Frevlersbrut

Text
Aus der Reihe: Die Erste Tochter #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Vairrynn selbst schüttelte den Staub der Schule von den Füßen, ohne sich umzusehen, verbrachte einen Gutteil seiner freien Zeit mit Ftonim und noch mehr mit Myn und begann einige Lchnattau später ein zweijähriges Studium an der Naturwissenschaftlichen Akademie Naharmbras. Jedermann war überrascht. Im Stillen hatte die Familie wohl erwartet, dass Vairrynn Naharmbra bei der ersten Gelegenheit den Rücken kehren und sich auf das Tygdul-Gut zurückziehen würde, das er von seinen leiblichen Eltern geerbt hatte. Mudmal, natürlich, kannte seinen Bruder besser. Doch Vairrynns Wahl überraschte ihn nichtsdestoweniger; warum sollte jemand, der Geschichte aufsog wie Regen und sich in fremden Sprachen zurechtfand, als sei er dort zu Hause, ein Studium der Naturwissenschaften wählen? Es war ihm ein Rätsel. Und noch etwas: Was immer auch der Grund für Vairrynns Entscheidung sein mochte – Mudmal, der stets der Meinung gewesen war, dass ihm sein Talent für alles Technische garantierte, zumindest in einem Bereich besser zu sein als sein großer Bruder, störte sich daran auf eine fundamentale Weise, über deren kleingeistige Natur er sich keine Illusionen machte. Vielleicht war das irgendwie, auf eine seltsam verquere Weise, die Mudmal selbst nicht ganz verstand, sogar der Grund dafür, dass er sich an den meisten Tagen davonstahl und sich zur anderen Seite der Stadt aufmachte, wo wohl schon seit der Gründung Naharmbras all die Leute lebten, welche die täglichen Dienste verrichteten, die der Aristokratie ihr komfortables Leben ermöglichten – und diejenigen, die auf weniger durchsichtige Art und Weise die Vorteile der alten Adelsstadt zu nutzen wussten. Nach und nach versammelte er eine mit allen Wassern gewaschene Gruppe von jungen Burschen um sich – oder vielleicht hatten sie ihn auch einer um den anderen als eine Art Maskottchen adoptiert, Mudmal war sich nie ganz sicher, welche Version, die seine oder die ihre, den Tatsachen eher entsprach.

Nachdenklich wischte Mudmal seine Nammsa-fetten Finger an seinen Hosen ab und begann, mit dem Neoly-Siegelring am mittleren Finger seiner linken Hand zu spielen. Vom ersten Tag an, da es ihn zum Alten Hafen getrieben hatte, hatte er sich immer wieder gefragt, ob er den Ring nicht besser in seiner Brusttasche verschwinden lassen sollte, solange er sich in diesem Teil der Stadt befand; genug Blicke zog das Wappen jedenfalls auf sich, zumindest zu Anfang. Inzwischen jedoch hatten sich die alteingesessenen Anwohner des Hafendistrikts an den naseweisen Aristokratenjungen gewöhnt, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, sich in ihrem Revier herumzutreiben; und keiner war dumm genug, einem Sohn der Großen Alten ans Leder zu wollen. Außerdem hätte Mudmal auch ohne Siegelring nur schwer seine Identität und ganz sicher nicht seine Herkunft verbergen können. Also versuchte er es erst gar nicht. Keiner seiner Freunde hatte ihn je nach dem Grund seines Auftauchens im Hafenviertel gefragt oder ihn auf seine Familie angesprochen. Sie nannten ihn jedoch ohne Ausnahme »Neo« – eine Respektlosigkeit, die Mudmal dieselbe diebische Freude bereitete, wie die Tagediebe mit Großem Alten Geld zechfrei zu halten.

Die Sonne über dem spiegelglatten Inneren Ozean stand inzwischen etwas tiefer als sie sollte, und Mudmal blickte seufzend auf den Alleskönner, der wie ein Reif um seinen Unterarm lag, und tippte ihn an, um ein aktuelles Zeithologramm aufzurufen. Die letzten zwei Jahre hatte er lernen müssen, dass Zeit im Hafenviertel nicht ernster genommen wurde als von den Aristokraten, und grundsätzlich hatte er kaum Probleme damit. Aber heute war ein wichtiger Tag, und wenn Nott und seine Kumpane noch lange auf sich warten ließen, würden sie auf das Gebäck verzichten müssen, das Mudmal geplant hatte, ihnen auszugeben. Da das aber noch lange kein Grund war, warum er selbst sich mit nur einer Nammsa zufrieden geben sollte, sprang er auf und schlenderte von der Mole in Richtung der Bäckerei, die Hände in den Hosentaschen. Der Nachmittag war viel zu still und friedlich, um sich schnell zu bewegen, und Mudmal genoss dieses Gefühl, wohlwissend um seine Vergänglichkeit. Allerdings hätte er nicht gedacht, dass seine Idylle derart flüchtig war, dass sie ihr Ende fand, noch ehe er die Bäckerei erreicht hatte.

