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Kunstprojekt (Mumin-)Buch

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1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung?

Im Gebiet der Kinder- und Jugendliteraturforschung scheint eine gewisse Sensibilität für verschiedene Aspekte der Materialität zu erwachen. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Arbeit von Elina Druker, in der sie sich dem Thema der Materialität der Bilderbücher in Skandinavien widmet. Sie betrachtet das Buch dezidiert als Kunstprojekt und untersucht dabei Werke unterschiedlicher skandinavischer Autoren, auch von Tove Jansson. Im Kapitel „Bilderbokens konstruktion“ „Die Konstruktion des Bilderbuchs“ behandelt sie das Bilderbuch Hur gick det sen?. Darin wird explizit auf das Spiel mit dem Bild- und Buchmedium, mit den Begriffen „Buch“ und „Literatur“ hingewiesen.1 Weiter nähern sich im Tagungsband Tove Jansson rediscovered (2007) einige Beiträge diesen Thematiken. So widmet sich etwa Evelyne Arizpe in ihrem Artikel dem Vorkommen von Texten in den Erzählungen und damit Aspekten der Selbstreferenzialität. Dabei geht sie insbesondere auf die Darstellung Pappans als Autobiograf in Muminpappans memoarer ein. In diesem Geist widmet sich Elina Druker im selben Band selbstreferenziellen Bildern, also Bilder, welche von fiktiven Charakteren stammen. Dazu zählen etwa die Skizze des Theaters, die die Theaterratte Emma in Farlig midsommar anfertigt, oder Pappans Skizze, die er im Zuge seiner Arbeit in Pappan och havet erstellt. Inwiefern in der Jansson-Forschung ein Materialitätsbegriff, wie er im vorigen Unterkapitel hergeleitet wurde, präsent ist, respektive in welcher Hinsicht jedoch tatsächlich von einem material turn gesprochen werden kann, wird der folgende Forschungsüberblick aufzeigen.

Im Takt mit der steigenden Berühmtheit Janssons erwachte auch das Interesse der Forschung an ihrem Schaffen. Wie beschrieben, gilt Jansson als eine Künstlerin, die sich in unterschiedlichen Gebieten ausprobiert. Die überwiegende Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sich jedoch mit ihrem literarischen Schaffen. Bis heute ist die Menge an Artikeln und kürzeren Arbeiten auf ein unüberblickbares Mass angestiegen. Im Gegensatz dazu wurde seit den Anfängen der Forschung vor mittlerweile ca. 60 Jahren eine vergleichsweise bescheidene Anzahl an Monografien verfasst. Der folgende Überblick konzentriert sich auf die wichtigsten. Dabei kommt den Muminbüchern die grösste Aufmerksamkeit zu, während etwa die Bilderbücher wie auch ihre Literatur für Erwachsene von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt wurden und werden. Jansson-Forschung ist daher bis heute in erster Linie Mumin-Forschung.2

Zu den Pionieren gehört etwa Sonja Hagemann mit ihrem Werk Mummitrollbøkene. En litterær karakteristikk „Die Muminbücher, eine literarische Charakterisierung“. Es handelt sich hierbei um eine gedruckte Probevorlesung, die 1967 erschien. Aus dem Jahr 1975 stammt Kirsten Omlands Dissertation Tryggheten og skrekken. Utviklingen i Tove Janssons muminforfatterskap „Sicherheit und Schreck. Die Entwicklung in Tove Janssons Muminautorschaft“.

