Wüstenfeuer

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Walcott sah sie nicht an, als sie fragte: »Seit wann trinken Sie wieder, Kate?«

Kate fühlte sich augenblicklich in die Enge getrieben. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu brennen anfing und heißer Zorn in ihr aufstieg. Cameron. Er hat es ihr gesagt.

»Wieso?«, fauchte sie. »Ich bin im Ruhestand. Was geht Sie das an?«

Walcott wandte sich zu ihr um, die Arme vor der Brust verschränkt. »Es gibt Menschen, denen Sie am Herzen liegen, Kate. Außerdem sehen Sie furchtbar aus.«

»Wie ich aussehe und was ich tue, ist allein meine Sache.«

»Wo ist Aimee?«

»Meine Sache.«

»Hat sie Sie verlassen?«

Kate hatte Mühe, ihren Zorn im Zaum zu halten und die Frau nicht hochkant hinauszuwerfen. Sie antwortete nicht.

»Sie haben natürlich recht. Es ist Ihre Sache.«

Walcott löste die Arme, und einen Augenblick lang dachte Kate, sie würde sie nach ihr ausstrecken. Stattdessen ließ sie sie einfach sinken. »Eines müssen Sie wissen, Kate. Sie genießen hohe Wertschätzung. Man vermisst Sie sehr. Sie gehören immer noch zur Polizeifamilie. Sie sind mir – uns – ebenso wichtig wie Joe Cameron. Viele von uns mögen Sie sehr. Und noch etwas …« Sie griff in ihre Jackentasche. »Kurz nach Ihnen hat uns noch jemand verlassen. Auch sie ist heute frei und niemandem mehr verpflichtet. Sie hat Ihnen schon einmal geholfen. Gut möglich, dass sie erneut dazu bereit ist.«

Walcott zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Couchtisch. »Danke für Ihre Gastfreundschaft. Ich finde allein hinaus.«

Als sich die Tür hinter Walcott schloss, war Kate schon auf dem Weg in die Küche. Sie schnappte sich die Flasche Cutty Sark aus dem Schrank, knallte ein Glas auf den Küchentresen, schenkte sich großzügig ein, nahm einen tiefen Schluck und dann noch einen.

Sie warf einen giftigen Blick auf die geschlossene Wohnungstür. Sie wissen einen Scheiß über mich und die Hölle, in der ich lebe.

Der Alkohol, der ihr in Mund und Kehle brannte, machte alles leichter und beruhigte sie. Sie nahm das Glas mit und betrat das Zimmer, das Aimees Büro gewesen war. Miss Marple protestierte laut miauend, stolzierte hinaus und verschwand über den Flur in Richtung Wohnzimmer. Kate folgte ihr. Sie nahm die Visitenkarte vom Couchtisch, stellte ihren Drink auf den Beistelltisch neben dem Ruhesessel und legte die Visitenkarte daneben. Schwer ließ sie sich in den Sessel sinken und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Miss Marple sprang auf ihren Schoß; sie begann zu schnurren und stieß mehrmals mit dem Kopf gegen Kates Ellbogen.

Kate kraulte sie hinter den zarten Ohren und flüsterte: »Miss Marple, du bist nach wie vor das einzige weibliche Wesen, das mich versteht.«

Dann nahm sie die Visitenkarte und betrachtete eine Weile die weiße Rückseite, ehe sie sie schließlich umdrehte und las, was da in schlichten schwarzen Buchstaben stand:

Dr. Calla Dearborn

Approbierte Psychotherapeutin

Liz. Nr. PSY 705536

Tel.: 323-555-1954

2

Am nächsten Morgen, nachdem der schlimmste Rush-Hour-Verkehr ein wenig abgeflaut war, fuhr Kate ohne große Aufmerksamkeit für ihre Umgebung und mit pochenden Schläfen durch den diesigen Dunst zum Sunset Boulevard und die Fountain Avenue entlang und folgte dann dem sanften Bogen der Hyperion Avenue in Silverlake. Sie parkte den Focus unter einer der Eichen, die das abgeschiedene Haus verbargen, das mitten in einer bewaldeten Enklave von bescheidenen Fachwerkhäusern und Bungalows lag. Das ethnisch bunt gemischte Silverlake mit seiner Nähe zu Downtown war in den vergangenen zehn Jahren zu einem angesagten Wohnviertel geworden, und der Wert der schlichten Häuser war mit dem neuen Prestige ins Unverhältnismäßige gestiegen. Kate unterdrückte die Missbilligung, die sich automatisch einstellte, und rief sich in Erinnerung, dass sie sich geschworen hatte, unausweichlichen Veränderungen mit einer gewissen Flexibilität zu begegnen und sie zu akzeptieren. Zusammen mit den vom Verkehr gnadenlos verstopften Straßen und dem turbulenten politischen Treiben einer vielschichtigen Stadt, war Silverlake nun einmal Teil eines sich beständig entwickelnden Los Angeles, ob Kate der eine oder andere Aspekt nun gefiel oder nicht, und wie Maggie ihr oft gesagt hatte: »Alles verändert sich, Kate. Nichts bleibt, wie es ist.«