»Sieh mal einer an, Nembdrrynn Neoly«, riss ihn eine Stimme aus seiner belanglosen Versunkenheit, die er nicht mehr gehört hatte seit dem Tag, da sein Großvater Vairrynn und ihn aus ihrer alten Schule genommen hatte. Mudmal wandte sich um mit einem Ausdruck im Gesicht, als wäre er in etwas ausgesprochen Unappetitliches getreten. Und tatsächlich: Im Schatten eines alten, hölzernen Bootes, das entweder als irgendein Denkmal hier aufgestellt oder einfach vor Äonen im Alten Hafen vergessen worden war, lehnte die vierschrötige Gestalt von Gynl Hnell, Fluch von Mudmals Kindheit und Feigling sondergleichen.

Der Gebrauch des Schimpfnamens ›Nembdr-Sohn‹, der damals, vor ach so langer Zeit, ein todsicheres Mittel gewesen war, ihn die Beherrschung verlieren zu lassen, fiel Mudmal jetzt nicht einmal sonderlich auf. Er war schlicht und einfach angewidert, dass Gynl in sein ureigenes Territorium eindrang. Es gab nur einen offensichtlichen Grund, aus dem Männer von Gynls Stand – Mudmal weigerte sich in einem Anflug echten Neoly’schen Familienstolzes, jemanden aus einer derart niedrigrangigen Dynastie als Gleichgestellten zu betrachten – sich ins Hafenviertel begeben würden, und seine Abscheu für Adlige, die die Suche nach frischem (oder nicht so frischem) Fleisch auf die andere Seite der Stadt verschlug, kannte keine Grenzen. Gynls Gesicht verdüsterte sich, als er Mudmals angeekelter Miene gewahr wurde.

»Was treibt dich hier in diese verrufene Gegend, Kleiner?«, fragte er. »Und das auch noch ohne deine treudoofen Babysitter! Na, wo sind denn die beiden Hübschlinge? Haben sie dich für ihr kleines Techtelmechtel dir selbst überlassen?«

Mudmal rollte nur mit den Augen. Über die enge Freundschaft seines Bruders mit Ftonim Sar hatte er sich schon so lange Anzüglichkeiten anhören müssen, wie er sie auch nur ansatzweise verstanden hatte, doch jeglichen ernsthaften Spekulationen hatte stets Vairrynns Ruf unter seinen Mitschülern und Ftoms bei den Frauen einen Riegel vorgeschoben. Mudmal musste dem jungen Sar unbedingt von Gynls erbärmlichem Versuch in geistreicher Häme erzählen, und sei es nur, um dessen zungenfertigen Kommentar zu hören. Oder doch lieber nicht, denn dann war es unvermeidbar, dass auch Vairrynn davon erfuhr, und der würde sich wahrscheinlich aus Prinzip verpflichtet fühlen, Gynl aufzustöbern und ihm eine Abreibung zu verpassen, weil er die Unverfrorenheit besessen hatte, Mudmal zu belästigen. Dieser seufzte; sein großer Bruder täte gut daran, ein wenig lockerer zu werden. Vairrynn war in letzter Zeit so angespannt wie eine Bogensehne.

»Was ist, Neoly? Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Mudmal rollte wieder mit den Augen. »Ja, Gynl, genau: Deine Scharfzüngigkeit und -sichtigkeit haben mich jeglicher Artikulationsfähigkeit beraubt. Du hast uns alle durchschaut: Wir feiern jeden Tag wilde Orgien, und was wir nachts treiben, kann ich deinen unschuldigen Ohren wirklich nicht zumuten.«

Gynls Augen verengten sich, und sein Gesicht lief gefährlich dunkel an. »Du bist eine Schande, Neoly. Das seid ihr alle.«

»Ja, aber sicher«, entgegnete Mudmal ungerührt und wandte sich zum Gehen. Er wusste schlicht und ergreifend Besseres mit seiner Zeit anzufangen, als sie an Gynl Hnell zu verschwenden, und Beleidigungen zu überhören, hatte er in den vergangenen beiden Jahren gelernt.