In den 1980er-Jahren erreichte die Jansson-Forschung einen ersten Höhepunkt. Aus dieser Zeit stammen drei grosse Studien (Holländer 1983, Jones 1984, Westin 1988). Die ersten beiden Arbeiten gehen von einer Entwicklungslinie aus, die sich an den Muminbüchern ablesen lässt. Eine Entwicklungslinie weg vom Kinderbuch hin zur Literatur für Erwachsene. Diese Vorstellung lag zu dieser Zeit den meisten wissenschaftlichen Arbeiten zugrunde. Im Falle von Tove Holländers Arbeit wird dies bereits im Titel evident: Från idyll till avidyll „Von Idylle zu Nicht-Idylle“ deutet die Idee einer Entwicklungslinie innerhalb der Muminreihe an, in der sich das Muminbuch im Laufe der Zeit vom Kinderbuch zum Buch für Erwachsene wandelt, was jeweils als eine stetige Verbesserung gewertet wurde. Tove Holländer widmet sich in ihrer Arbeit den Illustrationen aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive. Ihr Korpus besteht aus den Muminbüchern wie auch den Bilderbüchern. Sie interessiert sich für einzelne Motive, Technik und Stil der Illustrationen. Auch das Zusammenspiel von Text und Bild analysiert sie. Ausserdem widmet Holländer ein Kapitel dem Schaffensprozess. Dabei beschreibt sie sehr kurz, was an Skizzen und sonstigen Vorarbeiten vorhanden ist. Holländer stellt fest, dass sich der Arbeitsprozess von einer unbewussten Suche in einen bewussten, systematischen Arbeitsprozess wandelt.3 Weiter kommt sie zum Schluss, dass sich besagte Entwicklungslinie, welche sich auf inhaltlicher Ebene beobachten lässt, ebenfalls bei den Illustrationen nachweisen lässt. Diese seien bei den frühen Muminbüchern illusionistisch und relativ wirklichkeitsgetreu und würden schliesslich mehr und mehr expressiv, was sich, so schlussfolgert Tove Holländer, mit dem Prozess der stetigen Psychologisierung der Muminbücher deckt.4

Glyn Jones beleuchtet die Bücher von Småtrollen och den stora översvämningen (1945) bis Den ärliga bedragaren (1984), was zu Janssons Spätwerk zählt, also der Literatur für Erwachsene. Damit behandelt er sämtliche Werke Janssons, die zur damaligen Zeit erschienen waren. Sein Ziel ist es ebenfalls, den Wandel vom Kinderbuch zum Erwachsenenbuch nachzuzeichnen. Er konstatiert, dass die Muminbücher immer komplexer wurden und das Bilderbuch als Medium für Jansson als Künstlerin nicht mehr ausreichte, sie schliesslich gar hemmte. Daraus folgt für Jones schliesslich ein unumgänglicher Wechsel zum Schreiben für Erwachsene.5 Die Entwicklung macht er unter anderem an den Veränderungen der Themen fest, die in den Erzählungen verhandelt werden. „En av följderna blir en ökad upptagenhet av frågeställningar om konst, ingivelse, konstnärlig integritet och konstnärens roll.“6 „Eine der Folgen ist eine vermehrte Beschäftigung mit Fragestellungen zu Kunst, Eingebung, künstlerischer Integrität und Künstlerrolle.“ Damit tönt er Fragestellungen an, welche auch in der vorliegenden Arbeit relevant sein werden. Weiter erwähnt Glyn Jones ebenfalls die stark visuelle Komponente als ein Charakteristikum von Janssons Werk.7

Boel Westin bricht in ihrer Dissertation Familjen i dalen. Tove Janssons muminvärld „Die Familie im Tal. Tove Janssons Muminwelt“ mit dieser holistischen Sichtweise und betrachtet die Muminbücher bewusst als separate Werke, ohne jedoch zu verneinen, dass sich die einzelnen Muminbücher in ihrer Art stark voneinander unterscheiden. Entsprechend macht sie die künstlerische Einzigartigkeit jedes einzelnen Muminbuchs stark. Die Quelle für deren Unterschiedlichkeit sieht Westin in Janssons Funktion als Bildkünstlerin:

Olika slag och grader av kaos byter av varandra och iscensätter, förändrar, familjens sammansatta verklighet. Dessa perspektivbyten kan ses i ljuset av Tove Janssons identitet som bildkonstnär. Gång på gång målar hon samma konstverk, mumindalen och familjen, men hon växlar belysning, färg och form. Delarna i tavlan flyttas ständigt om och fogas ihop i nya kombinationer och med nya strukturer.8

Verschiedene Arten und Grade von Chaos wechseln einander ab und inszenieren, verändern, die zusammengesetzte Wirklichkeit der Muminfamilie. Diese Perspektivenwechsel können im Lichte Tove Janssons Identität als Bildkünstlerin gesehen werden. Wieder und wieder malt sie dasselbe Kunstwerk, das Mumintal und die Muminfamilie, aber sie wechselt Beleuchtung, Farbe und Form. Die Teile des Bildes werden ständig verschoben und in neuen Kombinationen und mit neuen Strukturen wieder zusammengefügt.

