Lass uns verloren gehen

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Sie reichten sich die Hände und wieder spürte Elin dieses behagliche Kribbeln.



„Ja, gern. Auf Wiedersehen!“



„Auf Wiedersehen!“



Auf der Rückfahrt in die Eifel ließ Elin die vergangenen Stunden Revue passieren. So einen schönen Sonntag habe ich schon lange nicht mehr erlebt, dachte Elinborg dankbar.



Ich würde Herrn Berringer gerne wiedersehen, wünschte sie sich, denn er sah nicht nur gut aus, sondern strahlte eine Lebendigkeit und Wärme aus, die sie berührte. In diesem Moment fiel ihr auf, dass sie gar keine Kontaktdaten von ihm hatte. Ach, wie schade, murmelte sie.









Ich streite mich viel mit meinem Mann. Er liegt faul auf dem Sofa und ich frustriert im Bett. Mittlerweile leben wir wie in einer Wohngemeinschaft zusammen. An unseren letzten Sex kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Vielleicht fand er vor zweieinhalb Jahren statt? Wie ist es als Frau begehrt zu werden? Ich kann mich auch an das nicht mehr erinnern. Als ich im Internet auf ihre Agentur stieß und das Foto von ihm sah, stand mein Ents

chluss

fest. Ich vereinbarte ein Date mit ihm in einem Hotel. Schon Tage vorher war ich sehr aufgeregt. In meinem Bauch kribbelte es vor Vorfreude. Als ich ihn dann in der Hotellobby sah, war ich begeistert. Wir tranken etwas an der Bar. Später im Zimmer nahm er mich liebevoll in den Arm und nahm mir somit meine Nervosität. Er ist ein zärtlicher und einfühlsamer Mann. Ich erlebte wunderbare Stunden, die ich nie mehr vergessen und an die ich mich immer erinnern werde.






Kapitel 5



Am nächsten Morgen fuhr Lorenz Berringer in einer überfüllten Regionalbahn zum Düsseldorfer Flughafen. Als er im Flieger nach Wien saß, fragte er sich, ob und wann Elin Steinhausen den kleinen Zettel mit der Nachricht und der Handynummer finden würde. Am meisten beschäftigte ihn jedoch die Frage, ob sie ihn anrufen würde. Lächelnd holte er „Endstation Alexanderplatz“ aus seinem Rucksack und begann zu lesen.



Das Fotoshooting zu dem er flog war für eine Herrenbekleidungsmarke und fand in den österreichischen Alpen statt. Die Temperaturen waren unter null. In leichten Hemden und dünnen Pullovern fiel es Lorenz Berringer und den drei anderen engagierten Models schwer, vor Kälte nicht zu zittern. Das Lächeln gefror ihm beinahe auf seinen blau gewordenen Lippen ein. Für manche Fotoaufnahmen musste Lorenz sich teils mit freiem Oberkörper an einen Bach stellen oder für andere auf einem eiskalten Stein sitzen.



Der Auftraggeber stand in einem Wintermantel gehüllt und in Stiefeln hinter dem Fotografen. Wild gestikulierend und mit einem ständigen Kopfschütteln tat er seine Unzufriedenheit kund. Es mussten viele Aufnahmen gemacht werden, bis endlich die gewünschten Fotos im Kasten waren.



Wenn eines der anderen Models fotografiert wurde, wärmte sich das Männermodel mit einer Decke um die Schultern auf und trank heißen Tee. Er konnte es sich nicht erlauben, krank zu werden.



Endlich wurde die letzte Aufnahme gemacht. Es war ein Gruppenbild mit allen Models vor einer Berghütte.




Lorenz Berringer betrat die alte Fabrikhalle, die im Süden von Paris lag. Hier sollte die erste Modenschau des französischen Nachwuchsdesigners Mathieu Dubois stattfinden. An einem der zahlreichen Garderobenständer stand sein Name, die Kleider hingen auf Kleiderbügeln daran, die Schuhe standen darunter.



Das Model ging zuerst zum Hair- und Make up-Stylisten, bevor er die Kleidung anzog, die er als erstes präsentieren sollte. Wie immer herrschte hier im Backstagebereich eine Atmosphäre wie in einem Bienenstock.



