Gourmetkatz

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»Beeil dich«, knurrte er. »Er gleich kommen.« Dann schob er sie brutal zurück zur Matratze, wo er sie mit einem neuen Kabelbinder an einer Metallstange festband.

»Könnte ich etwas zu essen haben?«, bettelte sie.

»Nein, er meint, du sonst alles vollkotzen.«

»Bitte, wenigstens Wasser.«

Er zögerte und verschwand im Nebenraum. Seine Schritte klangen seltsam hohl und blechern, als wenn der ganze Raum mit Metall gesichert wäre.

Er kam mit einer halb vollen Mineralwasserflasche zurück und hielt sie ihr an den Mund. Mit gierigen Zügen trank die junge Frau, verschluckte sich und begann zu husten. Er warf die leere Flasche in die Ecke und wischte ihr mit seinem Ärmel das Wasser von Gesicht und Hals. Schwer atmend fuhr er mit der Hand weiter über ihre Brust und suchte den Ausschnitt ihres Pullovers. Bevor sie schreien konnte, erklang ein lautes Pochen an der Tür.

Der Mann erhob sich unwillig. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

Das Klopfen verstummte und die Tür wurde geöffnet.

»Hast du ihr die Augen verbunden?«, hörte sie eine zweite Männerstimme fragen.

»Ich werde gleich machen.«

»Gut, gib mir noch eine Minute, ich muss etwas essen«, erklärte der Neue.

Ihr Entführer kam zurück und stülpte ihr einen Einkaufsbeutel aus Stoff über den Kopf. Für eine Weile hörte sie nur sein Keuchen. Kurz darauf nahm sie auch die Anwesenheit des zweiten Mannes wahr. Ein intensiver Geruch nach Lebkuchen ging von ihm aus, den sie selbst durch die Stofftasche riechen konnte.

»Was wollen Sie von mir?«

»Nur ein paar Fragen«, antwortete er sanft. Sie spürte, wie der Ärmel ihres Pullovers hochgeschoben wurde.

»Was machen Sie?«, schrie sie angsterfüllt.

»Wir wollen, dass du uns die Wahrheit sagst. Dafür gibt es hier ein wunderbares Mittel. Ich habe keine Lust, erst deine Lügen zu überprüfen.«

In diesem Moment spürte sie einen Stich in ihrer Armbeuge, der wenig später von einem unangenehmen Brennen begleitet wurde.

Donnerstag

Dass es sich nicht um einen Baumstamm handelte, der da die Isar heruntertrieb, war Harti Kleverlä alias Sokrates sofort klar. Wie sollte ein Baumstamm auch mit den Armen wedeln. Er stellte die Zahnbürste zurück in den Plastikbecher, blickte auf den Toten und entschloss sich, seine Morgentoilette zu verschieben. Die Entscheidung, ob er ins Wasser steigen sollte, um den Leichnam zu bergen, nahm ihm die Strömung ab. Wie ein leeres Boot schrammte der Körper die Steine entlang und blieb dann direkt vor Sokrates’ Füßen hängen. Dass die Leiche eine verwaschene Bluejeans trug, konnte er deutlich erkennen. Die Farbe der Windjacke war im trockenen Zustand vermutlich dunkelrot gewesen. Für einen kurzen Moment dachte Sokrates daran, den Toten umzudrehen. Das pechschwarze Haar machte ihn neugierig. Aber er entschloss sich, den Körper nur vor dem weiteren Abtreiben zu sichern. Er legte einen schweren Stein auf die geöffnete Jacke, die wie ein Flügel im trüben Wasser auf und ab trieb. Harti Kleverlä blinzelte in die aufgehende Sonne und musterte den Leichnam noch einmal.

Dann ging er zurück zu seinem Lager unter der Reichenbachbrücke. Hinter einem Stück Schwemmholz hatte er eine Tupperdose verborgen. Umständlich zog er den fest schließenden Deckel herunter und kramte ein uraltes Nokia-Handy hervor, das er sicherheitshalber in ein T-Shirt eingewickelt hatte. Zufrieden stellte er fest, dass der Akku noch halb voll war, obwohl er das Telefon seit drei Wochen nicht mehr geladen hatte. Erst überlegte er, die 112 zu rufen, um sein Guthaben zu schonen, dann wählte er aber doch die Nummer seines alten Freundes Steinböck und teilte ihm seinen Fund mit.