Entsprechend betrachtet Boel Westin die Muminwelt als ein äusserst dynamisches Konstrukt. Eine ihrer zentralen Fragestellungen betrifft denn auch, was dieses Kunstwerk ausdrückt und was die Familie gestaltet.9 Mit anderen Worten, sie interessiert sich für Janssons ästhetische Methode.10 Wie angedeutet, nimmt Westin für jedes der sechs Muminbücher, die sie untersucht, einen individuellen Blickwinkel ein und betont so die jeweiligen Charakteristiken. So heissen ihre Kapitel beispielsweise „Det äventyrliga, Kometjakten“ „Das Abenteuerliche, Kometjakten“ oder „Det dramatiska, Farlig midsommar“ „Das Dramatische, Farlig midsommar“. Boel Westin etablierte sich mit ihrer Abhandlung als führende Jansson-Forscherin und ist bis heute die einzige, die vollständigen Zugang zu Janssons ehemaligem Atelier in Helsinki erhalten hat. Von ihr erschien 2007 die bis dato umfassendste Jansson-Biografie unter dem Titel Ord, bild, liv.11

Die Ausrichtung auf eine Entwicklungslinie impliziert ausserdem, dass immer von den Originalausgaben der Muminbücher ausgegangen wird. Weiter verdeutlicht sie auch einen intensiven Diskurs über die Zuordnung der Muminbücher zur Kinder- oder Erwachsenenliteratur. Schon früh wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Muminbücher nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Leser ansprechen. Sandra Beckett weist bezüglich Janssons gesamten literarischen Schaffens darauf hin, dass die Ähnlichkeiten zwischen ihrer Literatur für Kinder und für Erwachsene frappant sind und auch dort keine klare Trennung möglich ist: „In all of her writing, the setting is the same, as are the often complex themes: identity, isolation, relationships with others and the environment, natural disaster, time and death.“12

Der Forschungsdiskurs zu Literatur, die sich gleichermassen an Kinder und Erwachsene richtet, wird im angelsächsischen Raum unter dem Begriff „crosswriting“ beziehungsweise „crossover literature“ geführt. In der deutschsprachigen Forschung spricht man von „doppelsinniger“ oder „mehrfachadressierter“ Kinder- und Jugendliteratur und in der skandinavischen Forschung hat sich seit den 1960er-Jahren der Begriff „allålderslitteratur“ „Alle-Alter-Literatur“ etabliert.13 Crosswriting kann für die Kinderliteratur Dreierlei bedeuten: Das Schreiben sowohl für Erwachsene wie auch für Kinder, ein Buch für Erwachsene wird in ein Kinderbuch umgeschrieben oder umgekehrt, und schliesslich ein rezipientenübergreifendes Schreiben. Das heisst, ein Text richtet sich in gleichem Masse an Kinder und Erwachsene.14 Diese doppelte Adressiertheit wird heute gar als ein Charakteristikum der Muminbücher angeführt. So schreibt etwa Angelika Nix:

 

Die Muminbücher sind als mehrsinnige Kinderklassiker in die Geschichte der internationalen Kinder- und Jugendliteratur eingegangen. Sie gelten als Paradebeispiel für poetische, tiefsinnige Kinderbücher, die eben nicht nur kindliche, sondern auch erwachsene Leser ansprechen.15

Dies wirft die Frage auf, welche architektonischen Bedingungen die Mehrsinnigkeit an die Erzählungen stellt. Ines Galling beschreibt, wie die Erzählungen einerseits „dem kinderliterarischen Anspruch der Adaption Rechnung tragen, was sich z.B. im Aufbau von kurzen Spannungsbögen äussert.“ Ausserdem werde in den Texten die kindliche Lebenswelt reflektiert. Andererseits weist sie auch auf eine avancierte Lexik und Erzähltechnik hin, wodurch Reflexions- und Metaangebote etabliert würden, die dem kindlichen Leser unter Umständen verborgen bleiben.16 Maija-Liisa Harju postuliert: „I identify Tove Jansson’s work as crossover literature here, according to three criteria collated from scholarship in the field: diverse address, complexity in form and/or theme, and evidence of diverse readership.“17