Sie ließ Stevie Nicks »Rhiannon« zu Ende singen, stellte dann das Radio aus und saß einen Augenblick lang einfach nur da, trank ihren großen starken Starbucks-Kaffee, lauschte den Vögeln und dem Ticken des abkühlenden Motors und wartete darauf, dass das Koffein Wirkung zeigte und den Schmerz milderte, der in ihrem Kopf wütete wie Blitzeinschläge. Schließlich gab sie auf, öffnete das Handschuhfach und kramte darin herum, bis sie das Fläschchen Tylenol fand. Sie warf drei Schmerztabletten ein und spülte sie mit dem Rest des Kaffees hinunter.

»Komm in die Hufe«, murmelte sie vor sich hin. Doch sie rührte sich nicht, saß da wie in einer Art Starre und wartete darauf, dass sich die Willenskraft einstellte, die sie brauchte, um aus dem Wagen zu steigen. Diese Willenskraft aufzubringen schien bei jedem Besuch länger zu dauern.

Nach all den Jahren, in denen sie auf Mordschauplätzen eingetroffen und ihrer Arbeit souverän und voller Selbstvertrauen nachgegangen war und aus nächster Nähe geschundene, bisweilen zerstückelte Tote in alptraumhaft blutigen Szenarien unter die Lupe genommen hatte – warum fiel ihr das hier jetzt so schwer? Weil aus jenen Menschen bereits alles Leben gewichen war, gab sie sich selbst die Antwort, es waren nur noch die irdischen Hüllen, und ihre Aufgabe, ihre Mission war es, herauszufinden, wer die Verantwortung für diesen ultimativen Raub trug: für das Auslöschen des Lebens und aller Verheißung, die dieses Leben für alle im Umfeld des Mordopfers gehabt hatte. So strapaziös es manchmal auch gewesen war, Stund um Stund im Angesicht der Auswüchse schlimmster menschlicher Grausamkeit Beweismittel und Informationen zu sammeln, es schien ihr nicht so schwierig, wie sich der Ankunft des nahenden Todes zu stellen und bei einer Frau zu sein, die sich an dessen Schwelle befand – einer Frau, die zu verlieren sie nicht ertrug.

Sie griff nach einer Starbucks-Tüte und zwang sich auszusteigen.

Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich auf einen glatten asphaltierten Weg, der eine laubbedeckte Grünfläche teilte und zu einem schmucklosen und doch architektonisch ansprechenden weißen Gebäude führte, das einen Großteil des Grundstücks einnahm. Die zahlreichen zweiflügeligen Fenster erlaubten den Blick auf eine bunte Mischung aus Jacaranda, Feigenbäumen, Fächerpalmen, Paradiesvogelbüschen, scharlachroten Bougainvilleen und gelben Wandelröschen in voller Maienblüte.

Kate öffnete eine große Eichentür und betrat einen lichtdurchfluteten Raum, der an ein Wohnzimmer denken ließ. Auf dem hellen Parkettboden lagen leuchtendbunte Teppiche mit geometrischen Mustern, Sofas, Sessel und Stühle in heiteren Bonbonfarben waren zu drei Sitzgruppen arrangiert. Allein die Rezeption aus warmem Kirschholz, die von der Wand neben der Eingangstür aus in den Raum hineinragte, und ein schwacher Geruch, undefinierbar, aber ausgeprägt und adstringierend, verrieten, dass es sich hier nicht um ein großzügig geschnittenes Eigenheim handelte. Die Sitzgruppe vor dem dunkelblau gekachelten Kamin war von drei Menschen besetzt – zwei korpulente Frauen mit ergrauendem Haar saßen links und rechts von einem weißhaarigen Mann mit eingesunkenen Schultern und zitterndem Kopf, der wiederum in einem Rollstuhl saß. Die Frauen hielten jeweils eine Hand des Mannes und blickten nicht auf, als die automatische Tür sich zischend hinter Kate schloss.