Endlich waren alle Models fertig gestylt und angezogen und nahmen Aufstellung. Bei einer Modenschau war die Reihenfolge der Models sehr wichtig. Als erstes Model hatte der Designer Lorenz Berringer ausgewählt, was Lorenz stolz machte. Bevor er hinaus auf den Laufsteg schritt, zupfte Mathieu Dubois noch einmal an seinem Hemd, dann ging im Halbdunkel das Licht an, die Musik erklang. Lorenz trat hinaus auf den Laufsteg, hinein in das Scheinwerferlicht. Das Publikum applaudierte als sie ihn in dem langen silberglänzenden Mantel, der grauen Hose und der runden goldene Brille auf der Nase sahen. Er machte seine Schritte, drehte sich am Ende des Laufsteges lässig um die eigene Achse und ging den Weg zurück.



Hinter der Bühne stand Fingernägel kauend der Designer. Als das Model an ihm vorbeikam, rief er: „Très bien!“. Viel Zeit zum Umziehen hatte Lorenz nicht, rasch streifte er die Schuhe ab, zog eilig Mantel und Hose aus. Sein nächstes Outfit war farbenfroher: Eine lila Hose, türkisfarbenes Hemd, eine dunkelgraue Jacke mit Reißverschluss. Dazu trug er eine braune Tasche.



Wieder trat er auf den Laufsteg. Jedes Mal war sein Kopf leer, er konzentrierte sich ausschließlich auf seine Choreographie. Nur aus den Augenwinkel sah er das Publikum und vernahm den Applaus von weitem.



Die Modenschau endete nach fünfzehn Minuten mit tosendem Applaus. Mathieu Dubois verbeugte sich schüchtern vor dem Publikum, die Models klatschten ihm zu.



„Merci, merci“, murmelte der Designer.




Spontan blieb Lorenz noch einen Tag länger in Paris, da er momentan keine weiteren Verpflichtungen hatte. Er war schon oft in Paris gewesen. Mit seinem Schulfranzösisch konnte er sich auch gut verständigen. Das Model liebte die Boulevards, die Parks und die Cafés. Er schlenderte durch Stadt, fotographierte mit seinem Handy die Kirche Notre Dame und Sacré-Coer, die Außenfassade von Museum Pompidou und viele andere Sehenswürdigkeiten. In der Nähe der Kirche Madeleine kaufte er sich in einer Konditorei eine Schachtel der farbigen Macarons und im Kaufhaus Lafayette kaufte er sich eine neue Ray Ban Sonnenbrille.



Zufrieden stieg Lorenz Berringer am Gare du Nord in den Thalys-Zug, der nach Aachen fuhr.




Freitag:



Rückkehr nach Aachen gegen Abend



Evtl. Fitnessstudio




Samstag:



Fitnessstudio und ab 19 Uhr Geburtstagsparty von Conny im Last Exit.



Geschenk besorgen!!!




Sonntag:



Ausschlafen, Koffer packen (Wichtig: Sedcard, Mappe, Handy, Kleidung, Hygieneartikel)



Zug um 14:51 Uhr nach Frankfurt/Main



Abflug 19:45 Uhr über Paris nach Shanghai




Montag:



Ankunft 17:45 Uhr in Shanghai (Ortszeit)



Dienstag: Dreh eines Werbespots für ein Herrenparfum




Mittwoch:



Rückflug: 12:40 Uhr



Ankunft in Frankfurt/Main: 22:45 Uhr mit Übernachtung in Frankfurt/Main




Erst am Donnerstag um die Mittagszeit kehrte Lorenz Berringer nach Aachen zurück. Er war froh, nach der Asienreise ein paar Tage frei zu haben. So konnte er ausschlafen, seine Lebensmittelvorräte auffüllen, im Fitnessstudio trainieren, mit Conny an einem Abend ins Kino gehen und sich in der Buchhandlung Weyhe ein paar neue Taschenbücher kaufen.



In der Woche darauf war das Model schon wieder unterwegs. Ein Fotoshooting im Landschaftspark Duisburg-Nord für einen Sportbekleidungshersteller, zwei Castings in Hamburg und ein Fotoshooting mit Hunden in Mailand.




Freitag:



20 Uhr Maastricht Kruisherenhotel: Abendessen




Samstag:



Fitnessstudio




Sonntag:



12:51 Uhr Zug nach München (Umsteigen in Köln)



18:27 Uhr Übernachtung im InterCity Hotel




Montag:



Casting für einen Kalender in München-Schwabing



Rückfahrt um 17:27 Uhr? Sonst Übernachtung im InterCity Hotel







Kapitel 6



In den nächsten Tagen blieb Elin Steinhausen in ihrem Bauernhaus in der Eifel. Sie arbeitete viel am Schreibtisch. Kater Oskar lag bei ihr im Arbeitszimmer und schlief. Manchmal forderte er ein paar Streicheleinheiten, die sie ihm gerne gab.



