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Waldröschen I. Die Tochter des Granden

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Das klang so aus tiefstem Herzensgrund heraus und dabei lief Kurt eine solche Tränenflut über die vollen, rosigen Wangen, daß seine Mutter nichts anders konnte, sie mußte ihn beruhigen. Er war ja ihr Liebling.

»Na, tröste dich nur!« sagte sie freundlich. »Ich werde zu den Herren gehen und für dich um Verzeihung bitten, sie sind ja da, ich sah sie vorhin kommen.« – »Mama, ich gehe mit!« sagte er entschlossen. – »Warum?« – »Ich muß um Verzeihung bitten, nicht du, und ich habe es ja noch gar nicht getan.«

Da beugte sie sich zu ihm hernieder, nahm ihn in ihre Arme und küßte ihn. Ihr Herz jubelte. Sie war eine einfache Frau, aber sie fühlte, daß sie in ihm einen Schatz besaß, für den viele andere Millionen gegeben hätten. Für diese Kinderseele war der Irrtum nur ein Weg zur inneren Reinigung.

»Ja, du sollst mitgehen«, sagte sie. »Aber du machst es auch ganz gewiß nicht wieder?« – »Niemals, Mama, glaube es mir!« – »So will ich dir auch gleich eine recht große Freude machen. Ich habe einen Brief erhalten, einen lieben, guten Brief. Rate einmal, von wem!«

Der Knabe sprang vor Freuden empor, schlug die Hände zusammen und rief:

»Vom Papa!« – »Ja. Ich hatte gar nicht gewußt, daß du fort warst, aber ich suchte dich vergebens, um dir von dem Brief zu sagen. Aber das Beste folgt noch. Rate einmal, was er uns schreibt, Kurt.« – »Oh, er schreibt am Ende gar, daß er kommen will! Habe ich richtig geraten, liebe Mama?« – »Ja, mein Sohn, er kommt!« rief Frau Helmers mit seliger Freude in ihrem guten Angesicht. – »Juchhei, der Vater kommt, juchhei!«

Mit diesem Ruf tanzte der Junge im Hof umher und war nicht eher wieder zu beruhigen, als bis ihn die Mutter aufforderte, sogleich mit nach dem Schloß zur Abbitte zu gehen.

32. Kapitel

Als Kurt und seine Mutter hinüberkamen, konnten sie leider nicht vorgelassen werden, sondern mußten unverrichteter Sache zurückkehren, da die Herrschaften, die sich alle in der Krankenstube befanden, nicht gestört sein wollten. Dies war das schönste Zimmer des Schlosses, geräumig und sehr bequem ausgestattet und hatte Platz für viele. Und das war in diesem Augenblick auch notwendig, denn es befanden sich da außer der Kranken und ihrem Arzt der Hauptmann, der Staatsanwalt, Frau und Fräulein Sternau und Alimpo mit seiner Gattin.

Auch der unter seinen Aktenstücken weniger empfänglich gewordene Anwalt hatte sich, als er eintrat, durch den Anblick der Gräfin außerordentlich erschüttert gefühlt. Diese lag betend vor dem Sofa und merkte nichts von dem Eintritt so vieler Menschen. Man ließ sie gewähren. Jetzt saß der Anwalt am Tisch und nahm das Protokoll auf. Er empfand für diesen Fall eine außerordentliche Teilnahme und ein zwingendes, seelisches Bedürfnis, hier aus allen Kräften Hilfe zu spenden.

Als er das Protokoll vorgelesen, unterzeichnet und dem Arzt übergeben hatte, zog dieser eine kleine Phiole hervor, deren Inhalt er genau gegen das Licht betrachtete.