Die Rezeption war nicht besetzt. Mit ruhigen Schritten durchquerte Kate die Eingangshalle und bog am Ende in einen Gang ein. Sie nickte dem weißgekleideten Pfleger zu, der ein Tablett trug. An der Tür zum vierten Zimmer auf der linken Seite blieb sie stehen.

In dem schmalen Bett am Fenster lag Maggie Schaeffer und blickte auf die üppige Pflanzenpracht hinaus; eine leichte Decke lag auf ihrem ausgezehrten Körper, eine durchscheinende Hand ruhte auf dem Buch, das neben ihr lag. Ihre neue Zimmergenossin, der Kate noch nicht begegnet war, eine uralte, runzelige Frau mit gelblichem Teint und grauem Haar, das so dünn war, dass ihre Kopfhaut hindurchschimmerte, schlief in dem Bett an der Wand und schnarchte beim Ausatmen leise blubbernd vor sich hin. Der Fernseher oben an der Wand lief, war aber stumm gestellt.

Kate blieb in der Tür stehen und betrachtete Maggie. Die Erinnerung an ihre erste Begegnung in der Nightwood Bar durchzuckte sie. Eine kräftige, ziemlich selbstbewusste Maggie Schaeffer, die ein lilafarbenes T-Shirt trug und mit vielen Reißverschlüssen verzierte Shorts. In späteren Jahren sah sie eine Maggie Schaeffer mit wettergegerbtem Teint, stets gebräunt von der Sonne im San Fernando Valley, das attraktive Gesicht von einer reinweißen Mähne gerahmt, die mit ihren lesbischen Gästen flirtete, während sie ihnen in der fröhlichen Geselligkeit der Nightwood Bar ihre Drinks servierte. Die gespenstisch dünne Frau in dem Bett, deren Kopf nach der Chemotherapie nun mit einem zarten Pusteblumenflaum bewachsen war und von deren Nase ein Schlauch zu einer Sauerstoffflasche am Kopfende des Bettes führte, erschien ihr wie ein grausames Abbild. Das einzige unveränderte Merkmal, das diese Person mit jener früheren lebenssprühenden Frau verband, war der Kaffeebecher aus glasierter Keramik, der auf Maggies Nachttisch stand – der Kaffeebecher, der in den dreiundzwanzig Jahren, die Kate Maggie kannte, fest zum Inventar von Maggies Häuschen in Pacoima gehört hatte und ständig in Maggies Reichweite gewesen war. Er gehörte zu den wenigen Dingen, die Maggie in ihr letztes Domizil mitgenommen hatte.

 

»Ich sehe dich da stehen«, sagte Maggie mit dünner Stimme, ohne den Kopf zu wenden.

Kate war die außergewöhnliche Wahrnehmung, über die Maggie seit einiger Zeit verfügte, inzwischen vertraut. Sie hielt die Starbucks-Tüte hoch. »Ich habe dir deinen guten alten Freund Frappuccino mitgebracht.«

Nun wandte Maggie ihr den Kopf zu, und die durchscheinende Haut über ihrem ausgezehrten Gesicht straffte sich über ihren Wangenknochen, als sie lächelte, und schimmerte weiß. Mit einer leichten Kopfbewegung wies sie auf das zweite Bett. »Das ist Alice. Sie ist gestern hier im Todestrakt angekommen.«

Das Hospiz beherbergte zehn Menschen, zwei in jedem Zimmer, und ein Bett war stets nur kurze Zeit nicht belegt. Maggie hatte keine Familie – man hatte die Tochter, die unbeirrt als Butch ihren Weg ging, schon Jahrzehnte zuvor verstoßen. Kurz nach der Diagnose ›Krebs im Endstadium‹ hatte Kate recherchiert, Silverlake Haven entdeckt und unter die Lupe genommen – ein wichtiges Kriterium war die Aufgeschlossenheit gegenüber LGBT-Menschen – und Maggie auf die Warteliste setzen lassen. Als irgendwann klar wurde, dass Palliativbetreuung rund um die Uhr alles war, was man noch für Maggie tun konnte, stand ihr Name bereits oben auf der Liste, und Kate hatte sie mit einem privaten Krankentransport herbringen lassen.

