele für Gott öffnen mag?

In diesen vielen Nächten habe ich nämlich unzählige Male erlebt, dass die Patienten nicht mehr deprimiert waren, wenn sie es zuliessen, dass sich ihre Seele für Gott öffnen konnte.

Also bestürme ich die Sr. Faustina und die Muttergottes in der Stille meines Herzens, uns beiden jetzt beizustehen.

Gegen halb zwölf frage ich Herrn S.:

„Möchten Sie, dass wir miteinander beten?“

Ich weiß nicht eigentlich, warum ich in letzter Zeit so direkt frage. Er schaut mich mit seinen Schlitzaugen an und sagt:

„Wir können ja – vielleicht schadet es nichts!“

Herr S. setzt sich auf den Bettrand, eine mollige jahrzehntealte Strickjacke trägt er. Seine dick geschwollenen Füße berühren den Boden nicht. Seine Beine sind zu kurz. Da ich um 22.00 Uhr, als ich eintraf, nur Negatives von der Pflegerin vernahm, habe ich mich nahe vor Herrn S. hingesetzt, um ihn notfalls, wenn er vornüberkippen würde, auffangen zu können.

„Tagsüber müssen wir ihn anbinden, so unruhig und verwirrt ist er“, hat mir nämlich die Pflegefachfrau etwas spitz gesagt.

Ich beginne mit dem „Vaterunser“.

Er: „Das kann ich schon. Ich möchte das Glaubensbekenntnis beten, das kann ich nicht mehr.“

Also beginne ich damit; sehr langsam und sehr gesammelt versuche ich das zu tun, im Wissen, dass es nur gelingt, wenn das Einwirken des Himmels mit dabei ist und ich all meine Wünsche beiseitelasse. Herr S. spricht Wort für Wort nach. Er will dieses Gebet lernen. Man muss sich das vorstellen: Wie in der Schule will er in seinem hohen Alter etwas auswendig lernen. Er gibt nicht nach. Und sobald er beim Wiederholen stolpert, beginnt er wieder von vorne.

Plötzlich beginnt Herr S. zu schluchzen. Es schüttelt ihn. Ich halte ihn an den Knien und sage kein Wort. Tiefe Tränen kommen da, ein Schluchzen mit 92 und nicht etwa bloß ein leises Weinen.

Nach einiger Zeit frage ich:

„Was bedeuten Ihre tiefen Tränen? Möchten Sie darüber sprechen?“

Natürlich ist das eine dumme Frage, denn ich habe schon geahnt, warum er so tief weinte, ging es doch dem Ende entgegen, wo alles auf den Tisch kommt: Das gelebte und das verpasste Leben.

Und also erzählt Herr S.:

„Als ich jung war, meinte ich, eine Berufung für einen Einsatz in der Drittwelt zu spüren. Ich komme aus einem tiefgläubigen Elternhaus. Dann aber stand ich vor der Wahl, meine jetzige Frau zu heiraten oder für einen Einsatz nach Afrika zu gehen. Nach langem Abwägen entschied ich mich zu heiraten. Ich weiß nicht, ob ich damals einen Fehler machte.

In den ersten Jahren wohnten wir in Zürich. Ich war Schneider und bekam in einer Fabrik einen Sitzplatz, was damals nicht selbstverständlich war. Für diesen Sitzplatz an der Nähmaschine hatte ich Fr. 1.50 pro Tag zu bezahlen. Ich arbeitete von 06.00–22.00 Uhr und machte in dieser Zeit zwei Sportjacken. Ich verdiente täglich Fr. 10.– minus 1.50 für den Sitzplatz. Das war eine harte Arbeit. Aber es blieb mir nichts anderes übrig.

In den Anfängen gingen wir zusammen in die Exerzitien und sonntags zur Messe. Meine Frau kam mit, zwar etwas widerwillig, aber sie kam mit. Nach wenigen Jahren schon kamen ihr die Widerstände, und sie blieb zu Hause. Ich ging allein. Aber nicht mehr sehr lange. Bald gab ich alles auf, dem Frieden zuliebe. Ich mochte ihre Bemerkungen nicht mehr hören, obwohl ich gerne weiter zur Kirche gegangen wäre.