Anschließend zündete er den kleinen Gaskocher an, stellte einen verrußten Wasserkessel darauf und gab zwei gehäufte Teelöffel Nescafé Gold und vier Stück Würfelzucker in seinen Kaffeepott. Ein paar Minuten später goss er alles mit heißem Wasser auf. Als er feststellte, dass sich ein Stockentenpärchen der Leiche näherte und auch ein paar Möwen über dem Körper kreisten, kehrte er mit seinem Kaffee zurück, um den Fundort zu überwachen.

Sokrates setzte sich auf einen angeschwemmten Baumstamm und schlürfte vorsichtig an seinem heißen Getränk. Gelassen blickte er auf den vorbeifließenden Fluss und wartete geduldig auf die Sirenen der Polizei.

»Das Leben könnt so schön sein«, murmelte er. Als sein Blick auf den Leichnam fiel, der sanft im Wasser schaukelte, fügte er melancholisch hinzu: »Muss aber nicht.«

*

Als Steinböck am frühen Morgen von seinem tanzenden Smartphone geweckt wurde, lag Frau Merkel noch am Fußende des Bettes. Das hieß, dass es verdammt früh sein musste. Missmutig tastete er nach dem Telefon. Die Nummer sagte ihm nichts, und für einen Moment dachte er daran, das Gespräch wegzudrücken. Schließlich siegte doch die Neugier.

»Du bist’s, Sokrates? Seit wann hast du ein Handy? Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich vor sechse aus dem Bett zu läuten. Eine Leiche? Bist du dir da sicher? Ja, ich glaub’s dir. Sie schwimmt mit dem Gesicht nach unten, und in der letzten halben Stund sind keine Luftblasen aufgestiegen. Ja, das ist ziemlich eindeutig. Ich werd dir sofort ein paar Leut vorbeischicken. Nein, ich komm später. Die Kollegen sollen sich die Leich erst mal anschauen, bevor die Mordkommission auftaucht. Ja, ich komm auf jeden Fall heut noch vorbei. Bis später dann.«

Steinböck nahm ein bisschen Schwung und drehte die Beine aus dem Bett. Er wählte die Nummer der Bereitschaft und schickte ein Team zur Isar. Die Katze hatte sich aufgerichtet und blickte ihn neugierig an.

»Der Kleverlä Harti hat eine Leiche in der Isar gefunden. Wahrscheinlich ein Selbstmörder, wie so oft.«

»Der Harti, ein ganz brillanter Kopf. Wir müssen ihn unbedingt wieder besuchen.«

»Mach ma. Irgendwann im Laufe des Tages. Aber erst werden wir dem ›Safran‹ und meinem Freund Dago Pfalzer einen Besuch abstatten. Und dann muss ich mich mit den Kollegen in Spanien in Verbindung setzen. So einsam ist es da nicht, dass der Johann Kerbel noch unentdeckt in der Schlucht liegen könnte.« Nur mit Boxershorts bekleidet schlurfte Steinböck durch den Wintergarten ins Freie. »Schad, dass der Emil ned da ist, der könnte des mit den Spaniern am besten erledigen«, brummte er und reckte die Arme nach oben.

»Du, Chef, wenn du dich so streckst, sieht man kaum noch deinen Bauch«, hörte er plötzlich Emil Mayers Stimme, der ein paar Liegestützen an seinem Rollstuhl machte.

»Gleich gehen die Fenster auf und die Nachbarschaft wirft mit alten Pantoffeln nach dir. Und damit meine ich nicht meinen schwarzen Bruder, der seinen Alabasterkörper stählt.«

»Du bist ja doch da, ich dachte, ihr schlaft alle im Hotel«, sagte Steinböck, die Katze ignorierend.

»Was soll ich im Hotel, wenn ich es daheim am bequemsten hab. Außerdem haben wir zu wenig Zimmer für die Ägypter bestellt und müssen einen Teil von denen privat unterbringen. Was könnte ich mit den Spaniern erledigen?«

Steinböck zog seine Shorts bis zum Bauchnabel hoch und setzte sich in den verwaschenen Korbstuhl.

Dann erzählte er, was sie gestern über das Video herausgefunden hatten, auf dem sie den Sternekoch eindeutig identifizieren konnten. Nicht zu vergessen Peter Obstlers Tratsch aus erster Hand.

»Der Johann Kerbel?«, fragte Emil ungläubig und hievte sich zurück in seinen Rollstuhl. »Wo soll das gewesen sein?«

»Playa del Silencio in der Nähe von Gijón auf dem Jakobsweg. Das hab ich mir ausnahmsweise merken können«, antwortete Steinböck.