Kate füllte den Frappuccino in den Keramikbecher, steckte den biegsamen Strohhalm aus Maggies Wasserglas hinein und servierte ihn ihr. Maggie hob den Kopf und trank genießerisch einen Schluck. »Gut. Das hier auch.« Sie hob das Buch hoch, einen Roman von KG MacGregor. »Patton hat mir gestern das letzte Kapitel vorgelesen.«

Kate nickte. »Ich bringe dir morgen etwas von einer deiner Lieblingsautorinnen mit – den neuen Roman von Karin Kallmaker.« Sie holte einen Blaubeermuffin aus der Tüte. »Wie geht’s dir?«, fragte sie pflichtschuldig und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.

»Ging mir nie besser. Iss du den Muffin«, sagte sie zu Kate. »Ich will ihn nicht – es sei denn, er enthält die Pillen, um die ich dich gebeten habe.«

Kate warf einen raschen Blick auf die neue Zimmergenossin, die aufzuwachen schien, und schüttelte den Kopf. »Fang nicht wieder davon an, Maggie.«

»Warum nicht? Ich habe eine neue Idee, die all deine Gewissensbisse ausräumen wird. Wie wär’s, wenn du das nächste Mal zwei Revolver mitbringst, mir den einen gibst und mich dann in Notwehr erschießt?«

Kate musste wider Willen laut auflachen, und von Alice aus dem anderen Bett ertönte ein Schnauben, das keineswegs wie Schnarchen klang.

Maggie sprach mit leicht pfeifendem Atem und einiger Mühe, aber immerhin ohne zu husten. Das war vermutlich den neuen Medikamenten zu verdanken, die sie über den Sauerstoffschlauch inhalierte und die die Atemwege heute freizuhalten schienen.

Kate wusste, dass Maggie möglicherweise nicht an Lungenversagen sterben würde. Im vierten Stadium hatte der Lungenkrebs bereits Tochtergeschwülste in die Leber gesetzt. Man hatte Kate gesagt, dass es nur eine Frage von Wochen, wenn nicht gar Tagen war, bis eine oder mehrere Vitalfunktionen ausfallen würden.

»Kate, als Audie Schlaftabletten genommen hat, fandst du das in Ordnung. Du warst der Meinung, sie habe das Recht zu tun, was sie getan hat, als ihr Krebs –«

Kate runzelte die Stirn. Aber sie hat es selbst getan. Und Audies Leichnam zu finden hat beinahe auch noch Raney umgebracht.

»Kate, wie kannst du deiner besten Freundin wünschen, wochenlang dahinzusiechen?«

Weil ich nicht einmal den Gedanken ertrage, dich zu verlieren.»Darüber haben wir schon gesprochen.«

»Sei froh, dass du das Rauchen schon vor langer Zeit aufgegeben hast, Kate.«

»Wenn Anne nicht gewesen wäre …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn sie mochte nicht sagen, dass sie dankbar war. Wenn Anne sie nicht dazu gebracht hätte aufzuhören, wäre sie wahrscheinlich dumm genug, immer noch zu rauchen. »Ich glaube, das kommt vom jahrelangen Passivrauchen in der Nightwood Bar.«

»Du meinst also, dass meine lesbischen Schwestern mich umgebracht haben?«

Kate lächelte sie an.

»Vielleicht nur diejenigen, die du verführt und dann abserviert hast.«

»Sind Sie die Freundin von der Polizei?«, rief die Frau aus dem zweiten Bett zu ihr herüber. Ihre Stimme klang zittrig und quengelig. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Kate sah Maggie mit gerunzelter Stirn an. Maggie zuckte die Achseln. »Ich habe ihr von dir erzählt. Ich habe ihr gesagt, dass du nicht mehr im Dienst bist.«

»Miss Police Detective, kann ich mit Ihnen reden?«

Kate sah Maggie an und verdrehte die Augen. Dann stand sie auf und ging zu dem anderen Bett hinüber. »Hallo, Alice. Ich heiße Kate. Ich kann Ihnen nicht behilflich sein. Ich bin aus dem Polizeidienst ausgeschieden.«

Alice musterte Kates Khakihosen und das gelbe Poloshirt mit einem Hauch von Anerkennung in den wässrigen blauen Augen. Dann heftete sie ihren Blick auf Kates Gesicht. »Sie müssen jemanden für mich finden. Jonathan Philip Souza. Wie John Philip Sousa, nur dass er Jonathan heißt und dass Souza sich mit Z schreibt.«

»Haben Sie denn keine Familie –«

»Meine Familie will nichts mit ihm zu tun haben. Ich muss ihn aber sehen. Ich muss ihm unbedingt sagen …« Tränen füllten ihre Augen, quollen über und liefen ihr die runzeligen Wangen hinunter. »Ich liebe diesen Jungen. Bitte finden Sie ihn! Sagen Sie ihm, dass seine Tante Alice ihn sehen möchte.«

»Alice, es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Kate sanft.