Auf ihrem Schreibtisch hatte sich ein Stapel unbearbeiteter Post angesammelt. Trotz Internet schickten ihr Fans Briefe und Postkarten. Postkarten mit interessanten Motiven, die ihr gefielen, pinnte die Autorin mit Reißzwecken an die Wand, besonders ausgefallene Fanbriefe heftete sie in einem Ordner ab. Der Rest der Fanpost wanderte in den Papierkorb. Es kam vor, dass Fans eigene verfasste Texte ihr zuschickten und um ihre Meinung baten. Die Manuskripte und Exposés leitete sie allerdings gleich an den Verlag weiter. Als sie nun den Stapel Post bearbeitete, war auch wieder ein DIN A4-Umschlag von G. Lundgren dabei.



Elinborg öffnete den Umschlag, darin war ein Exposé mit einem Begleitschreiben.



„Liebe Frau Steinhausen,



ich bin ein großer Fan Ihrer Bücher! Ich liebe Kommissar Krassek! Neulich ist mir beim Bügeln eine geniale Idee gekommen: Wir beide könnten zusammen einen Krimi schreiben.



In dem beiliegenden Exposé habe ich bereits einen Handlungsentwurf geschrieben.



Kommissar Krassek ist einem Serienmörder auf der Spur, der ganz Berlin in Atem hält. Er selbst gerät in das Visier des Mörders. Mehr möchte ich nicht verraten, lesen Sie bitte selber. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Meinung.



Viele liebe Grüße



Ihre Greta Lundgren“



Elinborg legte das Schreiben und das Exposé in eines ihrer Ablagefächer.



Als sie die ersten Briefe und Texte von Greta Lundgren erhielt, fühlte sich Elinborg geschmeichelt. Engagiert antwortete sie ihr mit ausführlichen Erklärungen und Kommentaren, die jedoch von Greta Lundgren keineswegs berücksichtigt wurden. Nichtsdestotrotz bildete sich Greta Lundgren ein, großes Talent zu haben und die zukünftige neue schwedische Bestsellerautorin zu sein. Allerdings war ihr Schreibstil alles andere als bestsellerverdächtig, wie Elin urteilte. Mittlerweile schrieb Elinborg ihr nicht mehr zurück.

 



Nach der Postbearbeitung postete die Krimiautorin etwas auf ihrer eigenen Website. Sie schaute aus dem Fenster und sah, dass die Sonne schien. Eigentlich müsste sie noch auf ihrer Facebookseite etwas posten, aber dazu hatte sie keine Lust mehr. Viel lieber würde sie jetzt die Zeit im Garten verbringen. Kurzerhand zog sie eine alte Jeans an und streifte sich Gartenhandschuhe über. Zum Ausgleich zu der Schreibtischarbeit war Elinborg nämlich gerne im Garten tätig. Während der Gartenarbeit ließ sie sich von der Natur inspirieren, deshalb lag immer ein Notizblock und ein Stift in Reichweite.



Ihr neustes Gartenprojekt in diesem Frühjahr war das Anlegen einer Blumenwiese. So grub sie an diesem regenfreien Apriltag, die von ihr im Garten ausgesuchte Fläche mit einem Spaten um. Als sie gerade die groben Erdklumpen zerkleinerte, rief ihr Mann Bernd von der Terrassentür ein „Hallo!“ zu. Sie winkte nur zurück, denn einen Begrüßungskuss gab es schon seit Jahren nicht mehr. Er verschwand wieder im Haus.



Mit einer Harke ebnete sie die Fläche. Während Elin das Saatgut in die Erde einharkte, stellte Bernd ein Weinglas auf den Tisch und setzte sich in einen Gartenstuhl. Er schlug die Tageszeitung auf und begann zu lesen.



Nachdem Elin die Gartengeräte zurück ins Gartenhäuschen gestellt hatte, fragte sie: „Wie kommt es, dass du schon zuhause bist? Ich hatte dich gar nicht so früh erwartet.“



Er antwortete hinter der Zeitung: „Die Verhandlung ist verschoben worden, da der Richter krank geworden ist. Sehr ärgerlich!“



Zu Elinborgs Überraschung erkundigte sich ihr Mann nach der Lesung in Aachen. Normalerweise interessierte sich Bernd nicht für ihre Schriftstellerarbeit, daher berichtete sie ausführlich: „Die Lesung hat wie immer viel Spaß gemacht. Es waren zwar nicht so viele Leute da, aber ich hatte den Eindruck, dass es Ihnen gefallen hat. Ich musste auch viele Bücher signieren. Nach der Lesung hat es sich ergeben, dass ich noch mit einem jungen Mann aus dem Publikum zusammen Mittag gegessen habe.“



Bernd trank einen Schluck Wein.