»Dies ist das Gift?« fragte der Anwalt. – »Ja. Sie werden es sehen, wenn ich es verdünne.« – »Ich meine immer, daß Sie dieses unheimliche Mittel nur unter Beisein der hervorragendsten Irrenärzte in Anwendung bringen sollten.« – »Sie zweifeln an mir? Ich bin überzeugt, daß diese Männer alle sich gegen die Anwendung eines so heroischen Mittels aussprechen würden. Sie würden es vorziehen, die Kranke feig im Wahnsinn verkümmern zu lassen.« – »Nein, so war meine Bemerkung ja nicht gemeint! Ich wünschte nur, daß Sie vor diesen wissenschaftlichen Kapazitäten bewiesen, daß Sie ihnen allen überlegen sind. Wenn ich Sie so ruhig vor mir stehen sehe, so ist es mir, als könnte man Ihnen tausend Leben anvertrauen.« – »Oh, glauben Sie mir«, sagte Sternau mit leise vibrierender Stimme, »daß diese Ruhe mir nicht leicht wird. Ich sehe das köstlichste Gut, das ich besitze, in die Nacht des Wahnsinns verfallen, ich wende ein Mittel an, das allein nur helfen kann und mit dem ich selbst noch niemals operierte. Es steht hier nicht eine einfache Heilung, sondern es steht die Gewinnung eines großen Prozesses, die Bestrafung bestialischer Verbrecher, es steht mein ganzes, ganzes Heil und Glück auf dem Spiel. Meine Seele bebt und zittert, aber mein Körper muß ruhig und still sein, wie es dem Arzt geziemt. Ich vertraue nicht mir, sondern der Wissenschaft und der Hilfe Gottes!«

Da streckte der Anwalt, dem eine Träne im Auge stand, ihm die Hand entgegen.

»Herr Doktor«, sagte er, »ich wünsche Ihnen das Gelingen ebenso herzlich, als wenn ich mich an Ihrer eigenen Stelle befände.« – »Ich auch!« meinte der Oberförster. »Guckt mich alten Kerl nur nicht an, denn ich muß mich schämen. Da läuft mir das Wasser aus den Augen wie einem Schuljungen, der geprügelt worden ist. Wenn die Gräfin nicht geheilt wird, so renne ich nach Spanien und sprenge beim Teufel dieses ganze Rodriganda in die Luft!«

Der derbe Alte wischte sich die Tränen aus dem Bart, sie flossen aber immer wieder nach.

»Nun, laßt uns beginnen«, sagte Sternau.

Dies waren einfache Worte, aber sie brachten eine große Wirkung hervor. Frau Sternau und Helene eilten weinend auf die Kranke zu und schlossen sie in die Arme, der Oberförster schluchzte doppelt laut und zum Erbarmen, Alimpo aber faßte seine Elvira bei der Hand, indem sie beide um die Wette weinten, und sogar der Anwalt nahm sein Taschentuch zur Hand.

Nur Sternau blieb scheinbar ruhig. Er mußte eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung besitzen, denn als er jetzt einen Porzellanlöffel mit Wasser füllte, zitterten seine Hände nicht im geringsten. Nachdem er aus der Phiole zwei Tropfen hinzugegossen hatte, zeigte er den Löffel herum. Das Wasser war vollständig farb- und geruchlos geblieben.

»Haltet sie!« bat er.

Seine Mutter und Schwester knieten zu beiden Seiten der Kranken nieder und richteten ihr den Kopf empor. Sternau näherte den Löffel dem Mund der Kranken, zog ihn aber plötzlich zurück und verhüllte mit der freien Hand sein Angesicht. Ein einziges, kurzes, aber fürchterliches Schluchzen erschütterte seinen mächtigen Körper, es war ein Laut so tief stöhnend, so gewaltig, daß die anderen augenblicklich in erneutes Weinen ausbrachen. Der gewaltsam zurückgehaltene und nun mit einem einzigen, desto kräftigeren Stoß hervorbrechende Schmerz dieses starken Mannes erschütterte die Herzen aller mehr als die vorhergehenden Tränen und Klagen.

»Herr Gott«, rief er, »es wird mir fast zu viel! Gib mir Kraft, Kraft, Kraft!«

Dieser Ruf war ein Gebet, wie es inbrünstiger nicht zum Himmel geschickt werden konnte, und Gott schien Erbarmen zu haben, denn der gewaltige Mann raffte sich zusammen und trat zum zweiten Mal näher. Kaum berührte der Löffel die Lippen der Kranken, so öffnete sie mechanisch den Mund, nahm die verhängnisvolle Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen und verschluckte sie. Sternau trat zurück, ein tiefer Seufzer hob seine Brust er legte den Löffel auf den Tisch und faltete die Hände.