Alice wischte ihren Einwand mit einer klauenartigen Hand verächtlich fort. »Was sind Sie denn für eine Detektivin?« Der Ton machte klar, dass sie Kate eigentlich fragte, was für ein Mensch sie war. Sie drehte sich um, wandte Kate den Rücken zu und schaute an die Wand.

»Kate …« Maggie winkte Kate zu sich.

Kate kehrte zu ihr zurück und beugte sich auf Maggies Geheiß zu ihr hinunter. »Bauchspeicheldrüsenkrebs«, flüsterte Maggie ihr ins Ohr. »Sei nachsichtig mit ihr – wer weiß, was für Medikamente sie kriegt.« Maggie legte ihr die Hand auf die Schulter, damit Kate sich noch nicht aufrichtete, und fuhr fort: »Dieser Junge – er ist kein Junge mehr. Er ist fünfunddreißig, und er ist schwul. Seine Familie hat sich von ihm losgesagt, genau wie meine damals – vor vielen, vielen Jahren.«

»Ich weiß nicht, was ich tun –«

»Red keinen Unsinn«, keuchte Maggie. Sie schob Kate mit schwachen Kräften von sich. »Tu’s einfach.«

Kate seufzte.

»Du siehst ziemlich fertig aus«, fuhr Maggie fort und inspizierte sie näher. »Verkatert?«

»Ein bisschen«, gab Kate zu. Dank Tylenol fühlte sie sich schon besser.

»Aimee war gestern Abend hier.«

Kate nickte. Aimee besuchte Maggie, wenn Kate sie nicht besuchte. Einige Tage zuvor war Kate aus dem Hospiz gekommen und hatte gesehen, wie Aimee davonfuhr, als sie bemerkt hatte, dass Kates Focus vor dem Silverlake Haven stand.

»Wenn du das Trinken nicht lässt –«

Kate hob entschieden die Hände. Nicht nötig, dass Maggie ihre Tirade erneut losließ. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Ich habe um halb zwölf einen Termin.« Sie tätschelte Maggie die Hand.

Maggie ergriff Kates Hand. »Bitte, Kate, ich möchte, dass das hier zu Ende geht. Bring mir einfach ein paar Pillen. Das ist alles, worum ich dich bitte.«

»Maggie, ich kann das nicht.«

»Du kannst das.«

Kate zog ihre Hand fort und stand auf. Traurig und mutlos wandte sie sich von Maggie ab und ging zur Tür. »Ich komme später noch mal wieder.«

»Miss Police Detective, finden Sie Jonathan Philip Souza!«, rief Alice ihr nach. »Souza mit Z.«

3

Während Kate noch überlegte, wie sie die als Nächstes anstehenden Dinge am besten anging, schlug sie den Weg zu ihrer Wohnung ein, um ein paar Sachen zu holen, ehe sie weiter zu Camerons Haus fuhr.

Im Wohnzimmer nahm sie den Schaukasten von der Wand, der die Nachbildung ihrer Dienstmarke enthielt. Sie löste die Rückwand, während sie sich mit dem Argument zu beschwichtigen suchte, dass es hier um Cameron ging und sie nur im äußersten Notfall Gebrauch von der Polizeimarke machen würde. Im umgekehrten Fall, dachte sie ironisch, würde Cameron nicht die leisesten Bedenken haben – er würde sie auslachen: »Wie – du hast ein Problem damit, dich als die Polizistin auszugeben, die du früher gewesen bist?« Sie löste die Marke von dem blauen Samt, mit dem der Kasten ausgeschlagen war, und wog sie in der Hand – sie hatte sie nie zuvor in den Händen gehalten – und stellte fest, dass sie ein klein wenig schwerer war als das Original.

Im Schlafzimmer stieg sie aus ihrer Khakihose und zog eine geräumige Cargohose an. Sie steckte ihre Brieftasche und ihr Handy in eine der Taschen und ein Notizbuch, einen Stift und einige weitere Dinge in eine andere. Nach den gut vier Monaten außer Dienst war sie immer noch froh, dass sie nie wieder die Schultertasche tragen musste, die sie immer als ›die verdammte Satteltasche‹ bezeichnet und als Cop immer hatte bei sich haben müssen. Sorgsam heftete sie die Dienstmarke in eine der verbliebenen leeren Hosentaschen, um sie nicht aus Versehen herauszuziehen, wenn sie etwas anderes hervorholte. Oder sie – schlimmer noch – verlor. Eine gefälschte Dienstmarke mit ihrer Dienstnummer zu verlieren würde ihr wahrscheinlich größere Scherereien bereiten, als wenn sie dabei erwischt wurde, wenn sie sie benutzte.