»Ich wette, das gilt auch für deine Schwester!«

Mudmal konnte das laszive Grinsen in Gynls Stimme hören und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Ich hab sie neulich erst zusammen mit diesem Frachtschiff Rymmdla Byndall im Hakk-Park gesehen. Also, ich muss schon sagen, da würde mir die Auswahl nicht schwerfallen! Wer hätte gedacht, dass sich dieses knochige, kleine Ding so auswachsen würde. Und du weißt, was sie über Nembdr-Töchter sagen, nicht wahr, Neoly? Ich hätte sicher nichts dagegen, die Unersättlichkeit deiner Schwester auf die Probe zu stellen!«

Gynl hatte die Lektionen, die er als Schulhoftyrann gelernt hatte, nicht vergessen, und wusste genau, welche Knöpfchen er bei anderen drücken musste, um sie die Beherrschung verlieren zu lassen. Aber er hatte nicht bedacht, dass sich Leute ändern. Mudmal Neoly war nicht länger der schmächtige kleine Junge, dessen Wagemut größer war als seine Beherrschung und als seine Körperkraft, und Gynl hatte den Fehler gemacht, ihn in seinem eigenen Revier zu stellen, wo er Neo war, der sich von nichts und niemandem etwas vormachen ließ. Das letzte Wort hatte Gynls Mund noch nicht verlassen, da fuhr Mudmal herum, das blitzende Messer in der Hand, das er in seinem Gürtel verborgen trug und das einen Lidschlag später zwischen Gynls Beinen im Holz des Denkmalbootes steckte. Einen Moment lang starrte Gynl verdattert zwischen dem ungehörigen Wurfgeschoss, das sich gefährlich nahe an essenziellen Teilen seiner Anatomie befand, und Mudmal, der schon sein zweites Messer gezogen hatte, hin und her, als würde sich sein Hirn weigern, die Verbindung zwischen beidem zu ziehen. Dann sog er mit einem erstickenden Geräusch die Luft ein.

»Ngdra, hast du sie noch alle, Neoly?!«

Mudmal antwortete nicht, ging nur in eine bessere Kampfstellung, für den Fall, dass Gynl auf die Idee kommen sollte, das Messer aus dem Boot oder den Kschurr aus dem Gürtel zu ziehen.

»Hey, Neo, macht dir der Kerl Schwierigkeiten?«, fragte da eine Stimme hinter Mudmal, und der junge Neoly konnte ein Grinsen nicht verkneifen, als sich Nott und zwei weitere Gestalten demonstrativ neben ihm aufbauten. Gynl ließ seinen Blick von einem zum anderen schweifen und sah entschieden käsig aus. Mudmals Grinsen verbreitete sich, und er machte einen Schritt auf Gynl zu, dann noch einen. Sein Kindheitspeiniger presste sich an die hölzerne Bootswand, und Mudmal konnte seinen Kehlkopf hüpfen sehen. Einen Augenblick ließ er Gynl noch schmoren – und im Moment konnte er sich an nichts erinnern, das süßer gewesen wäre – dann griff er nach unten und zog sein Messer aus dem Holz.

 

»Aber nein, Jungs, hier gibt es nichts, was unserer Aufmerksamkeit wert wäre.«

Mit einem letzten Grinsen in Gynls Gesicht wandte er sich ab, und das zusammengewürfelte Häufchen seiner Freunde folgte ihm wie ein Mann. Sie waren einige Schritt weit gekommen, als Gynl seine Stimme wiederfand: »Du bist ein Schandfleck für die Großen Alten und für das wahre Singisentum, Neoly! Deine ganze Familie ist ein Schandfleck!«

»Fick dich selbst, Gynl«, sagte Mudmal ungerührt und ohne sich umzudrehen. »Es wird sonst niemand tun.«

Das Gelächter seiner Freunde umgab ihn, als sie zu viert hinüber zur Bäckerei stromerten, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Mudmal hätte gern geglaubt, dass er die Konfrontation auf diese Weise beendet hatte, weil er nicht wollte, dass Nott und die anderen dafür in Schwierigkeiten gerieten. Die Wahrheit jedoch war, dass er aus den Augenwinkeln die Gruppe von Wystreitern gesehen hatte, die irgendwann während seiner Auseinandersetzung mit Gynl auf dem Pier aufgetaucht war, und Mudmal konnte sich nichts Dümmeres vorstellen, als mit diesen Wchlachai Asnuors zusammenzugeraten, wenn man den Namen Neoly trug.

