Kostenlos

Winnetou 4

Text
Autor:
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sechstes Kapitel. Am Mount Winnetou

Es war ungefähr eine Woche später. Wir hatten während der letzten Nacht am unteren Klekih Toli gelagert und ritten nun am frühen Morgen an seinem Ufer aufwärts. Klekih Toli ist ein Apatschewort. Es heißt so viel wie »weißer Fluß«. Dieser Fluß hat ein bedeutendes Gefälle. Er kommt in zahlreichen Kaskaden vom Mount Winnetou herab. Der weiße Schaum dieser Kaskaden ist es, der ihm seinen Namen gegeben hat. Er ist tief eingeschnitten. Darum sind seine Ufer hoch und steil, oben mit Wald und unten mit Buschholz bewachsen. Da, wo er aus dem gewaltigen Massiv des Mount Winnetou tritt, bildet er mehrere Wasserfälle, welche ihrer Umgebung ein höchst energisches Aussehen erteilen.

Wir waren vier Personen; das Herzle, der »junge Adler«, Pappermann und ich. Die beiden Enters hatten wir am »Dunkeln Wasser« nicht wieder zu sehen bekommen, zumal kein besonderer Grund für uns vorhanden war, ein solches Wiedersehen herbeizuführen. Daß wir ihnen irgendwo und irgendwann wieder begegnen würden, verstand sich ganz von selbst. Kakho-Oto war am Morgen nach der Beratung im »Haus des Todes« zu uns gekommen und hatte uns berichtet, daß im Lager der Roten nichts Besonderes geschehen sei. Sie fragte uns nicht, was wir erlauscht hätten; darum schwiegen auch wir darüber, um sie nicht mit sich selbst und ihren Stammespflichten in Konflikt zu bringen. Vor allen Dingen wurde ihr verheimlicht, daß wir uns in den Besitz der Medizinen gesetzt hatten. je weniger Personen das wußten, um so besser war es für uns. Als wir ihr unsern Entschluß kundgaben, sofort weiter zu reiten, tat ihr diese schnelle Trennung wehe. Sie hätte uns gern begleitet, sah aber wohl ein, daß dies mehr eine Belästigung als eine Erleichterung für uns gewesen wäre und daß sie mehr und besser für uns wirken konnte, wenn sie bei den Kiowa blieb. Doch wurde verabredet, uns unter allen Umständen am Mount Winnetou wiederzusehen.

Diesem Berg waren wir jetzt nun nahe, obgleich wir ihn noch nicht sahen, der tiefen Flußrinne wegen, in der wir ritten. Es gab vom »Dunkeln Wasser« aus einen anderen, bequemeren Weg nach dem Mount Winnetou, den wir aber vermieden hatten, weil wir annahmen, daß er unter den jetzigen Verhältnissen belebter sein werde, als wir wünschtet. Wir wollten unnütze Begegnungen vermeiden und am liebsten dort plötzlich eintreffen, ohne vorher gesehen und beachtet worden zu sein. Darum kamen wir von einer nicht gerade übermäßig wegsamen Seite her und waren nun aber doch gezwungen gewesen, nach dem Ydekih Toli einzubiegen, um nicht an unserem Ziel vorüberzugehen. Daß wir dadurch auf einen jetzt viel betretenen Weg geraten waren, bemerkten wir an den Spuren von Menschenfüßen und Pferdehufen, die uns in die Augen fielen. Und gar bald sahen wir auch einige Indianer, welche an einer Stelle, an der wir vorüber mußten, zwischen den Büschen hockten. Es waren ihrer vier. Ihre Pferde weideten am Wasser. Sie waren unbemalt und nur mit der Lanze bewaffnet, trotzdem aber sofort als Kanean-Komantschen zu erkennen. Als sie uns erblickten, richteten sie sich aus ihrer hockenden Stellung auf und schauten uns entgegen. Sie bildeten einen Posten, den man hier aufgestellt hatte, um alle, die hier vorbeikamen, zu kontrollieren. Der »junge Adler« ritt uns voran und still grüßend an ihnen vorbei. Ihn ließen sie passieren, uns aber hielten sie an.

»Wohin wollen meine weißen Brüder?« fragte der Älteste von ihnen.

»Nach dem Mount Winnetou«, antwortete ich.

»Was wollen sie dort?«

»Wir wollen zu Old Surehand.«

»Der ist heut nicht dort.«

»Und zu Apanatschka, dem Häuptling der Kanean-Komantschen.