»Hab einen schönen Tag, Miss M«, sagte sie leise und streichelte Miss Marple, die sich auf dem Bett zusammengerollt hatte, eine weiße Pfote unter dem Kopf, die Jadeaugen auf Kate geheftet.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen verspürte sie eine beschwingende Zielstrebigkeit. Die Sonne hatte den Dunstschleier über der Stadt durchbrochen, und Kates Stimmung blieb heiter, statt in ihre übliche genervte Ungeduld zu verfallen, während sie im dichten Verkehr durch West Hollywood fuhr und den geschäftigen Santa Monica Boulevard entlang. Auf der noch stärker befahrenen Highland Avenue ging es hinauf zur Franklin, wo sie einen halben Block später abbog und den Focus den steil sich hochschlängelnden, aber kaum befahrenen Hillcrest hochjagte. Noch vor halb zwölf kam sie bei Cameron an.

Nur wenige der überwiegend eingezäunten Häuser auf der baumbestandenen Straße hatten Garagen. Camerons schwarzer RAV4 war quer zur Fahrbahn geparkt und belegte eine der beiden Parkbuchten am Zaun zu seinem Grundstück. Daneben stand ein Wagen der Firma Marvel Maids.

Kate fand eine Parkbucht ein Stück weiter oben an der Straße und machte sich zu Fuß auf den Weg zurück zum Haus. Sie setzte ihre Schritte in den Sneakers voller Achtsamkeit, als könnte sie bei einem Fehltritt Gefahr laufen, haltlos bis zum Fuße des Hügels hinunterzupurzeln. Camerons Haus und die Gegend gefielen ihr, aber sie konnte sich nicht vorstellen, auf einer so steilen Hanglage zu wohnen, dass ihr Gleichgewichtssinn fortwährend herausgefordert war. Die Umgebung fühlte sich beinahe surreal an. Hier oben unter den Bäumen und ihrem dichten Blätterwerk, in dem eine Vielzahl von summenden Insekten und zwitschernden Vögeln hausten, befand sich eine ruhige Wohngegend, die nur einen Steinwurf hügelab entfernt war vom wuseligen Hollywood Boulevard und Graumans Chinese Theatre mit seinen Massen von Touristinnen und Touristen, Sightseeing-Bussen und Straßenhändlern, die Souvenirs feilboten und Stadtpläne mit eingezeichneten Routen, die garantiert zu den Häusern der Stars führten.

Mit Absicht ging sie auf dem Weg zum Haus dicht an dem RAV4 vorbei; sie registrierte die gleichmäßige Staubschicht und dass im Inneren des Wagens nichts Ungewöhnliches zu sehen war; innen schien er so makellos wie bei Cameron immer. Kate öffnete das Gartentor. Umsehen konnte sie sich nicht, solange die Marvel Maid noch da war; sie durfte es nicht riskieren, Alarm auszulösen oder Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Also betrat sie das Grundstück, als wäre es das Normalste der Welt; sie ließ den Blick beiläufig über den pflegeleichten Vorgarten und das hellbraune Holzrahmenhaus mit den dunkelbraunen Fensterläden wandern und konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Die großen Keramiktöpfe mit weißen und gelben Frühlingsastern, die links und rechts von der Eingangstür standen, schienen gut gepflegt, wurden aber zweifellos von einem automatischen Bewässerungssystem versorgt, denn Joe Cameron war kein Gärtner.

 

Sie ging über die auf dem moosigen Rasen asymmetrisch verlegten Steinplatten zu einer schattigen Veranda, auf deren terracottafarbenen Fliesen einige Liegestühle standen. Auf den Eingangsstufen zum Haus befanden sich ein Wischmop, ein Besen und ein Plastikeimer mit ein paar Putzlappen. Die Eingangstür stand einen Spaltbreit offen – welch glücklicher Zufall. Sie ging die zwei Stufen hinauf, klopfte energisch an die Tür und schob sie auf.

Zu ihrer Linken, hinter dem Frühstückstresen, der die Küche vom Wohnzimmer und der Essecke trennte, fuhr eine Latina mittleren Alters mit einem Lappen über die granitene Arbeitsfläche. Sie blickte alarmiert auf. Kate winkte unbeschwert. »Hallo, ich bin eine Freundin von Joe Cameron.« Sie hoffte, dass die Frau Englisch sprach.