… und jetzt, wo Sie mit mir das ‚Glaubensbekenntnis‘ beten, merke ich, wie schäbig es von mir war, dass ich kaum je mehr gebetet habe. Jetzt, wo ich am Ende meines irdischen Lebens bin, merke ich, dass ich zu viel mehr fähig gewesen wäre, da ich von meinen Eltern das rechte Vorleben hatte. Mir wird jetzt bewusst: Ich habe den Herrgott richtig im Stich gelassen.“

 

Herr S. sitzt noch immer auf dem Bettrand, gar nicht mehr aussehend wie ein 92-jähriger Sterbender. Sein Sprechen ist sehr deutlich und ausgewählt, auch seine Überlegungen sind haarscharf und kein bisschen verlangsamt. Ich denke zurück, als mir die Pflegefachfrau sagte, er sei verwirrt …

Weiter erzählt er:

„Ich zog dann mit der Familie in eine andere Stadt und bekam in einer Großschneiderei eine Anstellung und verdiente sehr gut. Da wir sehr einfach lebten, konnte ich viel sparen und kaufte dann ein eigenes Familienhaus.

Und jetzt sind wir im Altersheim. Meine Frau ist auch 92. Sie hat sehr abgebaut, ist auf dem Weg des Vergessens, seit ich in der Klinik bin. Das war ihr zu viel.“

Auf dem Nachttisch von Herrn S. liegt eine Schachtel mit Kirschstängeln. Er sucht einige für mich heraus und steckt ein paar selbst in seinen Mund. Er sagt:

„Können wir einander du sagen? Ich bin Anton! Können wir jetzt nochmals zusammen das ‚Glaubensbekenntnis‘ beten? Danach werde ich schlafen.“

Es ist inzwischen 05.00 Uhr. Anton legt sich zufrieden und dankbar hin und sagt erleichtert:

„Ich habe jetzt mit dir richtig sprechen können und habe dir Dinge aus meinem Leben anvertraut, die ich bis heute keinem Menschen gesagt habe. Das tut mir richtig gut.“

Wenn ich beschreiben müsste, was der Friede des Herrn ist, würde ich sagen, das, was ich mit Anton in dieser einen Nacht erlebt habe. Es war eine Lebensbeichte, die Anton direkt in Gottes Hände ablegte.

Edi, 27

Ein junger heroinsüchtiger Mann, Edi, ist wegen Lungenentzündung im Spital. Er ist gezeichnet von der Sucht.

Wohl hat er immer wieder auf der Gasse gelebt. Jetzt liegt er da im frisch angezogenen Klinikbett, wo er sich nicht daheim fühlt. Edi liegt kraftlos da, aber nicht nur kraftlos im Körper, nein, auch seine Seele scheint auf dem tiefsten Punkt zu sein.

Edi schaut mich an. Nicht skeptisch, aber doch ein wenig kritisch und sehr unsicher. Ich setze mich an sein Bett und gebe ihm zu erkennen, dass mir der Stress der süchtigen Menschen ein Stück weit bekannt ist aus früherer Zeit, wo ich Praktika machte in der Gassenküche, der Notschlafstelle und dem Fixerraum. So wurde das Eis zwischen uns beiden rasch gebrochen.

Darauf berichtet Edi:

„Ja, ich habe immer wieder auf der Gasse gelebt. Man wollte mir verschiedentlich helfen, doch ich meinte, es besser zu wissen.

Angefangen hat es, als mir ein Kollege anbot, mir einen Schuss in den Arm zu machen. Da es mir damals sehr schlecht ging, – ich war noch ein Schuljunge – brauchte es wenig, und ich sagte zu. In dem Moment war mir nicht klar, was mit mir geschehen war. Ich war für kurze Zeit in einer anderen Welt, wo ich meine Sorgen vergessen konnte.

Als ich wieder auf den Boden der Realität zurückkam, war mein Elend noch größer. Schnell merkte ich, dass durch diesen ersten Schuss in mir der Wunsch nach Wiederholung angerührt wurde. Und da begann der Stress: nicht zu wissen, wie man zu Stoff kommt, wie das dazu nötige Geld zu beschaffen ist und obendrein in mieser Gesellschaft zu sein, wo die Leute nicht mehr zu sich schauen konnten.

Schon nach wenigen Tagen hatte ich mein Leben nicht mehr in der Hand. Ich wurde noch labiler, als ich ohnehin schon war.“

Ich frage Edi:

„Warum waren Sie so entkräftet, dass Sie sich zum ersten Schuss überreden ließen?“

„Meine Mutter starb damals. Obwohl ich kein gutes Verhältnis zu ihr hatte, liebte ich sie doch. Und als sie starb, war mir der Boden unter den Füßen weg. Ich hatte niemanden mehr, bei dem ich ein und aus konnte. Meine Mutter hielt zu mir, auch wenn sie mich mit ihren Ratschlägen oft nervte. Ich wusste, sie würde mir die Tür immer öffnen, selbst wenn ich ganz verladen war.