»Mensch, mit dem hab ich vor ein paar Wochen im Restaurant noch gesprochen.«

»Und wie war das Essen?«

»Super, einfach grandios.«

»Ich sage dir doch, dass dieser Obstler ein Banause ist. Nimm dir ein Beispiel an meinem schwarzen Bruder. Der Junge hat Geschmack. Eben ein Gourmet«, dozierte Frau Merkel.

»Also, was ist mit den Spaniern? Soll ich mich drum kümmern? Ich hab erst um 11 Uhr Training, und unser nächstes Spiel ist morgen.«

»Du tätst mir einen großen Gefallen. Ich möcht mich mal im ›Safran‹ umsehen, und außerdem muss ich zum Sokrates an die Isar.«

»Hast du Sehnsucht nach ihm?«, fragte Emil Mayer junior grinsend.

»Er hat eine Leiche gefunden. Sie ist genau vor seinen Füßen angeschwemmt worden.«

»Mann oder Frau?«

»Wissen wir noch nicht. Werd ich aber bald erfahren. Magst an Kaffee?«

»Na, danke, ich fahr gleich ins Büro und kümmere mich um die Spanier. Sobald ich etwas rausbekommen hab, ruf ich dich an. Ich hoffe, dein Handyakku ist nicht wieder leer?«

»Ach wo, hab ich alles im Griff«, erwiderte Steinböck lachend und kehrte in den Wintergarten zurück. Ein Blick auf den Akkustand. Schlappe acht Prozent. Er stöpselte das Smartphone an und verschwand im Bad.

*

Inzwischen war es kurz nach sieben. Weil Steinböcks Kühlschrank immer noch leer und er sich nicht sicher war, ob Hasleitner bereits mit frischen Brezen im Büro wartete, entschloss er sich, zuerst zur Reichenbachbrücke zu fahren.

»Also, die Todesursache ist noch unklar«, nuschelte Thomas Klessel, der Gerichtsmediziner, hinter seiner Maske. »Auf jeden Fall liegt der junge Mann schon länger im Wasser. Ich denke, die starken Regenfälle in der letzten Nacht haben bewirkt, dass ihn die Strömung mitgerissen hat.«

»Des heißt also, der ist nicht hier von der Brücke gesprungen«, folgerte Steinböck.

»Mensch, woher soll ich des wissen? Ich kann dir heut Nachmittag nach der Obduktion sagen, woran er gestorben ist. Aber über die Strömungsverhältnisse in der Isar musst du jemand anderen befragen«, antwortete Klessel unwirsch.

 

»Ist ja gut.« Der Kommissar hob schützend die Hände und drehte ab. Eigentlich verstanden sich Steinböck und der Gerichtsmediziner blendend. Umso überraschter war er über dessen Reaktion. »Was für eine Laus ist denn dem über die Leber gelaufen?«, fragte er sich leise.

»Wahrscheinlich hat ihn Martina aus der Asservatenkammer versetzt.«

»Unsere Martina? Die aus dem Depot? Läuft da was zwischen den beiden?«

»Du bist wie üblich der Letzte, der etwas mitkriegt. Das geht doch schon drei Wochen.«

»Und woher willst du das wissen?«

»Ich weiß alles, was in diesem Präsidium vorfällt. Mir sind auch deine mehr als zufälligen Begegnungen mit unserer neuen Revierleiterin nicht entgangen.«

»Geh, jetzt spinnst aber«, erwiderte der Kommissar genervt und ließ Frau Merkel stehen.

»Treffer«, stellte sie schnurrend fest.

Es war schon richtig, dass ihm die neue Chefin Lotta Nilson gefiel. Paul Mögele hatte endlich den Sprung in die höchsten Etagen geschafft. Als er Steinböck gefragt hatte, ob er ihn als Nachfolger vorschlagen dürfe, hatte dieser entsetzt abgewunken.

Immer noch verärgert über Frau Merkels letzte Bemerkung, machte sich Steinböck auf die Suche nach Sokrates alias Harti Kleverlä. Vor einigen Jahren hatte der beschlossen, sein Leben als Obdachloser fortzusetzen. Dabei hatte er die Reichenbachbrücke als seinen Hauptwohnsitz ausgesucht. Seitdem ihm Kleverlä beim letzten Fall entscheidend geholfen hatte, den Täter zu überführen, besuchte Steinböck ihn regelmäßig, um mit ihm über Gott und die Welt zu diskutieren. Ein wahrlich kluger Kopf. Nicht umsonst hatte der Sandler seit seiner Jugend den Spitznamen Sokrates.