»Nicht da.«

»Ja, ich weiß. Ich soll nach dem Wasseranschluss im Garten sehen. Ich bin eine Freundin«, wiederholte sie und stieß die Tür noch ein bisschen weiter auf, um auf den Kaminsims zeigen zu können und auf das gerahmte Foto, das, wie sie wusste, dort stand. »Sehen Sie das Foto? Gehen Sie hin und gucken Sie es sich an. Das sind Joe und ich.«

Die Frau musterte Kate von Kopf bis Fuß ohne augenscheinliche Feindseligkeit. Dann kam sie aus der Küche hervor, ging ins Wohnzimmer hinüber und setzte die Brille auf, um das Foto von Cameron und Kate in Uniform zu betrachten, das bei einer Zeremonie der Polizeiakademie aufgenommen worden war, bei der verdiente Kolleginnen und Kollegen geehrt wurden.

Kate erklärte: »Ich muss die Sprinkler hinten im Garten überprüfen.«

Die Putzfrau wandte sich um und sah sie an. »Sie Polizei wie er. Sie machen.«

»Danke.«

Falls die Frau sich wunderte, warum Kate durchs Haus ging, wo doch der Garten von draußen zugänglich war, sagte sie jedenfalls nichts. Kate hätte, wenn nötig, eine Erklärung parat gehabt: Sie brauchte einen Schraubenschlüssel aus der Werkzeugkiste im Hauswirtschaftsraum. Kate durchquerte die Küche und ging den Flur entlang, trat in den Hauswirtschaftsraum mit der Waschmaschine und dem Trockner und öffnete die mit einem Riegel verschlossene Tür, die in den Garten hinausführte. Sie zog den Riegel zurück, holte eine Rolle Klebeband aus einer ihrer Hosentaschen, riss einen kleinen Streifen davon ab und klebte den Schließmechanismus zu. Dann schloss sie die Tür sorgsam hinter sich. Mit einem ironischen Lächeln dachte sie an einen Mord zurück, der sich während eines Raubüberfalls in einem Spirituosengeschäft ereignet hatte: Der Angestellte, der von ihr festgenommen worden war, hatte sich eben dieser Methode bedient, um sich Zutritt zu dem Laden zu verschaffen. Ein einziger prächtiger Fingerabdruck auf dem Klebeband hatte genügt. Wie Cameron oft festgestellt hatte: »Ohne ihre Dummheit würden wir sie nie fassen.«

Für den Fall, dass sie beobachtet wurde, widmete sie sich einen Augenblick dem Zulauf für das Bewässerungssystem, drehte den Hahn zu und wieder auf. Das Bewässerungssystem versorgte einen grünen Rasen und den Jasmin und die Bougainvillea, die sich scharlachrot am hinteren Teil des Zaunes hochwand. Im Garten befand sich auch Joes Grill, eine große, professionell wirkende Anlage mit gemauertem Fundament, dessen längliche Silberhaube in der Sonne glänzte. Die große graue Plastikplane lag zusammengefaltet daneben, als wäre Joe im Begriff, den Grill zu benutzen oder als hätte er ihn gerade benutzt und noch nicht wieder gereinigt. Das würde sie sich später genauer ansehen.

Sie ging um das Haus herum zu der offenstehenden Eingangstür. »Danke!«, rief sie. »Ich bin fertig.«

»Ja. Wiedersehen«, erklang die Stimme der Putzfrau von irgendwo aus den Tiefen des Hauses.

Kate stieg wieder hügelan.

Während sie in ihrem Wagen darauf wartete, dass das Auto von Marvel Maids verschwand, dachte sie über Joe Cameron nach. Sie nutzte ihren Sachverstand und ihre Erfahrung, um die Fakten, die sie über ihren Ex-Partner wusste, methodisch auszuwerten und einzuschätzen, welche für die aktuelle Situation relevant sein mochten.