»Auch der ist nicht dort. Sie sind beide miteinander fortgeritten.«

»So werde ich dort warten, bis sie wiederkommen.«

»Das ist unmöglich.«

»Warum?«

»Es dürfen jetzt keine Bleichgesichter nach dem Mount Winnetou.«

»Wer hat es verboten?«

»Das Komitee.«

»Wem gehört der Mount Winnetou? Gehört er dem Komitee?«

»Nein«, antwortete er verlegen.

»So hat dieses Komitee auch nichts zu befehlen und nichts zu verbieten!«

Ich trieb mein Pferd zum Weitergehen an. Da griff er mir in die Zügel und sagte:

»Ich muß Euch anhalten. Ich darf Euch nicht vorüberlassen. Ihr habt umzukehren!«

»Versuche es!«

Bei diesen Worten nahm ich mein Pferd vorn hoch und schüttelte ihn ab. Die drei andern wollten Pappermann und das Herzle zurückhalten. Mein Pferd tat einen Satz mitten zwischen sie hinein und trieb sie auseinander. Pappermann rief lachend aus:

»Mich zurückweisen! Den Maksch Pappermann festhalten! Hat man schon einmal so etwas erlebt? Wer es wagt, mich anzufassen, den steche ich auf der Stelle nieder!«

Er ließ sein Maultier einige Sprünge dorthin tun, wo die vier Lanzen in der Erde steckten. Im nächsten Augenblick war ich auch dort. Zwei rasche Griffe, und die Lanzen befanden sich in unseren Händen. Er nahm die eine durch die Lederschlinge an den Arm und senkte die andere zum Stoß. Ich tat ganz dasselbe.

»So!« lachte er. »Wer nicht erstochen sein will, der mache sich aus dem Weg! Vorwärts!«

Wir ritten weiter.

Die Komantschen waren junge Leute. Der Älteste von ihnen zählte gewiß noch nicht dreißig Jahre. Sie stammten also nicht aus der alten kriegerischen Zeit. Sie wußten vor Verlegenheit nicht, was sie machen sollten. Sie schwangen sich auf ihre Pferde und kamen hinter uns her. Sie baten uns, ihnen ihre Lanzen wiederzugeben und ja nicht weiterzureisen, sondern zu warten, bis sie uns nach vorn gemeldet hätten. Dann würden wir erfahren, ob wir unsern Weg fortsetzen dürften oder nicht. Da es nicht in unserer Absicht liegen konnte, sie vor ihren Kameraden zu blamieren, so gaben wir ihnen ihre Lanzen wieder, setzten unseren Weg aber ununterbrochen fort. Sie getrauten sich nicht mehr, dies zu verhindern, und ritten hinter uns her, denn ohne Beaufsichtigung durften sie, wie es schien, uns nicht lassen.

Nach ungefähr einer Stunde kamen wir an einen zweiten Posten, der auch aus vier Personen bestand. Diese machten denselben Versuch, uns anzuhalten. Wir weigerten uns, zu gehorchen. Die ersten vier fühlten sich jetzt stärker als vorher. Da stieg ich vom Pferd, ging zu dem Maultier, welches meinen Koffer trug, öffnete ihn, nahm die beiden Revolver nebst Munition heraus, steckte die letztere zu mir, spannte die Revolver, ging fünfundzwanzig Schritte zur Seite, zielte und gab schnell hintereinander acht Schüsse ab. jeder der Komantschen bekam einen Ruck in den Arm, in dem er die Lanze hielt. Ich hatte alle acht durchlöchert. Ich lud wieder, kehrte dann zu meinem Pferd zurück, stieg auf und sagte:

»Jetzt habe ich nur auf die Lanzen gezielt. Von jetzt an aber ziele ich auf die Männer. Merkt euch das!«

Wir ritten weiter. Sie blieben eine kleine Weile, leise miteinander sprechend, halten; dann kamen sie hinter uns her, alle acht, ohne es aber zu wagen, sich uns mehr, als wir wünschtet, zu nähern.

Nach wieder einer Stunde erreichten wir den nächsten Posten, der ebenso wie die vorigen aus vier Mann bestand, die nur Lanzen trugen. Auch sie wollten sich uns in den Weg stellen; als sie aber sahen, daß wir begleitet wurden, wichen sie zur Seite, ließen uns vorüber und schlossen sich ihren hinter uns reitenden acht Stammesgenossen an. Das machte dem Herzle Spaß.