Ein paar Uniformierte hatten inzwischen die Absperrung um den Fundort der Leiche wieder abgebaut. Thomas Klessel folgte mit gesenktem Kopf den beiden Beamten, die den Körper des Toten in einem Alusarg schwitzend über die Kiesbank schleppten.

»Und, Steinböck, könnt’s ihr mit der Leich was anfangen oder kommt sie gleich auf den Friedhof?«, begrüßte ihn der Isarphilosoph, der unter dem Brückenbogen hervortrat.

»Kann ich noch nicht sagen, das hängt ganz davon ab, was die Obduktion ergibt.«

»Hab dich hier schon länger nicht mehr g’sehen. Seitdem du den Hund nicht mehr hast, bist wohl nicht mehr so viel unterwegs?«

»Du weißt ja, das Verbrechen schläft nie«, philosophierte Steinböck und setzte sich in einen der beiden Campingstühle.

»Magst an Kaffee oder ein Bier?«

»Hast keinen Espresso?«

Kleverlä kramte in seiner blauen Plastikkiste nach Campingkocher und einer Kaffeekanne aus Aluminium. Er drückte Pulver in das Sieb, füllte das Unterteil mit Wasser aus einer Plastikflasche und schraubte die Espressokanne zusammen. Nachdem er den Kocher angezündet hatte, hockte er sich in den freien Stuhl und blickte kurz auf den leise vor sich hinplätschernden Fluss. Die Katze hatte ihre Inspektion des Ufers abgeschlossen und war auf Steinböcks Schoß gesprungen.

»Viel kann ich dir nicht sagen. Ich war beim Zähnputzen, da kam er angepaddelt.«

Der Kommissar blickte erstaunt auf.

»Des war jetzt mehr metaphorisch«, grinste Sokrates. »Er ist direkt auf mich zugetrieben, und ich hab ihn dann mit einem Stein beschwert, damit er nicht wieder abhaut.«

»Sehr metaphorisch. Diese Ausdrucksweise ist eines Philosophen unwürdig«, meldete sich die Katze.

»Was meint sie?«, wollte Kleverlä wissen.

»Du könntest dich etwas gepflegter ausdrücken«, antwortete Steinböck und biss sich gleichzeitig auf die Lippen. Sokrates hatte ihn ausgetrickst.

Doch der ging nicht weiter auf die Katze ein. »Des macht der schlechte Umgang.«

Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch. »Wie soll ich das verstehen?«

»Früher sind die Leut hier an der Isar spazieren gegangen, jetzt tummelt sich immer mehr Gschwerl rum. Ich hab nichts dagegen, wenn sie mit einem Kasten Bier oder einem Fasserl hier abhängen. Aber ich hab was gegen das braune Gesindel, das zunehmend dabei ist. Da schämt sich keiner, wenn sie sich den Hitlergruß zurufen. Und zwischendrin ein paar Reichsflaggen. Die hab ich besonders g’fressen. Auf alles Anspruch erheben, aber sich aus der eigenen Verantwortung für die Gesellschaft mit einem kranken Geschichtsverständnis herauslügen. Wie g’sagt, nichts gegen die jungen Leut, doch da mischen sich a Menge ewig Gestrige dazwischen.«

»Erinnerst du dich, was der große Karl Valentin gesagt hat?«, wollte Steinböck wissen.

»›Der Mensch ist gut, aber die Leut san a Gschwerl‹«, antwortete Sokrates trocken.

»Respekt, jetzt kommt wieder der Philosoph durch«, erklärte Frau Merkel anerkennend.

*

Endlich im Büro, führte Steinböcks Weg zuerst zur Kaffeemaschine. Bei aller Sympathie für Sokrates – dessen sogenannter Espresso erinnerte ihn schwer an seine Studienzeit. Er konnte inzwischen von sich behaupten, dass er ein wahrer Meister im Zubereiten eines Latte macchiato war. Fairerweise musste man aber sagen, dass das Ganze nicht mehr erforderte, als ein Glas unter die Maschine zu stellen und auf einen Knopf zu drücken.

Hasleitner war nicht im Büro, dafür stand auf seinem Schreibtisch ein Teller mit zwei Butterbrezen. Er wusste, dass er sich wie ein verdammter Chauvi benahm, doch auf die beiden Butterbrezen jeden Tag zu verzichten, brachte er nicht fertig. Andererseits könnte er ja diese Aufgabe übernehmen und sich am Morgen um die Zubereitung kümmern. Weiter kam er mit seinen reuigen Gedanken nicht, da ihn die Bonanza-Melodie seines Smartphones unterbrach.