»Vater im Himmel, entweder gib Gelingen oder laß mich sterben!« – »Mein Sohn, mein guter, lieber Sohn!« schluchzte seine Mutter, indem sie die Arme um ihn legte. »Der Allmächtige wird Erbarmen haben. Vertrauen wir auf seine Güte!« – »Wer da ruhig bleiben kann, der ist der größte Hundsfott, den die Erde trägt!« sagte der Oberförster. »Ich habe gar nicht geglaubt, daß ich eine so weichherzige Seele bin.« – »In welcher Weise wird die Medizin jetzt wirken?« fragte der Staatsanwalt.

»Es wird sich schon in kurzer Zeit zeigen, ob sie überhaupt wirkt«, antwortete Sternau. »In zehn Minuten muß sie einschlafen. Dieser Schlaf wird sehr lange, vielleicht achtundvierzig Stunden dauern, und während dieser Zeit hat das Wichtigste zu geschehen. Der Schlaf darf in keiner Weise unterbrochen werden. Erwacht sie vor der Zeit, so war die Gabe zu schwach, und ich habe nachzugeben. Tritt Aufregung, Unruhe oder gar Fieber ein, so war die Gabe zu stark, und die Kranke wird sterben, wenn ich nicht sofort Gegenvorkehrungen treffe. Es ist überhaupt nicht abzusehen, welche Umstände eintreten können, und ich darf keine Minute lang ihr Lager verlassen. Ich muß bitten, Herr Hauptmann, Tag und Nacht ein gesatteltes Pferd bereitzuhalten, damit ich in jedem Augenblick einen Boten zur Stadt habe, wenn ich eine unvorhergesehene Medizin brauche.« – »Sie brauchen nur zu befehlen, Cousin, so lasse ich alle Pferde satteln und totreiten«, antwortete der Oberförster. »Ein solches Opfer ist gering gegen das, was auf dem Spiel steht.«

Die Anwesenden warteten zehn bange Minuten lang. Die angstvolle Spannung war wirklich nervenzerstörend. Die Kranke kniete noch immer in ihrer betenden Stellung vor dem Sofa. Da senkte sie langsam das Haupt, ihre Lippen bewegten sich nicht mehr ohne Unterlaß, sondern in einzelnen, immer länger werdenden Pausen, endlich schlossen sich die Augen, und die vorher aufrecht kniende Gestalt sank haltlos in sich zusammen.

»Gott sei Dank!« betete es rund im Kreis. – »Halb gewonnen!« jubelte Sternau. »Mutter, legt ihr ein Negligé an und tragt sie nach dem Bett. Wir gehen, aber in fünf Minuten bin ich wieder da, um meine Wache anzutreten.«

Die Herren entfernten sich. Alimpo ging hinunter in den Hof, um nach dieser Aufregung einen Mundvoll frischer, stärkender Luft zu atmen. Da stand Ludwig. Rasch kam dieser auf ihn zu und fragte: »Wie steht es, Herr Alimpo, gut oder schlimm?« – »Rien comprends!« lautete die Antwort. – »Ich meine die Gräfin.« – »Rien comprends!«

Da faßte der Jäger den Spanier beim Arm und zog ihn hinüber nach dem Vorwerk, wo er den kleinen Kurt sogleich fand.

»Nicht wahr, du kannst mit diesem Alimpo reden, Kurt?« – »Ja.« – »Willst du einmal den Dolmetscher machen? Sage ihm, er soll uns erzählen, wie es dahier bei der Gräfin abgelaufen ist.«

Die drei setzten sich nunmehr auf die Bank im Hof, auch Frau Helmers und die Magd kamen dazu, und es dauerte nicht lange, so berichtete Alimpo weinend die ganze Begebenheit, und die anderen alle weinten ebenso herzlich mit, obgleich die Übersetzung des Knaben eine sehr mangelhafte war.