»Nun ist es genau ein Dutzend!« sagte sie. »Und wir sind nur drei Männer und eine Frau! Sind das jene kühnen Rothäute, von denen man liest und erzählt? Sind das jene Komantschen, die man als die verwegensten unter allen Indianern schildert?«

»Irre dich nicht«, antwortete ich. »Sie sind jung, sind ungeübt. Gib ihnen eine Handvoll Erfahrung, so wirst du sehen, daß sie ihren Vätern nichts nachgeben. Wir haben sie einfach verblüfft; das ist alles!«

Jetzt hatten wir anderthalb Stunden zu reiten, ehe wir den nächsten Posten erreichten. Da stand eine geräumige Blockhütte, bei der zahlreiche Holzklötze lagen, die als Sessel dienen sollten. Hier waren mehr Menschen als nur vier. Ich zählte zehn: acht Indianer und zwei Weiße. Der Pferde waren ebenso viele. Den beiden Weißen schienen die Roten nicht vornehm genug zu sein. Sie hatten sich abseits von ihnen gesetzt. Sie frühstückten aus ihren Satteltaschen und tranken Brandy dazu. Die Flasche stand zwischen ihnen. Das sahen wir von weitem. Als wir aber näher kamen, erkannten wir den Irrtum: die zwei waren nicht Weiße, sondern ein Indianer und ein Halbindianer, aber so wie Weiße gekleidet, während die Komantschen die Tracht ihres Stammes zeigten. Und diese beiden waren uns nicht einmal fremd, sondern Bekannte, sehr gute Bekannte von uns. Nämlich der Halbindianer war Herr Okih-tschintscha, genannt Antonius Paper, und der Ganzindianer hatte sich uns als Mr. Evening vorgestellt, Agent für alles mögliche. Neben ihnen lagen ihre Flinten und einige geschossene Vögel. Sie schienen sich also auf einer Jagdpartie zu befinden.

Sie sprangen beide auf, als sie uns erkannten.

»Halloo, Halloo!« rief Paper aus. »Das ist ja dieser ekelhafte Burton mit seinem blauen Boy! Also darum ritt der ,junge Adler‘ so schnell vorüber! Er will sie einschmuggeln! Haltet sie auf! Sie dürfen nicht weiter! Ergreift sie! Nehmt sie gefangen!«

Diese Aufforderung war an die Indianer gerichtet. Mr. Evening aber fügte warnend hinzu:

»Nehmt euch aber in acht! Gewalttätige Menschen! Dieser Burton ist gewohnt, augenblicklich zuzuschlagen!«

Wir achteten nicht auf diese Rufe, sondern lenkten unsere Tiere nach dem Wasser und stiegen ab, um sie trinken zu lassen. Es war die Zeit dazu. Indem wir das taten, erstatteten unsere zwölf bisherigen Begleiter Bericht über uns. Wir hörten zwar nicht, was sie sagten, konnten uns aber sehr wohl denken, daß sie sich nicht in Lob und Preis über uns ergingen.

»Dieser Paper wird doch nicht etwa so töricht sein, wieder mit dir anzubinden!« meinte das Herzle besorgt.

 

»Er wird es sehr wahrscheinlich!« antwortete ich. »Derartige Menschen werden niemals klug!«

»Schlägst du wieder?«

»Nein.«

»Gott sei Dank! Ich sehe das gar nicht gerne!«

»Hier ist ein anderer Ort. Da kann man sich auch anders wehren.«

Kaum hatte ich das gesagt, so kam der Genannte auf uns zugeschlingert, stellte sich grad vor mich hin und sagte:

»Heut rechnen wir ab, Mr. Burton, vollständig ab. Ihr seid mein Gefangener!«

Ich antwortete nicht.

»Habt Ihr es gehört?« fragte er. »Gäbe es hier Handschellen, so würde ich sie Euch anlegen lassen. Denn solche Halunken – – —

»Halunken?« fragte ich schnell, ihn unterbrechend.

»Ja, Halunken! Denn nur ein Halunke kann – – —«

Er konnte den angefangenen Satz nicht vollenden, denn ich packte ihn mit beiden Händen oberhalb der Hüften, trat mit ihm ganz nahe an das Wasser heran und schleuderte ihn, soweit ich konnte, in den hier ziemlich tiefen Fluß hinein.

»Hilfe, Hilfe!« brüllte er noch in der Luft.

Dann sank er unter, kam aber schnell wieder zum Vorschein, begann wie ein Hund zu paddeln und wurde von der reißenden Strömung fortgetragen.

»Hilfe, Hilfe!« schrie er weiter.

»Holt ihn heraus! Holt ihn heraus!« rief William Evening, der Agent für alles. »Laßt ihn nicht ertrinken, laßt ihn nicht ertrinken!«

Die Indianer beeilten sich, dem im Wasser Treibenden zu folgen und ihn mit Hilfe ihrer Lanzen an das Ufer zu ziehen. Ich aber ging auf den Agenten zu, lächelte ihn ebenso verbindlich an, wie er mich am Nugget-tsil angelächelt hatte, machte ganz so, wie er dort, eine noch verbindlichere Verbeugung und sagte mit seinen eigenen, dortigen Worten:

»Wir sind in einer wichtigen Angelegenheit an diesen Platz gekommen. Wir glaubten, niemand hier zu finden. Eure Gegenwart ist uns störend.«

Er sah mich groß an.