Emil Mayer junior hatte bei seinen telefonischen Recherchen eine Menge herausgefunden und war inzwischen wieder zu Hause. Die spanischen Kollegen hatten tatsächlich den Fall eines abgestürzten Pilgers. Dabei handelte es sich scheinbar um den Deutschen Johann Kerbel. Er lag mit schweren Verletzungen im Krankenhaus von Gijón. Eine Frau, die angab, seine Schwester zu sein, hatte ihn zwei Tage nach dem Vorfall besucht und ihn identifiziert. Sie war angeblich seine einzige Verwandte. Laut den Aufzeichnungen des Überwachungsmonitors war Kerbel seit seiner Einlieferung ohne Bewusstsein. Er war also aus seinem Koma bis heute nicht erwacht.

»Und seine Schwester?«, wollte Steinböck wissen und drückte die Lautsprechertaste, um in Ruhe von seinem Latte trinken zu können.

»Ist nicht wiederaufgetaucht«, schnarrte die Stimme von Mayer junior. Er fügte trocken hinzu: »Was ihr auch schwerfallen dürfte, denn sie ist im August verstorben.«

»Wir brauchen ein Phantombild«, brummte der Kommissar.

»Die Ilona könnte sich darum kümmern. Was ist mit deiner Isarleiche?«, fragte Emil.

»Da müssen wir die Obduktion abwarten. Auf jeden Fall hatte der Mann eine Wunde am Hinterkopf. Sag mal, hast du g’wusst, dass der Klessel was mit der Martina von der Sitte hat?«

»Des weiß doch jeder«, lachte Emil. »So, ich muss ins Training«, hörte man Mayer junior, bevor er auflegte.

»Tja, du solltest dir wirklich überlegen, ob du diesem Job noch gewachsen bist oder lieber an den Emil übergibst«, meldete sich Frau Merkel von der Fensterbank.

»Du kannst mir mal den Buckel runterrutschen. Ich geh jetzt ins ›Safran‹, und du bleibst da. Von mir aus ärgerst die Ilona oder schaust dem Thomas Klessel bei der Obduktion zu.«

»Oh, heut sind wir aber empfindlich. Das Public Viewing in der Gerichtsmedizin ist bestimmt interessanter, als mit dir durch die Stadt zu gurken. Vermutlich fährst du auch noch selber.«

Steinböck winkte ab, nahm den letzten Schluck Kaffee und wickelte sich die zweite Brezen in eine Serviette. Dann verließ er, ohne die Katze noch eines Blickes zu würdigen, das Büro.

»Ach nee, ist sich der Herr Kommissar wieder beleidigt«, äffte sie die Kantinenchefin Tamara nach.

Als Steinböck zum Auto ging, überlegte er krampfhaft, woher die Saukatz diesen Spruch kannte, war doch die Kantine der ostpreußischen Schnitzeldesignerin absolut verbotenes Terrain für die Katze.

*

Obwohl das »Safran« geschlossen war, herrschte im Inneren reger Betrieb. Steinböck konnte durch die verschlossene Glastür eine Reihe von Leuten erkennen, die durch das Lokal eilten. Trotzdem reagierte niemand auf sein mehrmaliges Klingeln. Schließlich klopfte er mit der Faust gegen die Scheibe. Ein junger Mann mit semmelblonden Haaren, der mit der Tischdeko beschäftigt war, rief etwas in Richtung Küche und kam dann widerwillig auf ihn zu.

»Tischreservierungen werden nur telefonisch angenommen«, meckerte er durch den Türspalt.

Der Kommissar hob ihm kommentarlos seinen Ausweis vor die Nase.

»Polizei? Was wollen Sie?«

»Ich möchte den Chef sprechen.«

»Der ist nicht da.«

»Dann eben den zweiten Chef.« Steinböck wurde ungeduldig.

»Der ist auch nicht da«, erwiderte der Semmelblonde patzig.

»Egal, wer hier was zu sagen hat, teilen Sie ihm mit, dass ich vorhabe, das Restaurant noch heute schließen zu lassen.«

Das wirkte. Mit säuerlicher Miene öffnete er Steinböck die Tür und verschwand eilig in der Küche. Der Kommissar musterte den Hochglanzprospekt des Lokals. Ein Gruppenfoto der gesamten Belegschaft zierte das Deckblatt. In der Mitte ganz oben thronte Dago Pfalzer und grinste durch seine Zahnlücke. Er griff sich ein paar der Prospekte und steckte sie in seine Sakkotasche.