 

Von dieser Stunde an verging ein Tag und noch ein halber, während welcher auf Rheinswalden Grabesstille herrschte. Man trat unhörbar auf, und man sprach nur leise, ja, der Oberförster hatte sogar einem Burschen, der einen anderen unten im Hof laut gerufen hatte, eine Ohrfeige gegeben und nur auf sehr inniges Bitten nicht aus dem Dienst entlassen. Alle Stunden gingen Krankenbulletins von Mund zu Mund. Es war ein Hangen und Bangen wie vor dem Urteilsspruch eines Richters, wenn man noch nicht weiß, ob das Verdikt auf schuldig oder unschuldig lautet.

* * *

Am zweiten Tag kam der Steuermann an. Auf dem Vorwerk herrschte große Freude, sie wurde aber gedämpft durch die auf dem Haus lastende Schwere der Erwartung. Helmers hatte leise und fast heimlich seine Besuche gemacht aber Sternau noch nicht gesehen. Nach Tisch saß er mit Frau und Kind in seiner Stube und ließ sich die Ereignisse der letzten Tage schildern.

»Wie heißt denn die Gräfin?« fragte er. – »Rosa«, antwortete seine Frau. – »Und der Familienname?« – »Rodri – Rodri – ich kann mir das Wort nicht merken.« – »Roderwanda«, fiel hier Kurt ein. – »Roderwanda?« fragte der Vater nachdenklich. »Hm! Und eine Spanierin ist sie?« – »Ja.« – »Sollte es vielleicht Rodriganda heißen statt Roderwanda?« – »Ja, ja, so heißt es, so!« erwiderte Kurt – »Ja, jetzt besinne ich mich auch«, stimmte die Mutter bei. »Kennst du diesen Ort?« – »Nein, aber ich habe davon gehört Hm! Wunderbar! Und dieser Doktor Sternau ist unschuldig gefangen gewesen?« – »Ja. Frau Sternau erzählte es mir. Er war in Barcelona.« – »Wahrhaftig, das wäre wunderbar!« meinte der Steuermann nachdenklich. »Weißt du nicht weshalb man ihn gefangengenommen hat? Doch etwa nicht eines Mannes wegen, der von Rodriganda verschwunden ist?« – »Nein. Aber – aber – mein Gott, was weißt denn du davon? Von Rodriganda ist wirklich einmal einer verschwunden. Ein Husarenleutnant. Frau Sternau erzählte es.« – »Hm! Hat man keine Ahnung, wohin er gekommen ist?« – »Nein. Aber warte, da fällt mir ein: Doktor Sternau glaubt, daß er auf ein Schiff geschleppt worden ist« – »Alle Wetter, jetzt beginnt es zu stimmen! Wie hieß das Schiff? War es nicht die ›Pendola‹? Besinne dich genau!« – »Ich weiß es gewiß, daß Frau Sternau keinen Namen genannt hat.« – »Auch nichts Weiteres hat sie gesagt?«

Die Frau des Steuermanns besann sich ein Weilchen, dann antwortete sie lebhaft:

»Halt, jetzt fällt es mir ein: Es soll ein Advokat die Hand dabei im Spiel gehabt haben. Ich habe den Namen nicht gemerkt, er war so fremd und schwer.« – »Hieß er nicht Gasparino Cortejo?« – »Wahrhaftig, so war der Name! Aber Mann, wie hast du das alles erfahren?« – »Das werde ich dir noch erzählen. Jetzt sage mir vor allen Dingen, ob man wirklich gar nicht mit Doktor Sternau sprechen kann.« – »Nein, gar nicht.« – »So muß ich warten, bis er sich wieder sehen läßt.« – »Es ist wohl etwas sehr Wichtiges?« – »Ungeheuer wichtig, wenn mich meine Ahnung nicht betrügt.« – »Und darf ich es nicht hören?« – »Jetzt noch nicht. Ich weiß nicht, ob der Doktor es haben will, daß ich davon schon jetzt spreche.«

33. Kapitel

Um dieselbe Zeit, wo das im vorigen Kapitel geschilderte wichtige Gespräch geführt wurde, saß Sternau am Bett seiner Kranken. Außer ihm befand sich nur noch seine Mutter im Zimmer. Sie saß bei einer Arbeit, hinter der dichten Fenstergardine verborgen. Die Gräfin hatte vom ersten Augenblick an bis jetzt in ununterbrochener Ruhe geschlafen. Sie lag wie ein schönes Marmorbild im Bett, keine Wimper zuckte, kein Atemzug war hörbar.