Sie hatten einen weiten Bogen um die Wystreiter gemacht, als sie die Bäckerei wieder verließen, und schafften es so, jeder Art von Ärger aus dem Weg zu gehen. Bei den Streitern des Wy konnte man nie so genau wissen, welche Agenda sie gerade hatten, und einen Trupp zu vermeiden, hieß, auf Nummer sicher zu gehen.

Ursprünglich war die Gruppe vom neuen Vorsteher des Reiches eingesetzt worden, um weitere Nembdrai aufzuspüren – Töchter der Lchnadra, aber auch andere widernatürliche Frauen. Sie hatten jedoch so gut wie keine Erfolge aufzuweisen. Die Verbrennung Lys Neolys hatte der Organisation offenbar den Todesstoß versetzt, und die Töchter der Lchnadra schienen sich einfach in Luft aufgelöst zu haben. Überall im Reich wurden verdächtige Frauen befragt, aber keiner konnte Widernatürlichkeit in einem Ausmaß nachgewiesen werden, das einen weiteren Scheiterhaufen gerechtfertigt hätte. Stattdessen wurden eine Reihe der Verdächtigen in Erziehungsanstalten des Wyordens geschickt – eine Maßnahme, die die Öffentlichkeit deutlich begrüßte. Doch die Streiter des Wy mit all ihrem Nembdrai-Eifer wurden schnell zu lächerlichen Figuren. Die Singisen wollten glauben, dass der Frevel des Baummordes ein Einzelfall gewesen war und Lys Neoly eine abscheuliche Abnormität. Sie wollten nicht glauben, dass ihre eigenen Frauen und Töchter Ausgeburten des Bösen waren, die die Vernichtung verdienten.

Asnuor schien diese Haltung seines Volkes sehr schnell zu erspüren und stellte die großflächige, systematische Nembdrai-Fahndung ein. Das hinderte überzeugte Monowyisten und andere Übereifrige zwar nicht daran, jede Frau in ihrer Umgebung mit Frn-Augen zu beobachten und zweifelhaftes Verhalten zur Anzeige zu bringen; doch zum Großteil blieb es ruhig, und die Singisen waren zufrieden. Asnuor warnte seine Nchrynnai davor, die Augen vor dem Bösen zu verschließen, das in ihrer Mitte brütete, denn diese Haltung habe auch zu dem furchtbaren Baummord geführt, und kommandierte die Streiter des Wy dazu ab, die Sicherheitskräfte zu unterstützen und die Einhaltung der neuen, strengeren Bestimmungen zu überwachen, die die Vorsteherschaft des Obersten Priesters mit sich gebracht hatte. Der Alltag kehrte in das Memnáh zurück, und kaum jemanden außer den unvermeidlichen liberalen Unruhegeistern schien es zu stören, dass es ein Alltag mit härteren Sicherheitsverordnungen und erhöhter Polizeipräsenz war und dass Frauen fast keinen eigenständigen Schritt mehr tun konnten, ohne sich verdächtig zu machen. Es waren eben böse Zeiten, und böse Zeiten verlangten Opfer und Wachsamkeit.

Wenn Mudmal angenommen hatte, unter den Bewohnern des Naharmbraner Hafenviertels eine andere Haltung vorzufinden, sah er sich enttäuscht. Die Erwartungen, was eine Frau zu tun und zu lassen hatte, mochten sich von denen unterscheiden, die ihm vertraut waren, aber auf ihre Weise waren sie nicht weniger streng – strenger sogar, wie er manchmal den Eindruck hatte. Gedankenverloren spielte er mit den beiden Armbändern aus Tigeraugen in seiner Brusttasche, die Notts Schwester angefertigt hatte, und fand es immer noch lächerlich, dass er sie nicht selber hatte aufsuchen dürfen, um das Schmuckstück abzuholen und ihr seine Anerkennung für ihre vortreffliche Arbeit auszusprechen. Er hatte gelernt, dass die kleinen Leute, wenn sie ehrbar waren, scharfäugiger über ihre Töchter wachten, als es den Großen Alten jemals in den Sinn kommen würde – und das mochte etwas heißen.