Dass eine Erzählung Kinder und Erwachsene gleichermassen fesseln kann, ist keineswegs eine neue Erkenntnis – weder in der Jansson-Forschung noch in der Kinder – und Jugendliteraturforschung allgemein. Neu ist laut Sandra Beckett hingegen das enorme mediale Interesse, welches diesem Phänomen zukommt.18 Trotzdem wurde Jansson jedoch nur im Bereich der Kinderliteratur kanonisiert, ein Schicksal, welches die Crosswriter laut Bettina Kümmerling-Meibauer häufig ereilt.19 Boel Westin sieht das grosse Potenzial für artistischen Ausdruck jedoch eben gerade in der Betrachtung der Muminbücher als Kinderbücher: „[…] just som barnböcker, som ,naiva‘ texter, öppnar muminböckerna speciella konstnärliga möjligheter.“20 „[…] gerade als Kinderbücher, als bewusst ,naive‘ Texte, ermöglichen die Muminbücher spezielle künstlerische Möglichkeiten.“ Diese Überlegung liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde.

Die jüngere Forschung weist ein breit gefächertes Interesse an unterschiedlichsten Aspekten aus. So haben sich rezentere Lektüren mit psychologischen (Müller-Nienstedt 1994) oder philosophischen (Laajarinne 2011) Aspekten ihrer Texte auseinandergesetzt. Der besondere Sprachstil (Helenelund 1985) sowie ihre deutschsprachige Übersetzungsgeschichte (Jendis 2001) waren ebenfalls bereits Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die aktuellsten literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zur Muminserie stammen von Agneta Rehal-Johansson (2006) und Sirke Happonen (2007). Rehal-Johansson definiert zwei Hauptmotive, die Muminfamilie und das Mumintal, und untersucht deren Metamorphosen – einerseits von Muminbuch zu Muminbuch, andererseits interessiert sie sich ebenfalls dafür, wie sich die genannten Motive in den einzelnen Muminbüchern durch die Umarbeitungen verändern. Dabei versteht sie das Muminwerk als einen generativen Prozess. Davon ausgehend beschreibt sie übergreifende Tendenzen bei den beiden Überarbeitungsphasen.21 Gestalterische Veränderungen, die das Buch als Kunstwerk in den Mittelpunkt setzen könnten, lässt sie gänzlich aussen vor. Sie betont jedoch die Komplexität, die sich durch die ständigen Veränderungen ergeben: „Den slutliga muminsviten är ett ovanligt komplext verk, inte bara som barnlitteratur betraktad. Den omfattar alltifrån äventyrs- och utvecklingsromaner för barn, till genreparodier, psykologiska studier, moraliteter och kammarspel i prosaform.“22 „Die Muminreihe ist ein ungewöhnlich komplexes Werk, nicht nur als Kinderliteratur betrachtet. Es umfasst alles von Abenteuer- und Entwicklungsromanen für Kinder bis Genreparodien, psychologische Studien, Moral- und Kammerspiele in Prosa.“ Rehal-Johanssons Ausgangspunkt sind die jüngsten Versionen, diese bezeichnet sie als das Muminwerk. Entsprechend sieht sie die früheren Versionen als Abweichungen davon. Damit kehrt sie die gängige Praxis um. Letztlich, so schlussfolgert sie, entsteht durch die Umarbeitungen eine kohäsive Romanreihe über Kindheit und Familienleben.23

Sirke Happonen interessiert sich für die Entwicklung einer Ästhetik der Bewegung und der Statik in Text und Bild. Sie geht darauf ein, wie Jansson eine spezifische Figurenchoreographie entwickelt, und betont ebenfalls eine Mannigfaltigkeit, was den narrativen Stil und die Illustrationsart betrifft, was wiederum die Einzigartigkeit der einzelnen Muminbücher zementiert. Happonen betrachtet sowohl die Bilderbücher wie auch die Muminbücher und arbeitet teilweise mit handschriftlichem Material, Illustrationsskizzen, und setzt diese in Kontrast zu den gedruckten Illustrationen.