„Wirklich? Wer war denn dieser Mann?“



„Er heißt Lorenz Berringer und war sehr nett. Wir haben uns über Krimis unterhalten.“



Bernd schaute kurz hinter der Zeitung hervor: „Über was solltet ihr euch denn sonst unterhalten, als über Bücher. Übrigens: Der Wein ist ausgezeichnet. Wo hast du den gekauft?“



Elinborg stöhnte innerlich auf: „Das weiß ich nicht mehr. Es kann auch sein, dass der Wein ein Geschenk von Dietmar und Marianne war.“




Elinborg hatte das Thema Hillesheim bereits angesprochen, jedoch keine Antwort von ihrem Mann erhalten. Das missfiel ihr sehr, daher sprach sie es beim Abendessen erneut an.



„Wirst du nun mit nach Hillesheim kommen?“, fragte sie mit einem leicht genervten Unterton.



Bernd legte eine Scheibe Käse auf das Vollkornbrot und biss hinein, mit vollem Mund, fragte er: „Was war nochmal in Hillesheim? Eigentlich hatte ich mich mit Dietmar zum Golfen verabredet.“



„Hillesheim nennt sich selbst Krimihauptstadt Deutschlands. Der Ort ist hier in der Eifel, südlich von uns gelegen. Am kommenden Wochenende wird in dem bekannten Krimihotel ein Krimi-Schreibworkshop stattfinden. Ich bin als Beraterin eingeladen worden und lese aus `Endstation Alexanderplatz´ vor. Das Honorar ist zwar nicht der Rede wert, aber der Veranstalter bezahlt die Übernachtung.“



Bernd verdrehte die Augen: „Was ist ein Krimihotel?“



„Ein Hotel, in dem die Zimmer individuell eingerichtet sind. Ich oder wir würden im Kommissar Maigret-Zimmer übernachten.“



„Kommissar Maigret? Wer ist das denn?“



Bernd las keine Krimis, daher kannte er auch nicht die, von dem belgischen Schriftsteller Georges Simenon, ins Leben gerufene Figur.



Elinborg spülte ihre Verärgerung mit einem Schluck Kräutertee hinunter und klärte ihren Mann auf.



Genervt entgegnete Bernd: „Was soll ich so lange machen, wenn du bei diesem Schreibworkshop bist?“



„Du könntest in das Kriminalhaus mit dreißigtausend Krimis gehen oder in die ortsansässige Buchhandlung oder dich in ein Café setzen. Oder du könntest auch einfach nur spazieren gehen. Du musst dich auch mal entspannen und deine Gerichtsverfahren vergessen und golfen kannst du auch ein anderes Mal.“



Als ob er nur auf das Stichwort gewartet hätte, begann Bernd: „Die Bundesregierung hat endlich den Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie beschlossen.“



„Ja und?“



„Das bedeutet, dass die Präventionsmaßnahmen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung gestärkt werden. Das ist ein großer Fortschritt!“



„Aha“, murmelte sie gleichgültig.



„Kommst du nun mit nach Hillesheim?“



Er brummte: „Meinetwegen.“







Kapitel 7



Bernd und Elinborg Steinhausen fuhren nach Hillesheim. Bernd parkte den Wagen auf dem Hotelparkplatz. Im Foyer des Krimihotels fand zuerst ein Come together statt. Auf Stehtischen standen Kaffee, Tee und Kekse. Frau Bergmaier, die Organisatorin des Schreibworkshops begrüßte sie und Bernd. Elin schaute sich im Foyer um und schätzte die Teilnehmerzahl auf fünfundzwanzig, vorwiegend Frauen. Kurz darauf winkte ihr fröhlich eine Frau mit einer platinblonden Kurzhaarfrisur zu. War das ihre Freundin Margriet?, fragte sich Elin im ersten Moment. Als die Frau näher zu ihr kam, erkannte sie, dass es nicht ihre Freundin war. Diese Frau hatte nur sehr viel Ähnlichkeit mit ihr.