Dennoch war es nicht die Ehre von Notts Schwester, über die Mudmal nachdachte, während er vom Alten Hafen nach Hause trabte, sondern die seiner eigenen. Was Gynl gesagt hatte, nagte an ihm mit unerfreulicher Hartnäckigkeit, und er wunderte sich über den Zufall, dass er ausgerechnet am heutigen Tag das erste Mal jemanden so über seine Schwester sprechen hörte. Sie war seine Schwester, um der Einheit Willen! Natürlich begutachtete man die Mädchen und kommentierte ihre Attribute, wenn auch nicht mit der gleichen boshaften Absicht wie Gynl, aber wie konnte irgendjemand Myn so ansehen, die seine Schwester war und schon immer ein kleines Mädchen gewesen war … Aber das war es eben, nicht wahr? Mudmals Hand krampfte sich um die Tigeraugenarmbänder, und einen Moment lang überkam ihn der irrationale Impuls, die Dinger aus seiner Brusttasche zu reißen und in den Rinnstein zu werfen. Myn war kein kleines Mädchen mehr, und er selbst war wahrscheinlich der Letzte, der es gemerkt hatte.

Als hätten Gynls Bemerkungen eine Art Achten Sinn für Brüder aktiviert, musste Mudmal plötzlich an Ftonims letzten Besuch im Hause Eftnek Neolys denken. Er hatte Vairrynn, Myn und vermutlich auch Mudmal Auf Wiedersehen sagen wollen, bevor er zu einem seiner Trips in die Vereinten Planeten aufgebrochen war; Myn hatte Ftonim umarmt, um ihm eine gute Reise zu wünschen, und Ftonim hatte sie einen Moment zu lange festgehalten und sie dann von Kopf bis Fuß angesehen mit einem Glitzern in den Augen, für das Mudmal ihn jetzt im Nachhinein gerne geschlagen hätte.

Keuchend blieb der junge Neoly stehen und versuchte, die Hände auf die Knie gestützt, den ererbten Jähzorn wieder in die Kiste in seinem Innern zurückzustopfen, in die er gehörte. Er mochte Ftom, ganz ehrlich, aber er wollte nicht, dass jemand wie er seine Schwester so ansah. Seit er denken konnte, war Ftonim Sar bei seinen Kusinen und Tanten ›der Glanzjunge‹ gewesen, und zu dieser Bezeichnung gehörte grundsätzlich ein kecker Augenaufschlag und ein wissendes Lächeln. Unter der jungen männlichen Bevölkerung Naharmbras wiederum ging ihm der Ruf voraus, mit seinem Charme selbst eine Lchnadra-Dienerin dazu bringen zu können, dass sie die Roben lüpfte, und für die Entjungferung der Hälfte der zukünftigen Großen Damen der Stadt verantwortlich zu sein. Natürlich waren die Berichte über Ftonims Eroberungen heillos übertrieben – und ausgesprochen unwahrscheinlich, bedachte man, dass die Großen Alten ihre Töchter hüteten wie ihre Augäpfel. Aber völlig aus der Luft gegriffen waren die Gerüchte dann doch nicht. Jemand mit Ftonims Renommee war ganz sicher kein Umgang für seine Schwester, sinnierte Mudmal ärgerlich, und fragte sich, ob Vairrynn denn nie bedacht hatte, wem er da so unbekümmert Zugang zu Mynrichwy Neoly verschaffte. Die Vorstellung, Ftonim könnte im Stillen ähnliche Gedanken hegen wie Gynl, machte es Mudmal schwer, den Deckel der psychischen Kiste zu schließen, die seinen Jähzorn halten sollte.

»Verdammt nochmal, Neo, jetzt reiß dich zusammen!«, schrie er sich selbst an und zog die irritierten Blicke einiger Passanten auf sich. Toll. Das fehlte gerade noch, dass sich in Naharmbra herumsprach, dass der junge Neoly den Verstand verlor. Es genügte vollauf, wenn er selbst es wusste. Was war überhaupt mit ihm los? Gynl! Das war die Erklärung! Viermal verdammt sei diese Platzverschwendung in singisischer Form, dass er immer noch im Stande war, ihn derart aus der Bahn zu werfen!