Aber jetzt, jetzt ist alles anders. Ich habe zwei Brüder, aber die gehen mir wo immer möglich aus dem Weg. Die schämen sich meiner. Mit ihnen kann ich nicht reden, sie wenden sich augenblicklich von mir ab. Mit meinem Vater habe ich keinen Kontakt. Er ging von der Mutter weg, weil er eine Freundin hatte. Ich weiß nicht, was ein Vater ist.

Und so wird man älter, entkräftet sich stets mehr und kommt durchs Heroin vom wirklichen Leben immer weiter weg. Ich habe die Kraft längst nicht mehr, von dieser Sucht wegzukommen. Dazu bräuchte ich einen Willen, den habe ich nie gehabt. Durch die Sucht wird einem das bisschen, was man noch hat, genommen.

Verschiedentlich wollte man mir Methadon geben. Aber das ging bei mir nicht, denn die Sucht besteht auch aus dem Beschaffen des Geldes. Das klingt abstrus, doch das ist so.“

Lange und vieles hat Edi in dieser Nacht aus seinem traurigen kleinen Leben erzählt. Seine Worte waren nicht klar artikuliert, sein Herz tief betrübt. Es ist für mich nicht einfach, bei solchen Menschen zu wachen. Ihre Lebenssituationen brechen mir fast das Herz.

Gegen Morgen schläft Edi ein. Ein trostloser Scherbenhaufen liegt da. Was nun? Der junge Pfleger aus Kroatien hat Nachtwache. Kaum ist Edi eingeschlafen, kommt er ins Zimmer. Wir sprechen lange über Edis Situation:

„Weißt du“, meint der junge Pfleger, „wir können jetzt schon alles tun, damit Edi es gut hat bei uns und wieder ein wenig Vertrauen gewinnt. Aber wir machen die Erfahrung, dass süchtige Menschen plötzlich ihr Klinikzimmer verlassen und in die Stadt zurückkehren, natürlich längst, bevor sie vom Infekt in der Lunge auch nur annähernd geheilt sind. Und wir Pflegende? Wir bleiben zurück, ohne unsere Aufgabe zu Ende geführt zu haben.“

Der Pfleger geht wieder zurück zu seiner Arbeit und schließt die Tür. Es ist halb vier in der Nacht. Mit all meiner kleinen Kraft und Herzenswärme, über die ich um diese Zeit noch verfüge, schreie ich in meinem Innern zum Himmel. Ich bin hilflos und erschüttert. Was ich kann, ist stellvertretend für Edi zu Gott zu schreien, in der Hoffnung, dass er eines Tages doch die so dringend nötige Hilfe annehmen kann, die ihm angeboten wird und die seiner Seele den Weg in ein anderes Leben ebnen könnte.

Das jedenfalls ist bei weitem nicht Leben. Edi wird möglicherweise eines Tages sterben, ohne je gelebt zu haben. Er ist leblos, bevor er sterben wird. Wie trostlos, so eine Situation! Tief-traurig kehre ich nach dieser Nacht nach Hause zurück.

Sebastian, 83

Man sagt mir, er sei sehr aggressiv. Er hatte vor zwei Tagen eine immense Darmoperation. Alles ist verkrebst. Es fehlt ihm die Kraft, damit auch nur einigermaßen gut umzugehen.

Es ist 22.00 Uhr, und wir sind einander gegenüber, er im Bett und ich auf dem Stuhl. Lange hält Sebastian meine Hand und atmet nur oberflächlich, kaum hörbar:

„Es ist gut, dass ich diese Nacht nicht allein bin. Ich kann nicht schlafen, und so sind die Nächte endlos. Nichts für mich. Ich mag nicht mehr. Mich überkommt dann eine Angst, dass ich kaum mehr atmen kann.“

Sebastian verlangt Sauerstoff. Ich muss mich sehr konzentrieren, um sein hauchleises Sprechen zu verstehen. Erstmals kann ich mit einer Pflegerin nicht per Du sein, es gelingt mir einfach nicht. Sie ist so abweisend und gestresst.