»Ihr versteht mich doch?« fragte ich ihn genauso, wie er mich gefragt hatte.

Da kam ihm die Einsicht. Er erinnerte sich der Szene und begann zu ahnen, daß ich jetzt im Begriff stand, den Spieß herumzudrehen.

»Gewiß«, antwortete er. »Es ist ja deutlich genug.‘.

»Nun?«

»Ihr wünschet, daß wir uns entfernen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Sofort! Sonst helfe ich nach!«

Ich zog den Revolver. Zugleich nahm Pappermann den seinen aus der Tasche.

»Wir gehen; wir gehen!« versicherte der Agent für alles sehr eindringlich und sehr schnell. »Da bringen sie Mr. Paper. Hoffentlich hat ihm der Schreck nicht die Kraft geraubt, auf das Pferd zu steigen!«

»Sollte dies der Fall sein, so bin ich sehr gern bereit, ihn sofort wieder stark zu machen. Wem gehört der Hut, der dort am Aste hängt?«

»Mr. Paper.«

»So paßt auf, was ich tue!«

Die Indianer hatten Herrn Okih-tschin-tscha aus dem Wasser gezogen. Er triefte. Er hatte, wie es schien, genug. Er beeilte sich, in das Innere des Blockhauses zu kommen. Noch hatte er es nicht erreicht, so hob ich den Revolver und zielte nach dem Hute. Ich traf. Paper erschrak so über den Schuß, daß er stehen blieb. Ich deutete nach der durchlöcherten Kopfbedeckung und sagte:

»Das war der Hut! Nun kommt der Mann, der mich arretieren wollte! Ich gebe Mr. Antonius Paper nur fünf Minuten Zeit. Hat er sich dann nicht davongemacht, so bekommt er ein zweites Loch, aber nicht durch den Hut, sondern durch den Kopf. Fare well, Mr. Evening! Ich hoffe, Ihr macht Euch ebenso schnell von dannen!«

Da hob Pappermann auch seinen Revolver und rief mir zu:

»Also fünf Minuten, nicht mehr! Dann ich den einen und Ihr den andern!«

Da griff Herr Okih-tschin-tscha schnell nach seinem durchlöcherten Hut, stülpte ihn auf und rannte nach seinem Pferd. Der Agent für alles packte alles, was er aus der Satteltasche genommen hatte, auch die Brandyflasche, wieder hinein, raffte die beiden Gewehre auf, denn Antonius Paper hatte das seinige vor Angst vergessen, und noch waren die fünf Minuten nicht vorüber, so ritten beide, ohne sich umzusehen, in größter Eile davon.

Nichts imponiert dem Indianer mehr als Mut und Energie. Unser Verhalten flößte den Komantschen Achtung ein. Die Folge hiervon zeigte sich sofort. Der Aelteste von ihnen kam zu uns heran und fragte:

»Meine weißen Brüder kennen, wie man mir sagt, Old Surehand?«

»Ja«, antwortete ich.

»Und auch Apanatschka, unsern Häuptling?«

»Auch ihn. Ich kenne sogar Joung Surehand und Joung Apanatschka. Die beiden Väter und die beiden Söhne nennen mich ihren Freund.«

»Haben sie dir gesagt, was hier geschehen soll?«

»Ja. Sie haben mir Briefe darüber geschrieben. Sie haben mich eingeladen, nach dem Mount Winnetou zu kommen.«

»Hast du diese Briefe mit?«

»Ja.«

»Ich bitte dich, sie mir zu zeigen, damit ich sie lese!«

»Sehr gern, sehr gern!«

Ich mußte zwar den Koffer wieder öffnen, zögerte aber gar nicht, es zu tun. Das Herzle half mir dabei. Es gibt Augenblicke, in denen ihr der Schalk im Nacken sitzt; dann hat man sich vor ihr in acht zu nehmen. Jetzt war ein solcher Augenblick. Sie öffnete nicht meinen, sondern ihren Koffer, nahm vier quittierte Hotelrechnungen aus Leipzig, Bremerhaven, New York und Albany heraus, reichte sie dem Komantschen hin und sagte:

»Hier! Von den beiden Vätern und von den beiden Söhnen!«

Er machte mit der Hand ein Zeichen der Hochachtung und griff nach den Papieren. Er betrachtete sie sehr eingebend. Sein Gesicht nahm dabei mehr und mehr den Ausdruck an, den man als ,,Kennermiene« bezeichnet. Er wendete sich an seine Leute und bestätigte, indem er die Rechnungen einzeln emporhob:

»Es stimmt; es ist wahr! Hier ist der Brief von Old Surehand und hier von Joung Surehand, hier von Apanatschka und hier von Joung Apanatschka. Auf allen diesen Briefen steht, daß diese Bleichgesichter Freunde sind und daß sie nach dem Mount Winnetou kommen sollen!«

Seine Kameraden wußten wahrscheinlich sehr genau, welche Künste ihm zuzutrauen seien und welche nicht, denn einer von ihnen fragte:

»Kannst du es denn lesen?«

»Nein«, antwortete er; »aber ich sehe es. Howgh!«

Er gab dem Frager die »Briefe« hin. Dieser prüfte sie ebenso eingehend und rief dann, indem er sie weitergab:

»Auch ich sehe es. Howgh!«

So gingen die Rechnungen weiter von Hand zu Hand. Ein jeder gab sein entscheidendes: »Auch ich sehe es, Howgh!« dazu, und dann bekamen wir sie zurück, wobei der Anführer unser Schicksal entschied:

»Also dürfen meine weißen Brüder mit ihrer Squaw getrost weiterreisen. Die Krieger der Kanean-Komantschen haben ihren Häuptlingen mehr zu gehorchen als dem Komitee!«

Wir steckten die Rechnungen wieder in den Koffer. Das Herzle reichte dem wackeren Schriftverständigen die Hand zum Abschied und sprach:

»Mein roter Bruder ist nicht nur klug und verständig, sondern auch in der Deutung unserer Totems und Wampums sehr wohl bewandert. Er hat ein sehr gutes Herz. Ich danke ihm und werde mich seiner stets gern erinnern.«

Das war ihm fast zu viel. Er war beinahe starr vor Glück. Seine Augen strahlten. Er hielt ihre Hand fest, als ob er sie nicht wieder hergeben wolle, und stammelte endlich:

»Meine weiße Schwester hat strahlende Worte, wie die Sonne klingende Strahlen hat. Ich danke ihr! Ich hoffe, wir sehen sie wieder!«

Auch wir gaben ihm die Hand; dann ritten wir weiter.

Meine Frau nahm an, daß der uns vorangeeilte »junge Adler« an irgendeiner Stelle anhalten werde, um auf uns zu warten. Ich aber war anderer Meinung. Er hatte sich von uns getrennt, um uns bei den zu erwartenden interessanten Szenen nicht zu stören. Er wollte denen, die innerlich gegen uns standen, Gelegenheit geben, sich zu blamieren, und um das zu erreichen, durfte er nicht bei uns sein. Ich war also überzeugt, daß wir ihn erst an Ort und Stelle wiedersehen würden.

Wir kamen an noch mehreren anderen Wachtstationen vorüber. Die dort befindlichen Indianer hielten uns nicht an. Sie wichen vor uns zur Seite. Die argwöhnischen Blicke, die sie dabei auf uns warfen, sagten nur zu deutlich, daß sie eine Instruktion erhalten hatten, die für uns keine freundliche war. ich vermutete, daß uns durch Mr. Okih-tschin-tscha ein Empfang bevorstand, auf den uns zu freuen wir keine Veranlassung hatten.

Es gab Anzeichen, daß wir uns unserem Ziel näherten. Bei gewissen Krümmungen des Flusses erschien uns ein ganz eigenartig gebildeter Bergkoloß, der, je weiter wir vorrückten, immer höher und höher stieg und alle anderen Höhen, zwischen denen der Fluß sich hindurchzuwinden hatte, weit überragte. Schließlich lag ein Zelt oder ein Halbzelt an unserem Weg, bald wieder eins, hierauf wieder und wieder eins. Sie mehrten sich. Sie traten immer enger zusammen. Es sah ganz So aus, als ob wir durch die äußerste Gasse einer weit ausgedehnten Lagerstadt nach ihrem Mittelpunkt ritten. Vor diesen Zelten saßen Indianerinnen, die uns neugierig und mit ungewöhnlichem Interesse betrachteten. Man sah ihnen an, daß sie von unserm Kommen unterrichtet waren. Kinder gab es keine. Die hatte man nicht mit nach dem Mount Winnetou bringen dürfen. Auch Männer sahen wir nicht. Die waren uns schon voraus, um bei der Szene zugegen zu sein, die uns erwartete.