Wenig später kam ein Mann mit dunkler Kochkleidung aus dem hinteren Teil des Restaurants. Er nahm die schwarze Haube ab und reichte Steinböck die Hand. »Mein Name ist Frank Lugger. Ich bin hier der Küchenchef. Es gibt Probleme mit dem Restaurant?«, fragte er besorgt.

»Nicht unbedingt, aber der Ton Ihres Mitarbeiters könnte etwas freundlicher sein.«

Frank Lugger zog die Augenbrauen hoch. »Selbst wir können uns das Personal nicht aussuchen«, seufzte er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ihr Chef, Johann Kerbel … Wissen Sie, wo der ist?«

»Johann hat sich eine Auszeit genommen. Er ist auf dem Jakobsweg unterwegs und schreibt einen Internet-Blog, auf dem man verfolgen kann, wo er sich gerade befindet.«

»Und Sie vertreten ihn im Moment?«

»Ja, bis er zurückkommt. Die beiden letzten Wochen war das Restaurant wegen Betriebsferien geschlossen. Wir öffnen erst am Samstag wieder, starten aber heute schon mit den Vorbereitungen.«

»Wann will er denn zurückkommen?«

»Das hat er nicht gesagt. Nach dem Tod seiner Schwester ging es ihm nicht besonders gut. Er war nicht mehr bei der Sache. Seine Kreativität hat sehr darunter gelitten. Aber wenn er den Pilgerweg erwandert hat, wird er sicher wieder mit vollem Elan einsteigen. Weshalb interessieren Sie sich dafür? Ist etwas passiert?«

»So wie es aussieht, ist Johann Kerbel in Spanien auf noch ungeklärte Weise verunglückt.«

»Ist er tot?«, fragte Lugger erschrocken.

»Nein, ist er nicht. Mehr darf ich Ihnen dazu nicht sagen. Wo ist eigentlich Ihr anderer Chef?«

»Sie meinen Dago Pfalzer?«

»Genau den mein ich.«

»Der Herr Pfalzer ist meistens unterwegs. Sie verstehen, die Fernsehaufzeichnungen.«

»Wie kann ich ihn erreichen?«, wollte der Kommissar wissen.

»Sie haben Glück, er ist heute Morgen aus Japan zurückgekommen.«

»Sehr gut, und wo find ich ihn?«

»Vermutlich im Fernsehstudio. Die neue Folge soll geschnitten werden. ›Spitzenküche, ganz extrem.‹«

»Ist des wirklich Spitzenküche?«, fragte Steinböck zweifelnd.

Lugger grinste und zuckte mit den Schultern. »Egal, wir sind fürs nächste halbe Jahr ausgebucht, nur das zählt.«

»Also gut, dann richten S’ dem Pfalzer aus, dass er sich morgen Vormittag bei mir im Büro melden soll. Hier ist meine Karte, falls er sich nicht mehr an mich erinnert.«

»Sie kennen sich?«

»Kann man so sagen, aus unserer gemeinsamen Zeit als Würschtelverkäufer«, feixte Steinböck.

»Des würd mich jetzt näher interessieren.«

»Ein anders Mal«, wiegelte der Kommissar ab. »Übrigens schick ich meine Kollegin vorbei, um das Personal zu befragen. Und dann sollte der Blondie a bisserl freundlicher sein. Mit Kommissarin Hasleitner ist nicht gut Kirschen essen.«

*

Ilona hatte die Prozedur mit dem Phantombild erheblich verkürzt, indem sie den spanischen Kollegen ein Bild von Candida Hinksel alias Putzi geschickt hatte. Diese war im dortigen Krankenhaus als die Frau identifiziert worden, die sich als Johann Kerbels Schwester ausgegeben hatte. Als Steinböck ins Büro zurückkehrte, lagen die Informationen bereits auf seinem Schreibtisch.

 

»Hat die Putzi sich tatsächlich als Kerbels Schwester ausgegeben. Die hat auch keine Skrupel«, brummte der Kommissar.

Ilona Hasleitner starrte angestrengt auf den Bildschirm, auf dem ein Überwachungsvideo ablief.