Text-Bild-Beziehungen, Arbeitsprozesse, Künstleridentität und die Muminwelt sowie das Buch als Kunstwerk sind Themen, die immer wieder gestreift werden. Dies macht der Überblick über die Monografien deutlich. Gleichermassen wurde evident, dass diese Themen ein marginales beziehungsweise meist eher beiläufiges Dasein fristen. Aus diesem Grund kann man von einem material turn in der Jansson-Forschung nicht sprechen. Im Unterschied zu den vorgestellten Arbeiten zu Tove Janssons Schaffen werden nachfolgend die oben genannten Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, als gleichwertige Koponenten eines facettenreichen Materialitäsbegriffs, wie er vorgängig beschrieben wurde.

1.4. Disposition und Korpuswahl

Die Suche nach einem Materialitätsbewusstsein, welches sich auf einer stofflichen wie auch poetologischen Ebene offenbart, liegt als kleinster gemeinsamer Nenner sämtlichen Analysekapiteln zugrunde. Diesem komplexen Materialitätsbegriff wird im Aufbau der Arbeit Rechnung getragen, indem sich auch die Analysen, in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand, auf verschiedenen Ebenen bewegen: Auf der Ebene des ungedruckten Materials, also den Vorarbeiten unterschiedlichster Art, auf inhaltlicher Ebene und schliesslich auch auf der Ebene des Buchs als Objekt. Letzteres geschieht auf zwei unterschiedliche Arten. Einmal steht die Inszenierung des Buchs als solches im Vordergrund, einmal die Buchgestaltung. Eine derartige Herangehensweise ergibt ein besonders differenziertes Bild der Reflexion der erwähnten Themen. Die theoretische Grundlage der Analysen stützt sich auf ein breites und interdisziplinäres Gerüst an Medien-, Materialitäts- sowie editionsphilologischen Theorien. Wichtige Namen werden bereits in der Disposition genannt. Jedes Kapitel wird jedoch mit konzeptionellen und theoretischen Ausführungen eingeleitet.

Spricht man vom Buch als Artefakt, lenkt dies den Blick unweigerlich auch auf die Genese des Kunstwerks. Das Interesse der Literaturwissenschaft an Handschriften ist keineswegs neu, hat ihren Fokus jedoch verändert beziehungsweise im Sinne des material turns erweitert:

Die Beschäftigung mit der Handschrift hat, auch wenn es um Manuskripte von Autorinnen und Autoren geht, keine Textkonstitution mehr zum Ziel, vielmehr sind es die Materialität und die Ästhetik der Handschrift, die in den Blick der Literaturwissenschaft geraten.1

In diesem Sinne wird im ersten Analysekapitel das ungedruckte Material untersucht. Thomas Wortmann weist darauf hin, dass gerade die critique génétique dazu wichtige Impulse geleistet hat.2 Dies liegt vor allem an ihrem Werkbegriff:

Nur das Werk, so heisst es, könne ästhetische Werte vehikulieren, nicht aber das, was die „critique génétique“ als „avant-texte“ bezeichnet.[…] Dieser Auffassung hält die „critique génétique“ entgegen, dass das Werk nicht den einen, abgeschlossenen, vollkommenen Text meint, sondern den gesamten Verschriftungskomplex, der zwar diesen Text mit einschliesst, aber daneben auch sämtliche Entwurfs- und Arbeitshandschriften integriert, die diesem Text vorausgehen.3

Entsprechend bildet die critique génétique eine wesentliche theoretische Basis dieses Kapitels. Sie etablierte sich in den 1960er-Jahren in Frankreich und geht auf ideologische Vorläufer wie Stéphane Mallarmé und Paul Valéry zurück. Valéry war daran beteiligt, das ästhetische Interesse vom Produkt auf die Produktion zu lenken.4 Als Grundlagentext der critique génétique gilt Edgar Allan Poes Gedicht The Philosophy of Composition: „one of the foundational texts of French genetic criticism“.5 Darin wird ein dezidiert mechanischer Schreibprozess beschrieben. So wie beim Material der Blick vom Produkt auf die Produktion gewendet wird, wird der Künstler als Produzent, als Handwerker gesehen. Diesbezüglich dienen die Texte von Gottfried Benn Probleme der Lyrik (1968) und Walter Benjamin Der Autor als Produzent (1977) als Grundlage.