Nun verbreiterte sich das Tal des Flusses sehr schnell, bis die Uferhöhen plötzlich derart nach beiden Seiten zurückwichen, daß wir die ganze vor uns liegende Hochebene mit einem einzigen Blick zu überschauen vermochten. Der Eindruck, den das, was wir sahen, auf uns machte, war ein derartiger, daß wir wie mit einem gemeinsamen Ruck unsere Pferde und Maultiere anhielten.

»Herrlich! Herrlich!« rief ich aus.

»Mein Gott, wie schön, wie schön!« sagte das Herzle. »Gibt es denn wirklich so etwas auf Erden?«

Und der alte Pappermann stimmte ein:

»So eine Stelle habe ich freilich noch nicht gesehen, noch nie, noch nie!«

Man denke sich einen gigantischen weit über tausend Meter aufsteigenden Riesendom, vor dem sich ein ebenso riesiger, freier Platz ausbreitet, der durch mehrere Stufenreihen in eine obere und eine untere Hälfte geschieden ist. Der Dom steht auf der westlichen Seite dieses Platzes und geht nach und nach in viele andere Türme über, die in perspektivischer Verjüngung im geheimnisvollen Blaugrau des Westens verschwinden. Auf den anderen drei Seiten ist der Platz von niedrigeren Bergen rundum derart eingefaßt, daß es nur eine einzige Lücke gibt, nämlich das Flußtal im Osten, durch welches wir heraufgekommen sind. Dieser Riesendom ist der Mount Winnetou. Sein Hauptturm steigt wie eine von den kühnsten Naturgewalten improvisierte Gotik hoch über die Wolken empor. Seine Zackenspitze besteht aus nacktem Gestein, welches aus weichen, grünschimmernden Mattendächern emporwächst. Zwischen diesen Zacken liegt weißglänzender Schnee, den unaufhörlich die Sonne küßt, bis er sich, in Liebe aufgelöst, aus Wasserstaub in Wasserstrahl verwandelt und dann von Stein zu Stein, von Schlucht zu Schlucht zur Tiefe springt. Da, wo der Turm sich zum eigentlichen Domgebäude weitet, sammeln sich diese Wasser und bilden mit den von den Nachbarbergen strömenden Bächen einen See, aus dem zu beiden Seiten je ein Wasserfall wohl über sechzig Meter schroff hinunterstürzt und dann, der eine nach Süden, der andere nach Norden, fließt, um die Hochebene, also den freien Domplatz, zu umfassen und dann im Osten sich zu dem Klekih Toli-Flusse zu vereinen, an dem wir heut heraufgeritten sind. Unterhalb der grünen Matten hoch oben auf dem Riesenturm beginnt der erste lichte, dann aber immer dunkler und dichter werdende Wald, der den See geheimnisvoll umfaßt und dann am Dom herniedersteigt, bis er den freien Platz erreicht und hierauf, sich in Gebüsch verwandelnd, in die saftgrasige Prärie der Ebene übergeht. Dieser See heißt Nahtowapa-apu. Am östlichen Teil des dicht bewachsenen Domes liegt das Portal, ein breit geöffnetes Höhental, in welchem man zum hohen, langen First des eigentlichen Bergmassives und zu dem »See der Medizinen« steigt. Ueber diesem Portal erhebt sich der Nebenturm des Mount Winnetou, welcher zwar nicht so hoch und nicht so schwer wie der Hauptturm ist, aber z. B. in Tirol doch als eine Dolomitennadel allerersten Ranges gelten würde. Auch er ist dicht bewaldet. Aus dem dunklen Grün der Tannen und Fichten steigen die helleren Hochgebirgswiesen empor. Auf halber Höhe steht ein altindianischer Wartturm, von dem aus man die ganze Ebene und die oberen Windungen des Flusses zu überschauen vermag. Und einige Fuß weiter herab weichen Berg und Wald zurück, um ein weit hervorragendes Plateau zu bilden, auf welchem, einer uneinnehmbaren Festung ähnlich, eine nach beiden Seiten lang ausgestreckte Reihe von Gebäuden steht, deren Alter ganz gewiß noch über die Tolteken- und Aztekenzeit zurückweicht und auf jene graue Vergangenheit deutet, deren Reste jetzt so außerordentlich selten sind. Da oben wohnt Tatellah-Satah, der »Bewahrer der großen Medizin«. Man geht durch den vorderen Teil des Tales und dann durch ein Seitental hinauf zu ihm. Doch ist es keinem Menschen gestattet, ohne seine besondere Erlaubnis diesen Weg zu betreten.