»Mutter!« klang es da leise durch die tiefe Stille des Raumes. – »Mein Sohn?« fragte sie ebenso leise. – »Komm einmal her!«

Frau Sternau erhob sich und glitt hin an die Seite ihres Sohnes. Ihr ängstlich fragender Blick traf sein Auge und fand darin einen leisen Hoffnungsschimmer.

»Fühle diese Hand«, bat er.

Sie nahm die marmorweiße Hand der Schlafenden in die ihrige und nickte dem Sohn freudig zu.

»Und fühlst du den Puls, Mutter?« – »Ja, wahrhaftig.« – »Sieh die Lippen, wie sie sich röten, und auch der bleiche Todesglanz ist von den Wangen gewichen. Geh zum Hauptmann und melde ihm, daß die Gräfin in einer Stunde erwacht sein wird.« – »Mein Sohn! Ist‘s wahr?« – »Ja.«

Da zog sie den Kopf ihres Sohnes ans Herz, streichelte ihm zärtlich die Wange und fragte leise:

»Wird es zum Glück sein?« – »Das steht bei Gott! Mutter, ich bete soeben so inbrünstig wie noch nie in meinem Leben!« – »Gott der Herr mag dein Gebet erhören. Du verdienst dieses Glück, mein Kind!«

Frau Sternau glitt lautlos zur Tür hinaus, kam aber nach kurzer Zeit wieder zurück und nahm ihren vorigen Sitz wieder ein. Arbeiten konnte sie jedoch nun nicht mehr – auch sie betete aus vollem treuen Mutterherzen, daß Gott barmherzig sein und die nächste Stunde zum Heil werden möge. Sie kannte ihren Sohn; sie wußte, daß er das Fehlschlagen seiner Hoffnung nie überwinden werde.

Eine halbe Stunde verging, da hörte man bereits die leisen Atemzüge der Kranken und sah, wie die Decke sich über der wogenden Brust hob und senkte. Dann röteten sich die Wangen, jetzt, jetzt bewegte sich die Hand – der Arm, und die Lider zuckten. Und wieder nach kurzer Zeit legte die Schlafende den Kopf langsam auf die Seite. Die Brust Sternaus wollte zerspringen, aber er hielt die warme Hand der Kranken in der seinigen und blieb äußerlich ruhig, obgleich es in seinem Inneren tobte und stürmte.

Jetzt wandte Rosa das Gesicht hinüber nach seiner Seite, und sein scharfes Auge sah, daß die Lider jenes Zucken verrieten, das dem Erwachen vorherzugehen pflegt. Und nicht lange dauerte es, so erhoben sie sich langsam, langsam. Das Auge öffnete sich und blickte starr geradeaus.

»Allgütiger Himmel, hilf! Jetzt entscheidet es sich!« flehte Sternau im stillen.

Das Auge Rosas bekam dann jenen träumerischen Ausdruck, der dem Erwachen eigen ist, und richtete sich endlich mit dem Licht des vollständigen Bewußtseins auf die umgebenden Gegenstände.

»Gewonnen!« jubelte es in der Seele des Arztes.

Das Auge Rosas aber glitt von Gegenstand zu Gegenstand, und ein tiefes Befremden malte sich in ihren Zügen. Da fühlte sie, daß ihre Hand gehalten wurde. Schnell und erschrocken suchte ihr Blick den, der diese Berührung wagte, und als sie Sternau sah und ihn erkannte, fuhr sie empor und rief:

»Carlos, mein Carlos! Du bist es?« – »Ja, mein Leben, meine Seligkeit, ich bin es«, antwortete er mit zitternder Stimme. – »Wo bin ich? Wie lange habe ich geschlafen?« – »Beruhig dich, du bist bei mir«, bat er, die Arme um sie schlingend und sie an sein Herz ziehend. – »Ja, ich bin still, denn ich bin bei dir«, sagte sie innig, indem sie ihm den Mund zum Kuß bot. »Aber ich muß lange, sehr, sehr lange geschlafen haben.« – »Sehr lange. Du warst krank.« – »Krank?« fragte sie nachdenklich. »Wie ist‘s den? Ich habe ja gestern meine Amy nach Pons begleitet, und dann – ah, dann – ah, dann warst du fort. Ich bin nach Manresa zum Corregidor gefahren und habe mich mit Alfonzo und Cortejo gezankt, um zu erfahren, wo du bist. Dann wurde oben bei Cortejo geschossen; später ward mir sehr übel, und ich wollte schlafen gehen, bin aber im Gebet eingeschlafen. Wo warst du, mein Carlos?« – »Ich war in Barcelona«, antwortete dieser. – »Ohne mir vorher etwas zu sagen, du Böser!«