Die Produktion von Literatur wird in einem weiteren Kapitel beleuchtet, in dem sich der Fokus auf die zahlreich vorhandenen Schreib- und Leseszenen in den Muminbüchern richtet. Die intensive schriftstellerische Tätigkeit vor allem Muminpappans lädt geradezu dazu ein, zu untersuchen, wie das Produzieren und Rezipieren von Literatur sowie unterschiedliche Konzepte von Autorschaft in den Texten selbst verhandelt werden. Denn „Schreibakte sind […] nicht nur Aufzeichnungsakte. Es sind auch Akte, in denen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbestände produziert, artikuliert und organisiert werden.“6 Bezüglich der Schreibszenen sind die Ausführungen Rüdiger Campes Die Schreibszene. Schreiben (1991) sowie von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti „Schreiben heisst: sich selber lesen“ (2008) massgeblich. Die Schreibszene wird dabei als ein Konvolut verschiedenster Handlungen gesehen, das den Akt des Schreibens performativ beschreibt, beziehungsweise rahmt. Somit wird das Schreiben in seiner Materialität betont. In einem engen Zusammenhang mit den Schreibszenen stehen Konzeptionen von Autorschaft, die als Spiegelungen unterschiedlicher Künstleridentitäten interessant sind (vgl. Behschnitt (1999), Amstutz (2004), Bohnenkamp (2001)) und in der Analyse daher ebenfalls Beachtung finden. Bezüglich der Prozesse der Werkentstehung und der Künstlerrolle bildet dieses Kapitel also eine Erweiterung zum vorausgehenden.

Von den Reflexionen über das Machen von Literatur, von Literatur als Kunst und dem Rollenbild des Künstlers wendet sich der Blick im darauf folgenden Analysekapitel Richtung Buch. Dem Buch wird oftmals eine düstere Zukunft prophezeit. Michel Butor sieht jedoch gerade in der wachsenden Konkurrenz durch andere Medien eine Chance für das Buch, seine „Würde als Monument“zurückzubekommen.7 „Zeitung, Funk, Fernsehen und Film werden das Buch zwingen, immer ,schöner‘, immer ,dichter‘ zu werden.“8, postuliert er. In diesem Sinne widmet sich das dritte Analysekapitel dem Buch als Artefakt. Um sich dieser Thematik anzunähern, muss in einem ersten Schritt geklärt werden, was ein Buch ausmacht und wie sich die Begriffe „Buch“ und „Text“ auseinanderhalten lassen. Diesbezüglich sind etwa folgende Arbeiten relevant: Jürgen Nelles Bücher über Bücher. Das Medium Buch in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts (2002), Bill Brown A sense of things. The object matter of American literature (2003), Erika Fischer-Lichte Ästhetik des Performativen (2004). Grundlegend für die Analyse ist jedoch das Konzept des Paratexts nach Gérard Genette. Denn durch den Paratext, so Genette, wird ein Buch erst zum Buch.9 Genauer wird erörtert, welche paratextuellen Elemente eingesetzt werden, um das Buch als solches in Szene zu setzen. Mit anderen Worten, es geht um eine fundamentale Rahmung des Textes, sodass dieser als Buch wahrgenommen wird, und nicht in erster Linie um physische Merkmale des Buchs.