Es war im August vor sieben Jahren gewesen, als er ihr Partner bei der Mordkommission der Wilshire Division wurde. Cameron, von jungenhaftem Aussehen und Linkshänder, war von der Devonshire Division zu ihnen gekommen. An jener Hand hatte er die ersten zwei Jahre einen Ehering getragen. Er war gewandt und stets gut gekleidet; mit seinen sechsunddreißig Jahren ein Leichtgewicht, was seine Erfahrung anging, und nach Kates Maßstab ziemlich jung fürs Morddezernat. Bei Autopsien war er zimperlich, das hatten sie gemeinsam, aber sie konnte es vor den Pathologen besser verbergen. Er trug eine Pilotenbrille, was sie affig fand, und wurde leicht rot, was nach ihrem Maßstab ein ernsthaftes Manko darstellte. Anfangs fiel er ihr ins Wort, wenn sie Zeugen befragte und Verdächtige verhörte, und plapperte Fakten aus, ehe Kate den zu Befragenden ihre Version entlocken konnte – absolut inakzeptabel, egal welchen Maßstab man anlegte. Sie hatte kein Blatt vor den Mund genommen, als sie es ihm sagte, und er hatte sich nach Kräften bemüht, das zu ändern. Er lernte enorm schnell; er machte kontinuierlich eindrucksvolle Fortschritte und erwies sich innerhalb eines Jahres als kompetent und intuitiv an Tatorten und als ein Partner, der sie aufs Beste ergänzte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Joe Cameron das letzte Mal während einer Befragung einen Fehler gemacht hatte – oder rot geworden war.

Als sie ihm am Anfang die traditionelle Frage, warum er Polizist hatte werden wollen, gestellt hatte, war seine Antwort prosaisch gewesen: krisenfester Job. Nach jenem ersten Jahr, in dem sie seinen Eifer, Mörder zu fassen, beobachtet hatte, begriff sie, dass seine Antwort ein billiges Ablenkungsmanöver gewesen war, um weit tiefgründigere und zorngespeiste Motive zu kaschieren.

Zwei von ihren Fällen stachen hervor. Nach nur drei Wochen Zusammenarbeit hatten sie den Fall Herman Layton geklärt, eine Messerattacke, begangen am helllichten Tag, als das Opfer auf einer asphaltbespritzten Bank vor der Mammutrekonstruktion in den La Brea Tar Pits gesessen hatte. Drei Jahre später erfolgte die von großer Publicity begleitete Untersuchung des Todes von Victoria Talbot im noblen Villenviertel Hancock Park und dem anschließenden Gerichtsverfahren. Während dieser Zeit hatten sie Stil und Stärken des anderen genau kennengelernt. Kates Unterstützung, als er wegen seiner Scheidung todunglücklich gewesen war, hatte sie noch enger zusammengeführt. Nachdem Joe sie wiederum gerettet hatte, als Aimee sie das erste Mal verließ, wurden sie Freunde und Vertraute; sie verbrachten auch außerhalb ihrer Arbeit viel Zeit miteinander, bedeutsame Zeit, und Kate war oft bei ihm zu Hause gewesen, wenn er abends zum Barbecue eingeladen hatte. Es waren Zeiten gewesen, in denen er sich mit Wein hatte volllaufen lassen und sie mit Scotch. Wenn sie einmal nicht unentwegt von der Arbeit redeten, erfuhr er ihre Familiengeschichte und etliches aus ihrem Leben als Lesbe, und sie erfuhr mehr, als sie je hatte wissen wollen, über die Frauen, die ihm unrecht getan hatten, und all die Freundinnen, die durch sein Haus und sein Leben stolziert waren.

Und dennoch blieb eine Kluft zwischen ihnen. Zum Teil konnte sie Camerons allgemeiner Coolness und Reserviertheit zugeschrieben werden, aber Kate übernahm mehr als die Hälfte der Verantwortung für etwas, das in ihrem allerersten gemeinsamen Fall wurzelte. Für sie war der Fall Herman Layton gelöst – zum Guten oder Schlechten. Für Cameron hingegen blieb sein erster Fall ein doppelbödiges Rätsel, das ihm keine Ruße ließ. In den Folgemonaten war er die Ermittlungen erneut in allen Einzelheiten durchgegangen und hatte Misstrauen angesichts gewisser Schlüsselmomente geäußert, in denen er und Kate nicht zusammengewesen waren. Er hatte geschlussfolgert, dass er von entscheidenden Entwicklungen bewusst ausgeschlossen gewesen war. Das Thema kam immer mal wieder auf den Tisch, wenn auch seltener in den letzten Jahren, und er wischte ihre gleichbleibende und beharrliche Beteuerung, dass sie ihm keine Erkenntnisse oder Beweise vorenthalten hatte, stets beiseite. Sie hatte keine andere Wahl, als zu mauern, wie sie sich selbst beschönigend versicherte, um nicht das Wort Lüge benutzen zu müssen. Sie konnte ihren Eid nicht brechen, über die internationalen Auswirkungen zu schweigen, die einen CIA-Officer aus dem Ruhestand geholt und verdeckt, aber tief in den Fall involviert hatten.