Da klang ein leises, unterdrücktes Schluchzen hinter der Fenstergardine hervor. Rosa hörte es.

»Wer weint? Wer ist hier?« fragte sie. »Ist es meine gute Elvira?« – »Nein, mein Herz.« – »Wer sonst?« – »Es ist eine sehr gute und liebe Frau, die dich gern sehen wollte.« – »Oh, eine Fremde!« rief sie erschrocken. Und zugleich bemerkte sie erglühend, daß sie im Negligé vor dem Geliebten lag. »Wer ist sie?« – »Meine – Mutter.«

Rosa sah ihn ernst an, als ob sie ihn nicht verstehe, dann aber rief sie in großer Freude:

»Deine Mutter? Oh, welch ein Glück, welch eine Überraschung! Rufe sie her! Schnell, schnell!« – »Aber, Rosa, du mußt französisch mit ihr sprechen, sie versteht das Spanisch nicht.« – »Sie mag nur kommen. Schnell!« – »Mutter«, bat Sternau, komm bitte her! Sie will dich sehen!« – »Mein Sohn, ich verstehe die Worte nicht, die ihr redet, aber ich hörte, daß sie bei Bewußtsein ist und daß ihr glücklich seid. Ist es so?« – »Ja. Gott hat unser Gebet über alle Maßen erhört. Komm!«

Da kam sie langsam herbei. Rosa hatte ihr Schlafgewand dichter drapiert und sich aufgerichtet. Sie streckte der Nahenden mit freudeglänzendem Angesicht die Hände entgegen und sagte:

»Sie sind die Mutter meines Carlos? Seien Sie mir tausendmal gegrüßt. Oh, nun habe auch ich eine Mutter. Darf ich Ihre gute, folgsame Tochter sein?«

Frau Sternau legte ihr unter strömenden Tränen beide Hände auf das Haupt und erwiderte:

»Mein Kind, ich flehe Gottes reichsten Segen herab auf Ihr teures Haupt. Ich würde mein Leben hingeben, um Sie glücklich zu sehen.«

Sie hielten einander in stiller Umarmung umschlungen; da erhob sich Sternau, verließ das Gemach und rannte zum Hauptmann:

»Viktoria, gesund, gesund!« stürmte er bei diesem zur Tür hinein. – »Himmeldonnerwetter!« rief der Hauptmann ganz erschrocken, dann aber besann er sich und sprang auf. »Ist es wahr, wirklich wahr?« – »Ja.«

Da warf der Oberförster beide Arme in die Luft und schrie, was er nur schreien konnte:

»Hurra! Hussa! Sapperment! Gesund! Halleluja! Gesund! Viktoria! Himmelheiliges Hagelwetter! Hosianna Davids Sohn! Kann man zu ihr? Kann man sie sehen?« – »Nein.« – »Das ist ärgerlich! Das ist grausam! Das ist geradezu unmenschlich! Aber etwas muß ich tun. Was mache ich vor Freude? Schlage ich ein halbes Dutzend Menschen tot, oder reiße ich die Kirche ein? Warte, ich hab‘s!«

Wie aus einer Pistole geschossen, rannte er hinaus. Sternau aber begab sich sogleich wieder in das Krankenzimmer zurück, denn er mußte verhüten, daß die Unterhaltung der beiden Frauen auf Gegenstände kam, von denen Rosa noch nichts wissen durfte. Diese lag noch in den Armen der Mutter. Sie sprachen nicht, sie weinten nur und liebkosten sich. Rosa streckte ihm die Hand entgegen.