„Guten Tag Frau Steinhausen! Als ich auf Ihrer Website las, dass Sie dieses Wochenende in Hillesheim sind, habe ich mich sofort angemeldet,“ erklärte sie und schüttelte überschwänglich ihre Hand. Bernd, der neben ihr stand, meinte: „Ich gehe uns an der Rezeption anmelden. Das Gepäck werde ich dann auch auf unser Zimmer bringen. Bis gleich!“



„Okay“, erwiderte Elin.



Elin überlegte wer diese Frau sein könnte. Sie war klein, höchstens 1,60 m. Ihre auffälligen Ohrringe pendelten, während sie sprach. Die Frau schaute Elinborg erwartungsvoll mit einem Lächeln an: „Sicher wissen Sie nicht wer ich bin, oder?“



Verlegen lächelte die Autorin zurück: „Nein, tut mir leid.“



„Ich bin Greta Lundgren“, stellte sich die Frau mit einem leichten Akzent vor.



„Frau Lundgren. Endlich lernen wir uns persönlich kennen.“



„Ich freue mich sehr Sie persönlich zu treffen. Neulich habe ich Ihnen ein Exposé geschickt. Haben Sie es schon gelesen?“



„Nein. Tut mir leid. Bis jetzt hatte ich keine Zeit dazu.“



„Meine Idee war, dass wir zusammen einen Krimi schreiben könnten. Wie ich schon in dem Brief erwähnte, könnte Kommissar Krassek einen Serienmörder jagen …“



Suchend schaute sich Elin im Foyer um. Wo war Bernd? Er wollte doch nur schnell das Gepäck auf das Zimmer bringen.



Sie hörte Greta Lundgren nur mit einem halben Ohr zu, nickte manchmal.



„Wir könnten uns regelmäßig zum Schreiben treffen oder ...“, schlug Greta Lundgren eben vor.



Endlich entdeckte Elinborg ihren Mann. Er kam die breite Treppe hinunter geschritten. Mit einer Handbewegung signalisierte Elin ihm, dass er rasch zu ihr kommen sollte.



Sie sagte zu Bernd: „Frau Lundgren möchte mit mir zusammen einen Krimi schreiben.“



Bernd sah die blonde Frau an. „Ach, tatsächlich? Sie schreiben auch Krimis?“



Greta Lundgren nickte eifrig. „Ja, wenn es meine wenige Freizeit zulässt. Ich habe nämlich ein eigenes Reisebüro.“



„Sie haben ein eigenes Reisebüro?“, wiederholte Bernd.



„Da ich aus Schweden bin, habe ich mich auf Reisen nach Skandinavien spezialisiert.“



„Meine Frau und ich wollten schon länger einmal mit den Hurtigruten fahren“, erklärte Bernd. Elinborg sah ihren Mann erstaunt an. Das war ihr neu.



„Das kann ich nur empfehlen. Wir bieten eine 12-tägige Reise mit Flug an, inklusive Stadtführungen in Oslo und Bergen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen gerne das Angebot per E-Mail zukommen lassen.“



Bernd nickte: „Ja, gerne.“



Elinborg mischte sich in das Gespräch ein: „Wissen Sie eigentlich, dass mein Mann Staatsanwalt ist?“



Greta Lundgren fragte: „Wirklich? Das klingt spannend.“



„Er kann Ihnen von zahlreichen Gerichtsurteilen berichten, die das Potential für ganze Romanreihen haben. Nicht wahr, Bernd?“



Elin sah ihren Mann auffordernd an, auch Greta Lundgren schaute ihn mit ihren blauen Augen interessiert an. Als Bernd begeistert anfing von seiner Arbeit als Staatsanwalt zu berichten, entfernte sich Elin. Sie gesellte sich an einen anderen Stehtisch und beobachtete aus den Augenwinkel, wie Greta Lundgren an den Lippen ihres Mannes hing.



Die Stimme von Frau Bergmaier hallte durch die Lobby: „Darf ich Sie nun alle bitten, mir in den Tagungsraum zu folgen.“



Bernd kam zu seiner Frau. „Ich werde jetzt einen Spaziergang durch das Dorf machen. Danach werde ich mich in das Krimicafé setzen, an dem wir vorhin vorbeigefahren sind.“



„Ja, gut. Ich wünsche dir viel Spaß.“



„Danke. Bis später.“



Im Tagungsraum saßen die Teilnehmer an Tischen und schauten Frau Bergmaier erwartungsvoll an.