Steinböck stellte sich hinter sie und fragte neugierig: »Was machst denn da?«

»Jetzt ned«, zischte sie ungehalten und fuhr mit der Maus nervös auf dem Pad hin und her. Plötzlich stoppte sie das Bild. »Jawohl, des könnt er sein. Schau her, Chef, was deine brillante Kollegin herausgefunden hat.«

»Was soll des sein?«

»Das ist der Flughafen Asturias. Derjenige, der am schnellsten von Gijón aus erreichbar ist. Wer hat Grund, einen Münchner Sternekoch umzubringen? Eines ist klar, der Sturz war kein Unfall. Es gab vorab weder einen Streit noch ein Handgemenge. Irgendein Spanier? Wohl kaum. Jemand aus Johann Kerbels Bekanntenkreis? Schon wahrscheinlicher. Das hilft uns aber nicht weiter, weil wir den Täter ja nicht kennen. Was wissen wir?« Hasleitner tat ganz geheimnisvoll. »Er trug beim Mord eine auffällig orangefarbene Mütze. Und hier sind die Aufnahmen der Überwachungskamera des Flughafens am Tag der Tat. Viel kann man nicht erkennen, aber diese Mütze sticht deutlich heraus. Falls es unser Mann oder unsere Frau ist, könnten wir vielleicht über die Passagierlisten eine Verbindung finden. Natürlich werd ich auch die anderen Flughäfen in der Umgebung abklappern. Die Flughafenpolizei hat sofort reagiert und uns über Europol die Aufnahmen zugeschickt.«

»Ilona, du bist ein Scharnierl. Aber was ist, wenn er mit dem Auto in Spanien war oder ist? Allerdings: Sollte sich durch das Basecap eine Spur nach München finden, ist das eindeutig unser Fall und es macht Sinn, weiterzuermitteln. Was ist mit dem Arzt, den die Putzi nach ihrer Rückkehr versucht hat anzurufen?«

»Der ist im Urlaub auf Mallorca. Die Nummer von Candida Hinksel ist immer noch abgeschaltet. Auch der Bereich, wo ihr Handy zuletzt eingeloggt war, bringt uns nicht weiter.«

»Hast du was über den Gesundheitszustand von Johann Kerbel erfahren?«

»Er liegt nach wie vor im Koma. Das Krankenhaus will nichts Näheres sagen. Deshalb habe ich die spanischen Kollegen hinzugezogen. Ich musste ihnen das Video zusenden. Scharf sind sie auf den Fall nicht. Trotzdem werden sie Befragungen durchführen, um zu erfahren, ob die Person mit der Mütze jemandem aufgefallen ist. Außerdem möchte ich die Passagierlisten der Maschinen aus Spanien anfordern, die am Tattag aus Madrid und Bilbao angekommen sind.«

»Sehr gut, Frau Kommissarin«, meinte er anerkennend und lächelte dabei verschmitzt.

»Wenn du mir so kommst, dann willst du was von mir.« Ilona wurde hellhörig.

»Ich möcht, dass du ins ›Safran‹ fährst und dort das Personal befragst. Mit dem Küchenchef hab ich schon geredet. Er wusste, dass Kerbel den Jakobsweg ging. Aber davon, dass er aus dem Restaurant aussteigen wollte, hat er nichts g’sagt. Vielleicht ist alles nur ein Gerücht. Versuch, etwas mehr herauszubekommen. Ich werde in die Gerichtsmedizin gehen und schauen, ob es was Neues über unsere Isarleiche gibt.«

»Jawohl, Chef«, erwiderte sie wie gewohnt zackig. »Von der Isarleich hab ich inzwischen auch schon erfahren, brauchst mir also keinen Bericht mehr zu erstatten«, legte sie etwas gekränkt nach.

*

Natürlich ließ sich Frau Merkel Steinböcks Besuch bei dem Gerichtsmediziner Dr. Klessel nicht entgehen. Der hockte wie üblich an seinem Schreibtisch und tippte mit beiden Zeigefingern seinen Bericht auf dem Laptop. Der Tote aus der Isar trug einen dunklen Vollbart und lag nur wenige Meter entfernt auf einer Bahre. Der Kommissar musterte fasziniert Klessels Augenbrauen, die akkurat zu zwei lang gezogenen Dreiecken rasiert und schwarz gefärbt waren.

»Was für ein schöner Mann!«, meinte die Katze süffisant, die wieder mal Steinböcks Gedanken las. »Was Martina aus der Asservatenkammer alles bewirkt.«

»Aha, ihr zwei seid’s«, stellte der Gerichtsmediziner fest, als er kurz vom Bildschirm weg in ihre Richtung sah. »Die Katz kommt zu spät, ich hab ihn schon zugenäht«, murmelte er und ließ den rechten Zeigefinger nach unten sausen. »So, des wär’s.« Dann griff er in die Brusttasche des grünen Arztkittels und holte seinen silbernen Flachmann heraus. »Heut ist dein Tag, Herr Hauptkommissar. Echter Islay Malt ›Bunnahabhain‹. Man nennt ihn auch den Ladys Whisky.« Er nahm einen kleinen Schluck und reichte Steinböck den Flachmann.