»Mein Carlos, ich danke dir für die Mutter, die du mir gegeben hast. Oh, wie lieb habe ich sie bereits. Aber ist es wahr, daß ich lange krank gewesen bin?« – »Ja, mein Herz.« – »Lange?« – »Sehr lange.« – »So ist es nicht gestern geschehen, was ich vorhin erzählte?« – »Nein, sondern vor drei Monaten.« – »Vor drei Monaten?« flüsterte sie erstaunt »So war ich wohl ganz ohne Besinnung?« – »Ganz und gar.« – »Und du hast mich geheilt, du?« – »Gott gab es zu, daß ich das rechte Mittel traf.« – »Und wo ist Alfonzo, Cortejo, Alimpo und meine gute Elvira?« – »Alimpo und Elvira sind hier. Das andere sollst du später erfahren, mein Leben. Du darfst noch nicht viel sprechen, du mußt dich schonen!« – »Ich werde dir gehorchen. Nur eins sage mir: Wo bin ich hier?« – »Bei einem guten Freund von uns allen.« – »Nicht auf Rodriganda?« – »Nein. Du sollst es heute noch erfahren.« – »Und«, fragte sie stockend, »mein Vater? Ist es wahr, daß er zerschmettert worden ist?« – »Nein, er lebt. Nun aber schweige, mein Herz, sonst wirst du wieder krank!«

In diesem Augenblick klangen einzelne Waldhorntöne vom Hof herauf, und dann erklang vierstimmig in getragenem Tempo der Choral:

 
»Wie wohl ist mir, o Freund der Seele,
Wenn ich in Deiner Liebe ruh‘!
Ich steige aus der Schwermutshöhle
Und eile deinen Armen zu.
Da muß die Nacht des Trauerns scheiden,
Wenn mit so angenehmen Freuden
Die Liebe strahlt aus deiner Brust,
Hier ist mein Himmel schon auf Erden
Wer wollte nicht vergnügter werden,
Der in dir suchet Ruh‘ und Lust!«
 

»Was ist das? Was war das?« fragte Rosa mit verklärtem Lächeln im Angesicht. – »Das ist ein frommes Kirchenlied, das unser Freund dir zu Ehren blasen läßt. Ich war jetzt bei ihm und habe ihm gesagt, daß du genesen bist.« – »Oh, dann ist er wohl ein sehr guter und teilnehmender Mensch?« – »Das ist er. Du hast nie einen besseren Freund gehabt als ihn.« – »So sage ihm meinen Dank, bis ich selbst mit ihm sprechen werde! Aber, mein Carlos, ich habe eine Bitte, die ich nicht gern sage.« – »Sage sie getrost, mein Leben.« – »Nicht dem Geliebten, sondern dem Arzt sage ich sie«, meinte sie, vor Verlegenheit errötend. »Wenn ich so lange krank war, so habe ich wohl auch sehr – sehr wenig – genossen?«

Er stieß einen Ruf der Freude aus und antwortete:

»Nein, das konntest du auch dem Geliebten sagen, denn gerade ihn macht das glücklich. Da du zu essen begehrst, so bin ich nun vollständig überzeugt, daß du genesen wirst. Mutter mag gleich gehen und holen, was ich ihr aufschreiben werde. Oder soll Elvira es bringen?«

 

»Ja, ich möchte sie so gern sehen. Aber Mama soll auch wieder mitkommen.«

Sternau schrieb einige Worte auf einen Zettel, den seine Mutter nach der Küche trug. Unterwegs begegnete ihr der Oberförster. Er hielt sie beim Arm fest und fragte:

»Ist‘s wahr, daß sie gesund wird?« – »Gott sei Lob und Dank, ja.« – »Holla! Juchhe! Juchheirassassa! Hat sie meinen Choral gehört?« – »Ja.« – »Und sich gefreut? Es ist mein Lieblingschoral; es fiel mir kein anderer ein; meine Burschen haben ihn auf den Jagdhörnern geblasen.« – »Sie war ganz gerührt und läßt sich von ganzem Herzen bedanken.« – »So, ah! Da lasse ich ihr noch etwas anderes vorblasen: ›Im Wald und auf der Heide‹, ›Goldne Abendsonne‹, ›Wer meine Gans gestohlen hat‹, ›Morgenrot‹, ›0 du lieber Augustin‹. Oder denken Sie, daß sie ›Bin i net a hübscher Rußbuttenbu‹ lieber hört?« – »Ja, Herr Hauptmann, das kann ich nicht sagen. Ich habe überhaupt keine Zeit, ich muß in die Küche. Der Herr Doktor hat mir etwas aufgeschrieben, was die Kranke genießen soll.« – »Was denn? Her mit dem Zettel!«