Sebastian ist unleidig, seine Nerven liegen blank:

„Schauen Sie meinen Bauch an, alles ist kaputt. Jetzt habe ich einen künstlichen Darmausgang und in der Blase einen Katheter. Es brennt mich, und ich komme nicht zur Ruhe. Nicht nur wegen dieser Schmerzen, auch mein ganzes Leben verlief schwierig.“

Sebastian spricht verzweifelt weiter:

„Muss ich denn so mein irdisches Leben beenden? Ist das richtig, habe ich das verdient?“

Einstweilen spreche ich kein Wort. Ich höre Sebastian nur zu und beobachte während seines Klagens seine gebrechliche Gestik. Verzweifelt lässt er seine Arme auf die Bettdecke fallen. Ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit. Er möchte sich drehen, aber die Kraft dazu reicht nicht. An seinem Infusionsständer hängen sechs Flaschen, u.a. wird er künstlich ernährt.

Ich setze mich auf die Seite, wo seine Nachttischlampe brennt, denn irgendeinmal will ich den „Akathistos“-Hymnus singen, und dazu brauch ich Licht. Ich muss den Text einstweilen noch ablesen können.

„Kommen Sie auf die andere Seite“, sagt Sebastian, „ich möchte Sie sehen. Ich bin sonst so allein, und dann bricht wieder die Panik aus.“

Ob seine Aggressionen aus der Panik des Alleinseins kommen? Jedenfalls bin ich hellhörig darauf. Ich wage ihm nicht zu nahe zu kommen, denn bei aggressiven Patienten habe ich verschiedentlich gefährliche Situationen des Dreinschlagens erlebt. Schwerkranke Menschen können in ihrem Sterben eine unheimliche und unkontrollierte Kraft entwickeln.

Er streckt mir seine Hand entgegen:

„Halten Sie mich einen Augenblick, ich habe keine Orientierung mehr. Ich weiß nicht, wo mein Weg durchgeht.“

Nach fünf Minuten schläft Sebastian tief.

Ich stehe auf und betrachte das Zimmer. Ein wunderbarer Blumenstrauß steht auf dem Tisch. Keine Karte, keine Zeichnungen von Kindern. Das Zimmer wirkt kühl und reserviert. Kein Kreuz und kein Weihwassergefäss.

Die Nachtschwester kommt ins Zimmer. Jung und bodenständig ist sie. Sie macht nicht gerade leise. Natürlich wird Sebastian wach, und sein Stöhnen beginnt wieder von neuem. Nach getaner Arbeit, als sie das Zimmer wieder verlässt, ruft Sebastian ihr nach:

„Schwester, beten Sie für mich!“

Diese Gelegenheit benutze ich und frage, ob ich ihm ganz leise einen Hymnus singen solle, er sei eingeladen, sein Leben mit samt seiner Seele dem Herrn anzuvertrauen.

Etwas überrascht schaut er mich an:

„Ja, singen Sie, ich werde es dann versuchen.“

Zu Beginn des Singens ist meine Stimme immer etwas unsicher. Entweder singe ich zu hoch und finde dann die obersten Töne nicht, oder ich setze zu tief an. Es braucht jeweils ein wenig Zeit, bis es mir mühelos gelingt.

Während ich diesen Hymnus immer wieder von neuem singe, als wäre er endlos, bemerke ich, dass Sebastians Gesicht sich mehr und mehr entspannt. Er hört mit geschlossenen Augen zu. Ich meine, er würde längst schlafen. Aber dem ist nicht so. Als ich mein Singen beende, öffnet Sebastian seine Augen. Er kommt von weit her zurück und sagt:

„Wenn Sie wüssten, wie gut mir dieses Lied tut! So glücklich war ich schon lange nicht mehr.“

Er hat Tränen in den Augen, schüttelt den greisen, todmüden Kopf mit letzter Kraft und sagt vor sich hin:

„So schön also kann das Leben sein!“


Dann beginnt Sebastian weiter zu erzählen: „Ich habe meine Frau verloren, als unser zweites Kind siebenjährig war. Ich habe die beiden Kinder allein großgezogen. Es war viel, viel Arbeit. Kein Mensch weiß, warum meine Frau gestorben ist. Das bleibt ein Geheimnis.“

Es trifft mich jedes Mal neu, zu erleben, wie schwerkranke Menschen durch mein leises, so unprofessionelles Singen von geistlichen Liedern gewandelt werden. Da muss eine gewaltige Liebeskraft in solch uralten Hymnen sein! Das erstaunt nicht, denn sie sind über viele Jahrhunderte hindurch in den Klöstern von den Mönchen und Nonnen gesungen worden; die Steine der uralten Kirchen teilen uns das mit!

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