„Herzlich willkommen zu unserem Krimischreibworkshop!“, eröffnete sie ihre Rede und erläuterte daraufhin den Ablauf des zweitätigen Schreibworkshops. Dann referierte sie fast eine Stunde lang über Kriminalliteratur. Frau Bergmaier zitierte aus „Das verräterische Herz“ von Edgar Allen Poe, nannte den Roman „Der talentierte Mr. Ripley“ als den Beginn des modernen Psychothrillers. Manche Teilnehmer schrieben eifrig in ein Notizheft oder auf einen Block mit. Andere verschränkten die Arme und hörten nur zu. Schließlich schloss Frau Bergmaier ihr Referat ab: „So, nun ist es genug mit der Theorie. Jetzt sind Sie dran und dürfen schreiben. Die erste Schreibübung lautet: Beschreiben Sie, wie der Mörder sich der Leiche entledigt, indem sie konsequent seine Innensicht verfolgen. Dafür haben Sie bis 12:30 Uhr Zeit. Unsere Expertin Frau Steinhausen wird Ihnen bei Fragen gerne behilflich sein. Viel Spaß beim Schreiben!“



Ein Raunen ging durch die Reihen der Hobbyschriftsteller. Kurze Zeit später hörte man nur noch auf Papier kratzende Stifte.



Nach dem Mittagessen lasen die Teilnehmer die entstandenen Texte vor. Es waren teilweise anspruchsvolle und raffiniert formulierte Texte wie Elinborg beim Zuhören urteilte. Andere Texte klangen eher wie Schulaufsätze.




Am Nachmittag fand die Lesung von Elin im Kaminzimmer des Krimihotels statt. Dort war eine gemütlichere Atmosphäre als in dem Tagungsraum. Das Kaminzimmer war mit schweren braunen Ledersesseln und natürlich einem Kamin, der allerdings nicht brannte, ausgestattet.



Die Autorin las das erste Kapitel aus „Endstation Alexanderplatz“ vor. Anschließend erläuterte sie den Fortgang der Handlung, um dann wieder einige Seiten später erneut zu lesen.



„Ein Entschluss ergab den Anderen. Kommissar Krassek setzte sich in sein Automobil und fuhr …“ Um Weiterlesen zu können, musste Elin die Seite im Buch umblättern. Elinborg stutzte und schwieg sogar einen Augenblick, denn ein kleiner weißer Zettel mit einer Nachricht und einer Telefonnummer lag dort. Wer hatte ihn in das Buch gelegt? Darüber konnte sie jetzt aber nicht nachdenken. Sie musste weiterlesen. Also wiederholte die Autorin den Satz: „Ein Entschluss ergab den Anderen. Kommissar Krassek setzte sich in sein Automobil und fuhr hinaus nach Dahlem. Dort traf er auf einen Mann, der die Tote ...“



Die Autorin beendete ihre Lesung mit den Worten: „Er sah auf das Brandenburger Tor und wusste, dass die Zeit noch nicht gekommen war.“



Sie schlug das Leseexemplar zu und das Publikum klatschte Beifall.



„Vielen Dank, Frau Steinhausen. Wir sind schon alle gespannt, wie der nächste Fall von Kommissar Krassek sein wird“, sagte Frau Bergmaier und fügte hinzu: „Liebe Teilnehmer, hiermit endet der heutige Schreibworkshop. Sie haben nun Zeit zur freien Verfügung. Morgen um 10 Uhr treffen wir uns wieder im Tagungsraum. Auf Wiedersehen.“



Die Teilnehmer strömten aus dem Kaminzimmer, nur Elinborg blieb in dem schweren Ledersessel sitzen. Die Ruhe tat gut. Sie schlug ihr Leseexemplar auf und las was auf dem Zettel stand: „Wenn Sie mal wieder ins Lichtspielhaus gehen möchten, rufen Sie mich an: 0151 ...“



„Frau Steinhausen, gut, dass ich Sie hier alleine antreffe. Im Laufe des Tages hatte ich nämlich die grandiose Idee, dass der Serienmörder eine Frau sein könnte.“

 



Greta Lundgren war in den Raum gestürmt. Schnell legte Elinborg den Zettel wieder in das Buch. Sie stöhnte innerlich auf, setzte jedoch ein höfliches Lächeln auf. Greta Lundgren setzte sich neben ihr in einen Sessel setzte.



„Kommissar Krassek könnte selbst ins Visier der Mörderin geraten“, schlug Lundgren vor. „Er könnte von ihr entführt werden und zum Beispiel in einem leer stehenden Haus oder Fabrik gefangen gehalten werden.“



Die Tür öffnete sich erneut und Bernd kam herein.