Die Thematik des vorherigen Kapitels weiterführend, steht im vierten und letzten Analysekapitel die Buchgestaltung im Mittelpunkt. Untersucht werden klassische paratextuelle Elemente wie etwa das Cover oder die Titelseiten. Dabei steht jedoch deren visuelles Erscheinungsbild im Vordergrund. Ebenfalls analysiert wird das Seitenlayout, genauer die Relation von Text und Bild, Typografie und Farbgebung. Wohl attestiert Genette dem Visuellen ebenfalls eine Bedeutung, wie folgendes Zitat beweist:

Doch muss man zumindest den paratextuellen Wert bedenken, den andere Erscheinungsformen annehmen können: bildliche (Illustrationen), materielle (alles, was zu den typographischen Entscheidungen gehört, die bei der Herstellung eines Buches mitunter sehr bedeutsam sind) […].10

 

Trotzdem bezieht er diese Aspekte nicht in seine Untersuchung mit ein. Ferner wird in der Untersuchung ein besonderes Augenmerk auf die dritte Dimension des Buchs, auf dessen Physis gelegt, um deren Bedeutung im Gestaltungskonzept zu beleuchten. Carlos Spoerhase liefert für diese Überlegung mit Linie, Fläche, Raum. Die dritte Dimension des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (2016) einen Grundlagentext. Das Kapitel widmet sich also dem Buch als gestalterisches Kunstwerk und somit auch Tove Jansson nicht als Malerin oder Autorin, sondern Buchkünstlerin.

Den grössten Teil des Korpus’ stellen die Muminbücher. Im Gegensatz zu den meisten früheren Arbeiten werden darunter nachfolgend nicht die Originalausgaben verstanden, sondern in Anlehnung an Agneta Rehal-Johansson die acht Muminbücher, die zwischen 1968 und 1970 in schwedischer Sprache erschienen. Das Debüt Småtrollen och den stora översvämningen (1945) ist nicht Teil dieser Reihe, da es im Unterschied zu den übrigen Muminbüchern von den Umarbeitungen ausgeschlossen war. Nicht berücksichtigt in der vorliegenden Arbeit wird weiter die Novellensammlung Det osynliga barnet (1969). Lediglich im Falle von Kometen kommer werden zwecks einer Detailanalyse alle drei edierten Versionen in die Untersuchung miteinbezogen. Da die Grundlage der Analyse die schwedischen Ausgaben der Muminreihe bilden, werden entsprechend die schwedischen Titel wie auch die schwedischen Figurennamen verwendet. Zusammenfassend ergibt sich folgende Liste: Kometen kommer (1968) (dt. Titel „Komet im Mumintal“), dazu gehören die früheren Versionen Kometjakten (1946) und Mumintrollet på kometjakt (1956), Trollkarlens hatt (1968) (dt. Titel „Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft“), Muminpappans memoarer (1968) (dt. Titel „Muminvaters wildbewegte Jugend“), Farlig midsommar (1969) (dt. Titel „Sturm im Mumintal“), Trollvinter (1970) (dt. Titel „Winter im Mumintal“), Pappan och havet (1969) (dt. Titel „Mumins wundersame Inselabenteuer“) sowie Sent i november (1970) (dt. Titel „Herbst im Mumintal“).

Neben den erwähnten Muminbüchern umfasst das Korpus ebenfalls folgende Bilderbücher Janssons: Hur gick det sen? (1952) (dt. Titel „Mumin, wie wird’s weiter gehen?) Ein Buch mit Mymla, Mumin und der kleinen My”), Vem ska trösta knyttet? (1960) (dt. Titel „Wer tröstet Toffel?“) und Den farliga resan (1977) (dt. Titel „Die gefährliche Reise“). Die Muminbücher und die Bilderbücher wurden noch kaum gemeinsam in einer Arbeit untersucht. In der geplanten Diskussion der Materialitätsaspekte scheint dies jedoch fruchtbar, da so auch ein eventuelles gattungsspezifisches Arbeiten festgestellt werden kann.

Schliesslich ist auch das ungedruckte Material, welches in der Åbo Akademi in Finnland der Öffentlichkeit zugänglich ist, wesentlicher Bestandteil des Korpus’. Bei den Transkriptionen wird keine diplomatische, sondern eine linearisierte Transkription angestrebt. Die diplomatische Transkription bewahrt den materiell-visuellen Aspekt. Bei einer linearisierten Umschrift wird dieser zum Vorteil einer besseren Lesbarkeit teilweise aufgegeben.11