 

Der Hauptturm des gigantischen Domes ist der eigentliche Mount Winnetou, der Nebenturm aber der »Berg der Medizinen«. Und dieser letztere ist es, von dem es heißt, daß der »junge Adler« dreimal um ihn fliegen werde, um dem roten Mann die verlorengegangenen Medizinen zurückzubringen.

Die hochebene Prärie vor dem Mount Winnetou war so groß, daß ihr Durchmesser die Länge fast einer ganzen Reitstunde betrug. Sie war jetzt nicht leer, sondern mit Hütten und Zelten besetzt, welche in ihrer Gesamtheit eine ganze Stadt bildeten. Weil nun die eine Hälfte der Ebene höher lag als die andere, zerfiel diese Stadt in eine Ober- und eine Unterstadt. Dies nur der Lage nach. Ob auch in anderer Beziehung ein Unterschied zwischen beiden herrschte, war in der kurzen Zeit, die wir betrachtend auf sie hinblickten, nicht zu sehen. Die untere Stadt war dichter besetzt als die obere. Die letztere enthielt nur Zelte; in der ersteren gab es auch kleinere Blockhütten und weitläufige Holzbauten, deren Zweck wir nicht sogleich erkannten. Einige von ihnen schienen Lagerhäuser zu sein. Andere hatten das Aussehen von Hotels oder Restaurationen. Vielleicht waren es auch Versammlungshäuser. Vor den Zelten steckten die Lanzen ihrer Besitzer. Zwischen ihnen weideten die Pferde. Zahlreiche Feuer brannten, an denen gebacken und gebraten wurde, denn es war kurz über Mittagszeit. Es herrschte überhaupt ein reges Leben. Man sah keinen einzigen Weißen, nur lauter Rote. Die meisten von ihnen trugen indianische Kleidung. Ein großer Platz war zu Kampf- und Reiterspielen abgesteckt, ein anderer für Beratungen und andere öffentliche Angelegenheiten. Auf dem letzteren sah ich ungefähr zwanzig nebeneinanderliegende Sitzplätze, welche höher waren als der ebene Boden. Wahrscheinlich für das Komitee und andere hervorragende Personen. Es waren grad jetzt eine Menge Menschen dort, deren ganze Aufmerksamkeit auf uns gerichtet zu sein schien, denn sie deuteten, sobald wir erschienen, zu uns herüber und sprachen auch sehr laut dabei.

Grad vor uns ging eine uralte, steinerne Brücke über den Fluß, eine von der Art, daß man hüben hoch hinauf und drüben wieder tief hinunter muß. Solche Brücken eignen sich sehr gut zur Verteidigung des betreffenden Flußüberganges. Diese Stelle war also schon in uralter Zeit als eine geographisch und strategisch sehr wichtige betrachtet worden. Drüben auf der anderen Seite hielt eine Schar von Indianern zu Fuß. Sie sahen uns an, als ob sie auf uns warteten. Wir aber nahmen uns Zeit. Wir genossen den Anblick des grandiosen, unvergleichlichen Gebirgspanoramas und der hochinteressanten Staffage, welche sich innerhalb der gegebenen Riesenlinien klein und belanglos bewegte. Waren die Menschen früherer Jahrtausende vielleicht größer gewesen als die heutigen? Hierher gehörten doch eigentlich wohl Enakssöhne, die auf elefantengroßen Pferden reiten, und Fürsten, deren Throne bis in die Wolken reichen! Die Sonne stand hoch, scheinbar senkrecht über uns. Sie warf nur geringen Schatten um unsere Füße. Sie leuchtete in jeden Winkel, in jede Spalte und Ritze, in alles Verborgene. Kein Wölkchen stand am Himmel; kein Lüftchen ging vorüber. Die Erde war hier so bedeutend, so hoch, so stark, so kerngesund. Ein Duft von Kraft und Willensfreude erquickte Auge und Herz. Hier oben war der rechte Platz für neue, gute und glückliche Menschheitsgedanken!

Nun ritten wir weiter, die Brücke hinauf und hinunter. Drüben wurden wir sofort von den Roten umringt. Ja, sie hatten auf uns gewartet. Sie waren beauftragt, uns gefangen zu nehmen. Ein jeder von ihnen trug ein farbiges Band um den Arm; sie bildeten, wie wir dann erfuhren, die Ordnungspolizei des Komitees. Als sie uns zwischen sich genommen hatten, fragte der, welcher ihr Anführer war, in englischer Sprache:

»Ihr seid die Bleichgesichter, welche unsern Mister Antonius Paper in das Wasser geworfen haben?«

»Ja, die sind wir«, antwortete Pappermann in fröhlichem Ton.