»Is zwar noch a bisserl früh, aber wenn du schon mal was G’scheites in deiner Konservendosen hast, probier ich gerne.

»Du bist nicht mehr weit von Obstlers Niveau entfernt«, nörgelte Frau Merkel, sprang auf den Seziertisch und blickte durch die Trennscheibe auf den Toten, den Klessel bereits sauber zusammengeflickt hatte.

Steinböck schüttelte sich kurz und gab den Flachmann zurück. »Wusste gar nicht, dass die Ladys in Schottland so raß sind. Jetzt zu unserem Unbekannten auf deinem Seziertisch. Haben wir einen Fall?«

»Habt ihr«, erwiderte Thomas Klessel. »Das Opfer ist zwar ertrunken, aber es bekam vorher einen kräftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf. Der junge Mann hat einige Hautabschürfungen und Prellungen, die meisten post mortem. Doch damit nicht genug. Ihm fehlen eine Niere und ein Teil der Leber.«

Steinböck machte ein verblüfftes Gesicht. »War er krank?«

»Genau genommen war er kerngesund. Es sieht so aus, als wenn ihm die Organe für eine Spende entnommen wurden.«

»Ist es üblich, dass man Leber und Niere spendet?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete Klessel grimmig. »Vor allem wurden die beiden Organe gleichzeitig entnommen.«

»Wie lange ist das ungefähr her?«

»Mindestens vier bis fünf Wochen. Erstaunlich, dass er schon wieder auf den Beinen war.«

»Aber so eine Transplantation muss doch irgendwo vermerkt sein.«

»Nicht, wenn sie illegal ist. Und das war sie auf jeden Fall. Kein Arzt würde zwei Organentnahmen gleichzeitig durchführen. Zumindest nicht bei einem Lebenden.«

»Gibt es Hinweise auf die Herkunft des Mannes?«, wollte Steinböck wissen.

»Wir haben sogar seinen Namen. Er heißt Constantin Rusu und kommt aus Moldawien. Seine Fingerabdrücke waren registriert. Er hat hier im letzten Jahr als Helfer bei der Spargelernte gearbeitet. Die Unterlagen hat dir mein Assistent gemailt.«

»Glaubst du, dass ihm die Organe hier entnommen wurden?«, forschte Steinböck weiter.

»Unwahrscheinlich. Ich tippe eher auf die Türkei.«

»Und was macht er dann hier?«

»Tja, das ist deine Aufgabe, das herauszufinden.« Klessel lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück, verschränkte die Finger und drehte die Daumen übereinander. Weil ihn der Kommissar weiterhin herausfordernd ansah, zuckte er kurz mit den Schultern. »Na ja, es gibt da verschiedene Berichte von Kliniken in der Türkei, in denen illegal Organe verpflanzt werden. Die Spender kommen meist aus Moldawien, die Empfänger aus der ganzen Welt, auch oft aus Deutschland.«

»Ist das nach dem neuen Gesetz bei uns immer noch nötig?«

»Und ob, nur ein Drittel der Deutschen hat einen Organspendeausweis. Mindestens ein weiteres Drittel ist nach eigener Aussage ›noch nicht dazugekommen‹, einen auszufüllen. Und ich sag dir, die werden auch in Zukunft keine Zeit dafür haben. Die Menschen sind viel zu bequem. Die Widerspruchslösung wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen, die Situation zu verbessern, aber leider haben sich die Ethikphilosophen durchgesetzt. Auch das neue Gesetz wird nichts ändern. Also kaufen sich die, die es sich leisten können, weiterhin eine Niere oder eine halbe Leber in Moldawien.«

»Was kostet so eine Niere?«

»Ab 200.000 Euro aufwärts«, schimpfte Klessel, der immer wütender wurde.

»Puh, das ist eine Menge Geld. Das rentiert sich.«

»Aber nicht für den Spender. 2.500 bis maximal 5.000 Euro gibt’s für den. Davon muss er dann die Medikamente bezahlen. Es kann ihm auch passieren, dass er gar nichts bekommt. Wenn die Niere angeblich nicht zu gebrauchen war.«

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