„Elin, da bist du! Ich habe dich schon überall gesucht!“, sagte Bernd vorwurfsvoll. In einem milderen Ton ergänzte er: „Ach, Frau Lundgren. Sie sind auch hier!“



„Ich erzähle ihrer Frau gerade wie die Handlung unseres gemeinsamen Krimis sein könnte.“



Bernd setzte sich zu ihnen. „Aha. Frau Lundgren, jetzt wo ich Sie sehe: Ich habe noch ein paar Fragen zu der Reise mit den Hurtigruten.“



„Ja?“



„Ich wollte wissen, ob die Schiffsreise ab Hamburg oder ab Bergen beginnt?“



„Wie ich schon sagte, der Flug ist bei dieser Reise inklusive. Das heißt, Sie werden von Deutschland nach Bergen fliegen und von dort gehen Sie auf das Schiff“, antwortete die Schwedin freundlich.



„Ist in dem Angebot Vollpension dabei?“, fragte Bernd weiter.



Greta Lundgren bejahte: „Das Tischwasser ist im Preis ebenfalls inbegriffen.“



„Hält das Schiff auch in Hammerfest?“



Elinborg war genervt, sie stand auf: „Die Lesung hat mich angestrengt. Ich werde hinaufgehen und mich im Zimmer ausruhen.“



Greta Lundgren sprach unterdessen unbeirrt weiter: „Selbstverständlich wird das Schiff in Hammerfest halten.“



Murmelnd übergab Bernd Elin den Zimmerschlüssel.



Erleichtert verließ die Autorin das Kaminzimmer. Sie wunderte sich, dass Bernd sich auf einmal so für Reisen interessierte, wo er doch sonst lieber zuhause blieb.




In dem Krimihotel hatte jedes Zimmer ein anderes Thema und war somit individuell eingerichtet. Elin schloss die Tür vom Kommissar Maigret-Zimmer auf. Über dem Bett hing ein Bild des Eifelturms und auf der gegenüberliegenden Wand war ein Zitat des Schauspielers Jean Gabin, der den Kommissar Maigret in den Filmen dargestellt hatte, geschrieben: „Wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagten, wäre das die Hölle auf Erden ...“.



Elin ließ sich auf das frisch bezogene Bett plumpsen. Endlich war sie ungestört, um über diesen Zettel in Ruhe nachzudenken zu können. War das eine Frauenhandschrift? Und wessen Telefonnummer war das? An der Vorwahl erkannte Elin, dass es sich hierbei um eine Mobilfunknummer handelte. Sollte sie jetzt dort anrufen?, fragte sie sich.



Bernd kam ins Zimmer, schnell steckte sie den Zettel wieder in ihr Leseexemplar.




„Seit wann interessierst du dich für Reisen nach Skandinavien? Wir könnten auch noch einmal nach Island fahren, wenn du verreisen möchtest“, fragte Elinborg ihren Mann.



Sie waren auf der Heimfahrt. Bernd saß am Steuer des Audis und brauste die Landstraße entlang.



„In Island war ich aber schon mehrmals. Außerdem ist es da kalt“, erwiderte er.



„Ach, und in Skandinavien ist es nicht kalt?“



Bernd hupte und überholte einen alten VW Käfer.



„Ich interessiere mich für Skandinavien, weil ich Frau Lundgren kennengelernt habe. Sie ist eine geschäftstüchtige Frau und hat sogar ihr eigenes Reisebüro. Die Schiffsreise klingt interessant.“



„Ich habe aber keine Lust so eine Schiffsreise zu machen. Außerdem habe ich keine Zeit, weil ich im Juli nach Berlin muss“, erwiderte Elinborg.



Bernd stöhnte: „Kommissar Krassek.“



„Ja, genau, wegen Kommissar Krassek.“



„Für Frau Lundgren ist das Schreiben nur ein Hobby. Ich würde es besser finden, wenn du die Krimischreiberei aufhören würdest. Dann könnten wir auch zusammen Urlaub machen. Meinetwegen können wir auch wieder nach Island fahren. Weshalb hast du denn Journalismus studiert? Um dann auf solchen Schreibworkshops Möchtegern-Schriftstellern das Schreiben beizubringen? Das ist doch total sinnlos.“



Elinborg versuchte ruhig darauf zu antworten: „Bernd, bitte fange jetzt nicht schon wieder damit an. Diese Diskussion haben wir schon tausend Mal geführt und ich habe dir auch schon tausend Mal gesagt, dass mir das Schreiben viel Spaß macht. Ich kann mir nichts Anderes vorstellen: Außerdem verdiene ich damit mein eigenes Geld, und dass auch nicht gerade wenig.“



Bernd brummte: „Wenn du wenigstens etwas Seriöses schreiben würdest. Zum Beispiel Artikel für eine Tageszeitung oder ein Wochenmagazin oder, wenn wir Kinder hätten und das Schreiben dein Hobby wäre, wie bei Frau Lundgren, dann …“



Elinborg unterbrach ihren Mann wütend: „Hör endlich mit dem `Hätten wir Kinder´-Argument auf. Das nervt!“



Sie verschränkte die Arme.