Mudmal holte noch einige Male tief Atem, und es gelang ihm endlich, die Kiste in seinem Innern zu verschließen. Ruhig, ruhig. Heute war nicht die Zeit für so etwas. Heute war Myns Tag. Und er kam zu spät. Entschlossen trabte er wieder los in Richtung seines Vaterhauses. Wie es Mudmals Natur war, war der schwarze Zorn auf Ftonim Sar bereits zu dem vagen Entschluss verkommen, in Zukunft dafür zu sorgen, dass bei Begegnungen zwischen dem jungen Raumfahrer und seiner Schwester ein gewisses Maß an Schicklichkeit eingehalten wurde. Und selbst dieser fiel in sich zusammen, als er zu Hause anlangte und Myn auf einem Baum im Garten sitzend vorfand. Jedwede Hoffnung, seine Schwester zu etwas Schicklichkeit oder wenigstens Dekorum anzuhalten, war sowieso und ganz und gar vergebens.

Kopfschüttelnd starrte Mudmal zu dem Mädchen hinauf und fragte sich, ob Myn jemals etwas so tun würde, wie man es von ihr erwartete. Er wollte seine Schwester gar nicht anders haben als sie war, aber manchmal wäre es schlicht und ergreifend einfacher gewesen, sie wäre es doch. Da saß sie, auf dem untersten Ast eines Jonnka-Baumes, der die frisch-grünen Blätter in den Himmel strecke und winzige Knospen trug, während jedes andere weibliche Wesen, das er kannte, bei dem alleinigen Gedanken in Panik ausgebrochen wäre, entweder sie selbst oder ihre Garderobe könnte bei solch einem gewagten Manöver zu Schaden kommen. Allerdings trug Mynrichwy auch nicht, wie es dem heutigen Tag angemessen gewesen wäre, ein erlesenes Kleid aus gelbem Rplsamt oder weißer Mrbaseide, sondern ihre dunkelbraunen, weiten Leinenhosen, die sie gewöhnlich zum Reiten anlegte, und ein naturleinernes Top mit einer Reihe kleiner, runder, dunkelbrauner Knöpfe auf der rechten Seite. Mudmal wünschte, er könnte sie so auf die Straße schicken; wahrscheinlich würde sie kein Mann überhaupt bemerken in diesem Aufzug. Dann aber sah er genauer hin, und er musste sich eingestehen: vermutlich doch. Das ärmellose Top war eng genug geknöpft, um sich an ihre Kurven zu legen, und entblößte ihre Arme, während das Braun ihrer Hosen zu den dunkleren Strähnen ihres rotbraunen Haares passte, das sich bis auf den Ast, auf dem sie saß, hinabwellte. Die tiefe Sonne stand Mynrichwy im Rücken und verwandelte sie in ein Wesen aus Kupfer und Bronze. Das Bild erinnerte Mudmal an die Geschichten über Drachenfrauen, die neuerdings im gesamten Reich die Runde machten, und er seufzte schwer. Warum nur konnte seine Schwester nicht einfach aussehen wie Rymmdla Byndall?

»Sag mal, solltest du da oben sein?«, fragte er in den Baum hinauf.

»Wahrscheinlich nicht«, entgegnete sie gleichmütig. Mudmal schüttelte wieder den Kopf, aber diesmal lächelte er. Wortlos fischte er die Tigeraugenarmbänder aus seiner Brusttasche und reichte sie in das Geäst hinauf. Myns zartfingrige Hand kam ihm entgegen und schnappte sich die Schmuckstücke, die das Mädchen mit einem leisen Lächeln im Gesicht betrachtete.

»Mynrichwy!«, rief da jemand. »Komm!«

Sowohl Mudmal als auch seine Schwester wandten sich um und sahen Rymmdla durch das achteckige Fenster des Familienzimmers winken, das mit dichten, hellroten Sorrn-Blättern umrankt war. Myn stieß ein kurzes, gurgelndes Lachen aus und landete neben ihrem Bruder auf der Erde. Halbschweren Herzens blickte Mudmal ihr nach, wie sie Richtung Haus und Richtung Rymmdla lief. Mud fragte sich, ob ihre Nachbarin, einige Lchnattau älter als Mynrichwy, gekommen war, um ihr am heutigen Tag ein paar Worte unverzichtbarer weiblicher Weisheit mit auf den Weg zu geben.

»Hey, Myn!«, rief Mudmal seiner Schwester nach, ehe sie im Haus verschwinden konnte; da gab es noch etwas, das er loswerden musste. Sie drehte sich um und hob eine fast spöttisch fragende Augenbraue. Mud lächelte ein wenig zittrig.

»Alles Gute zum fünfzehnten Geburtstag, große Schwester.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?