Er nahm ihr das Papier aus der Hand und las:

»Was? Dünne Suppe von Bouillon mit Weizengries. Ein wenig Backobst. Ist der Tausendsakramenter gescheit? Das soll einer Kranken aufhelfen? Holen Sie ihr Rehkeule, Dampfnudeln, Krautsalat rohen Schinken, ein paar Pfeffergurken und einen marinierten Hering; das macht Appetit und stärkt das Gehirn und die Nerven.«

Er flog in höchster Eile wieder in den Hof hinab, wo seine vier Burschen abermals nach den Hörnern greifen mußten und nun ein Programm abbliesen, das zwar sehr gut gemeint war, aber einen Kunstverständigen zur hellen Verzweiflung hätte bringen können.

Er stand dabei und taktierte. Da sah er den Steuermann von weitem stehen und schritt auf ihn zu.

»Helmers, wissen Sie schon, weshalb geblasen wird?« – »Ja. Die Gräfin Rodriganda ist vom Herrn Doktor Sternau gerettet worden.« – »Ja. Der Doktor ist ein Teufelskerl in der Medizin, aber von einem guten Küchenzettel versteht er weder Gix noch Gax. Sie haben ihn wohl noch gar nicht einmal gesehen?« – »Nein. Und doch möchte ich so gern und recht bald einmal mit ihm sprechen.« – »Ist es etwas Besonderes? Sind Sie krank oder eins der Ihrigen?« – »Nein. Es ist eine spanische Geschichte, die vielleicht von Wichtigkeit für ihn ist.« – »Eine spanische Geschichte? Sapperlot, das klingt ja höchst interessant!« – »Von Rodriganda.« – »Alle Teufel! Was wissen Sie von Rodriganda? Darf ich es denn nicht erfahren?« – »Ich weiß nicht, ob es dem Herrn Doktor lieb sein wird, wenn ich zu anderen eher davon spreche als zu ihm. Es handelt sich vielleicht gar um ein wichtiges Geheimnis.« – »So! Na, da will ich allerdings nicht in Sie dringen. Sind Sie heute zu Hause?« – »Ja.« – »Gut, so werde ich zu Ihnen schicken, sobald er einmal zu sprechen sein wird. Adieu!«

Es dauerte nicht lange, bis die leichte Suppe für Rosa zubereitet war. Frau Elvira trug sie nach dem Krankenzimmer. Als sie in dasselbe eintrat, saß die Gräfin aufrecht im Bett und Sternau an ihrer Seite.

»Willkommen, meine gute Elvira«, sagte Rosa. »Ich habe lange nicht mit dir sprechen können.« – Der guten Kastellanin liefen sofort die hellen Tränen über die Wangen.

»Oh, meine liebe, beste Condesa«, schluchzte sie. »Der heiligen Madonna sei Dank, daß Sie mich wiedererkennen. Wir haben alle während Ihrer bösen Krankheit große Betrübnis erlitten.« – »Ich bin nun wieder wohl, und du kannst fröhlich sein.«

Rosa nahm die leichte Speise zu sich; dabei röteten sich ihre Wangen immer mehr, und Doktor Sternau gewann die vollständige Überzeugung, daß er bereits heute über die traurigen Ereignisse sprechen könne, die sie aus Spanien nach Deutschland geführt hatten.

Nach dem Essen versank Rosa wieder in leichten Schlummer, der dem Arzt willkommen war, da er die Kräfte der Genesenden voraussichtlich noch mehr stärken mußte. Frau Sternau blieb mit Elvira im Krankenzimmer zurück, Sternau jedoch ging hinab, um nach dem anstrengenden Wachen frische Luft zu schöpfen.