„Ja, aber nur, weil du …“, begann Bernd.



„Es reicht! Ich sage zu diesem Thema nichts mehr!“



Elin starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.



„Ganz wie du willst“, gab Bernd giftig zurück und drückte energisch auf die Hupe und überholte einen Traktor.




Kommissar Karol Krassek faltete seine Hände vor seinem etwas hervorstehenden Bauch zusammen, schloss die Augen. Zufrieden dachte er, dass der Mörder der kleinen Sophie nun endlich verurteilt war. Dann zündete er sich eine Zigarette an, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück

.





Genussvoll zog er an der Zigarette. Gleich würde er in die Abendvorstellung ins Capitol gehen. Dort lief „Metropolis“ von Fritz Lang. Krassek, der polnische Wurzeln hatte, jedoch in Berlin 1887 geboren wurde, liebte die Filmkunst. Wöchentlich ging er ins Lichtspielhaus, da die Eintrittspreise bezahlbar waren und die Wochenschau lieferte vor dem Hauptfilm wichtige Informationen. Er freute sich auf den Abend und blies den Rauch in kleinen Wölkchen hinaus. Das Telefon läutete schrill.





Kommissar Karol Krassek“, meldete er sich mürrisch. In diesem Moment wusste er bereits, dass sein Vorhaben ins Lichtspielhaus gestorben war.





Kurz darauf fuhr er mit dem Automobil durch das abendliche Berlin. Je näher er dem Potsdamer Platz kam, umso mehr wurde die Nacht durch die großen Leuchtreklametafeln der Bars, Nachtclubs und Tanzcafés zum Tage. Er hielt vor dem Nachtclub Papillon de Nuit.







Im Inneren des Clubs herrschte eine ausgelassene Stimmung. Obgleich der Krieg schon einige Jahre her war, spürte Krassek sofort die Gier nach Leben, den Hunger nach Vergnügen. Das fanden die Menschen hier: Musik, Tanz, Alkohol, Zigaretten, Glücksspiel, Frauen, die mit ihren Reizen kokettierten.







An den kleinen runden Tischen saßen sie, tranken, rauchten, lachten. Musiker auf einer Bühne spielten eine lebhafte Melodie. Auf der Tanzfläche bewegten sich die Gäste dazu. Krassek kannte sich mit Filmen aus, aber nicht mit Tanz und Musik. Er vermutete jedoch, dass dieser Tanz, bei dem man mit den Armen ruderte und die Beine zu Xs und Os verdrehte, dieser neue Tanz war: Charleston.







Die Musik verstummte. Die Tänzer kehrten auf ihre Plätze zurück. Nun trat eine Frau zu den Musikern auf die Bühne. Ihr langes rotblondes Haar hatte sie kunstvoll hochgesteckt, das schwarze Kleid mit den Fransen und den silbernen Ornamenten schmiegte sich an ihre zierliche Figur.







Die Scheinwerfer strahlten auf diese Frau, die vor einem Mikrophon stand. Die Musik spielte die ersten Takte und die Sängerin begann zu singen. Im Publikum wurde es still, alle lauschten dem Gesang. Auch Karol Krassek hörte gebannt zu, denn ihre Stimme war wie ein Herbststurm, kraftvoll und wild.







Für die Dauer des Liedes vergaß Krassek, weshalb er in diesen Nachtclub gekommen war. Dann räusperte sich ein Polizist neben ihm: „Herr Kommissar. Endlich sind Sie da. Bitte kommen Sie mit.“







Krassek folgte dem Polizisten durch einen schweren roten Vorhang neben der Bar, ging ihm einen schmalen Flur bis zu einem Büroraum hinterher. Dort saß der Nachtclubbesitzer Wilhelm Pelz in einem Sessel, den Kopf auf die Brust gesengt. In der rechen Schläfe war ein Loch.







Krassek trat zu dem toten Mann und stellte fest: „Der Mann ist aus nächster Nähe erschossen worden. Hat niemand den Schuss gehört?“