»So werdet ihr bestraft!«

»Von wem?«

»Vom Komitee!«

»Pshaw! Wo ist denn dieses famose Komitee?«

»Da drüben!«

Er deutete nach dem Beratungsplatz.

»So geht hinüber und sagt, wir kommen gleich! Solche Leute muß man sich einmal genau betrachten!«

»Wir tun, was uns beliebt! Wir gehen nicht voran, sondern wir gehen mit euch! Wir arretieren euch! Wir bringen euch hinüber!«

»Ihr uns?« lachte er. »Versucht es einmal!«

Er ließ sein vortreffliches Maultier einen Kreis um sich selbst schlagen, und wir folgten seinem Beispiel. Die Roten flogen auseinander; mehrere wurden zur Erde gerissen. Wir aber jagten davon, direkt nach dem Platz hinüber. Sie sprangen schreiend hinter uns her. Dort angekommen, sprengten wir mitten in den Menschenhaufen hinein, jagten ihn auseinander und sprangen dann aus dem Sattel.

»Dieser Platz ist gut«, sagte ich, »hier bleiben wir. Herunter mit dem Gepäck!«

»Oho!« rief da eine Stimme hinter mir, »der tut ja, als ob er gar nicht Gefangener sei, sondern hier zu befehlen hätte!«

Ich drehte mich nach ihm um. Es war Herr Okih-tschin-tscha, genannt Antonius Paper. Neben ihm stand William Evening, der Agent für alles.

»Gefangener?« fragte ich, indem ich, die Hände nach ihnen ausstreckend, auf sie zuging.

Da verschwanden sie schnell hinter den anderen. Ihre Stelle wurde sofort von Simon Bell und Edward Summer, den beiden Professoren, eingenommen. Der erstere machte eine gebieterische Handbewegung und sprach:

»Zurück mit Euch! Ich bitte, das Verhältnis zwischen uns und Euch nicht zu verkennen! Ihr seid arretiert!«

»Von wem?«

»Von uns! Ihr habt schon am Nuget-tsil gehört, daß Eure Gegenwart uns störend ist. Sie ist es auch noch heute!«

»Ah, wirklich?«

»Ja, wirklich!«

»Hm! Das ist doch nicht zu glauben!«

»Glaubt, was Ihr wollt, doch was ich sage, gilt: Ihr seid arretiert!«

»Das heißt doch wohl, wir werden von euch festgenommen und festgehalten?«

»Allerdings; das heißt es!«

»Also, wenn jemand Euch störend ist, so arretiert Ihr ihn, so haltet Ihr ihn fest! Sonderbar! Diese Art der Logik konnte ich von einem Professor der Philosophie wohl kaum erwarten!«

Da fuhr er mich an:

»Schweigt! Wir arretieren Euch nicht, weil uns Eure Gegenwart unangenehm ist, sondern weil Ihr es gewagt habt, Euch an einer Person unseres Komitees zu vergreifen! Das muß bestraft werden!«

»Hiebe bekommt er, Hiebe!« rief Antonius Paper.

Da ballte Pappermann die Faust und drängte auf ihn zu. Dadurch bildete sich eine Lücke zwischen den uns umringenden Anwesenden, welche uns erlaubte, zwei Personen zu sehen, die sich dem Versammlungsort genähert hatten und auf die sich da abspielende Szene aufmerksam geworden waren. Sie trugen jetzt nicht europäische Kleidungsstücke, sondern indianische Anzüge. Trotzdem oder vielmehr grad darum erkannte ich sie sofort, nämlich Athabaska und Algongka, die beiden Häuptlinge aus dem Hotel am Niagarafall.

»Was tut man hier?« fragte der erstere, indem er sich an Professor Bell wendete.

»Wir arretieren zwei gefährliche Tramps mit ihrer Squaw, die sich an Okih-tschin-tscha vergriffen und ihn in das Wasser geworfen haben. Es wird ein Präriegericht abzuhalten sein, um sie zu bestrafen. Wir bitten, an dieser Sitzung teilzunehmen.«

Er hatte im Tone großer Hochachtung gesprochen.

»Zeigt sie uns!« gebot Algongka.

Man machte ihnen Platz, so daß sie uns sahen. Ja, das waren noch Häuptlinge von altem Schrot und Korn! Ihre Gesichter zeigten nicht die geringste Spur von Überraschung. Ganz so, als ob wir erst gestern Abend auseinandergegangen seien, so küßten sie dem Herzle die Hand, drückten mir die meinige und wendeten sich dann an die Professoren.

»Von Tramps ist hier keine Rede«, versicherte Athabaska. »Das sind Mistres und Mister Burton, die wir sehr achten und lieben. Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich! Howgh!«