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Waldröschen I. Die Tochter des Granden

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Sie nahm den Zettel und überreichte ihn Sternau, der zwei Schritt zurücktrat und die Hand abwehrend ausstreckte.

»Ich wußte es«, sagte sie errötend, »aber verstehen Sie mich recht, nicht Ihnen soll eine Gabe werden, sondern Sie sollen uns eine Freundlichkeit erweisen, und Sie haben nicht das Recht, etwas zurückzuweisen, was nicht Ihnen, sondern anderen gehören soll.« Und als er in seiner Haltung verharrte, trat sie ganz nahe an ihn heran, legte ihm das Papier in die Hand und hauchte fast unhörbar:

»Carlos, bitte, nimm es!«

Da konnte er nicht widerstehen. Er gab den beiden eine Hand des Dankes, aber er ging, und erst als er auf sein Zimmer kam, sah er, daß er eine Anweisung auf zweimal hunderttausend Silberpiaster in den Händen hielt, ein wahrhaft fürstliches Honorar, das ihn sofort zum selbständigen Mann machte.

Rosa meinte, da er den Grafen so schnell verlassen hatte, daß er beleidigt sei.

»Weißt du, Vater«, sagte sie, »daß du ihn gekränkt hast?« – »Ich glaube nicht, mein Kind. Er soll nicht das Geld, sondern die Gesinnung beachten. Mein Herz ist zum Zerspringen, und ich konnte nicht anders. Es soll kein Honorar, keine Bezahlung sein, es ist ja alles sein, was mir gehört, sage ihm dies noch extra, Rosa! Jetzt aber eile und sorge dafür, daß man sich mit mir freue!«

13. Kapitel

Was Señor Gasparino Cortejo betraf, so hatte der Graf sich in Beziehung auf diesen einer kleinen Vergeßlichkeit schuldig gemacht. Der Notar hätte heute gar keine Bitte entgegennehmen können, denn er war ja vor bereits drei Tagen nach Barcelona gereist.

Im Hafen dieser Stadt lag zwischen anderen Schiffen ein Dreimaster, der am Bug und Stern den Namen »La Pendola« führte. Dieses Wort heißt zu deutsch »Feder« oder »Pendel«. Dies war für den Nichtkenner vielleicht ein sonderbarer Name für ein großes, schweres Kauffahrteischiff von drei Masten und mehreren Decks; aber ein Seemann hätte sich über diesen Namen nicht gewundert. Man sah es zwar, daß die »Feder« nicht auf einer amerikanischen Werft gebaut sei, aber sie war doch nach amerikanischem Muster modelliert. Ihr Bug stieg kühn am Vorderdeck empor, und der Kiel lag lang und scharf im Wasser; dazu war die Takelung eine beinahe klipperartige, so daß sich vermuten ließ, die »Feder« sei ein außerordentlich schneller Segler und fliege »federleicht« über die Wogen dahin. Freilich sind solche Schiffe auch leicht zum Kentern geneigt; sie »brechen oft das Rückgrat«, wie der Seemann sich ausdrückt, und es gehört ein mehr als gewöhnlicher Seemann dazu, ein derartiges Fahrzeug zu kommandieren.

Nun, ein nicht ganz gewöhnlicher Seemann war Kapitän Henrico Landola; das wußten alle, die ihn kannten. Und diese sagten einstimmig, daß er trotz seines spanischen Namens ein Amerikaner sei, ein echter Yankee, der sich vor dem Teufel nicht fürchte und, wenn es sein müsse, vorn zur Hölle hinein und hinten wieder hinaus segeln werde, ohne eine Spiere oder Stenge zu beschädigen. Er kannte alle Meere und alle Häfen und galt für einen Mann, dem jede Fracht recht sei, wenn er nur Geld verdiene. Ja, man munkelte sogar, daß er auch eine Ladung Neger nicht verschmähe, obgleich die Sklaverei, auf dem Papier wenigstens, abgeschafft ist und man sich vor den »Kreuzern« sehr in acht zu nehmen hat.

Dieser Mann also lag mit der »Pendola« im Hafen von Barcelona vor Anker und hatte sich heute mit dem Notar Gasparino Cortejo in die Kajüte eingeschlossen, um ungestört über Geschäfte sprechen zu können.

Cortejo saß vor einem großen Stoß von Papieren, die er durchgerechnet hatte. Er legte soeben die Feder weg und sagte:

»Ich bin mit Euch zufrieden, Landola. Mein Part beträgt dreißigtausend Duros, und soviel gedachte ich für dieses Mal nicht zu gewinnen.«

In dem Gesicht des Kapitäns zuckte keine Miene. Er fragte kalt: »Und wie steht es? Soll ich zahlen, oder laßt Ihr das Geld im Geschäft, weil ich es brauche?« – »Behaltet es.« – »Gut, abgemacht. Habt Ihr sonst noch etwas?« – »Ich denke.« – »So schießt los!« – »Hm! Könnt Ihr keinen Matrosen gebrauchen?« – »Brauche immer welche. Was für einen?« – »Den man einmal verliert.« – »Aha! Im Wasser?« fragte Landola mit einem bezeichnenden Lächeln. – »Meinetwegen auch auf dem Land. Nur wiederkommen darf er nicht.« – »Wie damals Don Ferdinando de Rodriganda-Sevilla. Nicht wahr?« – »Pst!« meinte der Notar erschrocken. »Wenn man Euch hörte! Nennt diesen Namen ja nicht wieder!« – »Warum?« – »Don Ferdinando ist ja tot!« – »Ja, schlimmer als tot – verloren – das kann ich beschwören! Wer ist der neue Matrose?« – »Einer, der sich für einen Offizier ausgibt, aber ein Abenteurer ist« – »Freut mich! Sind mir die liebsten! Wo ist er zu finden?« – »Auf Rodriganda.« – »Ah! Wie bringt Ihr ihn her?« – »Ihr sollt ihn Euch holen.« – »Auch schön. Ist er stark?« – »Sehr.« – »Tapfer?« – »Noch mehr!« – »Jung?« – »Anfangs Zwanziger.« – »Das ist gut! Er wird sich wehren?« – »Jedenfalls!« – »Das wollen wir ihm verbieten! Wieviel zahlt Ihr, Señor?« – »Wieviel verlangt Ihr, Capitano?« – »Dreihundert Duros für alles: Unbemerktes Abholen, ohne Geräusch, spurloses Verschwinden und niemalige Wiederkehr.« – »Ich gehe darauf ein, obgleich ich weiß, daß er Euch beim Verkauf eine tüchtige Summe einbringt. Schreibt Euch also die dreihundert über. Wohin werdet Ihr ihn bringen?« – »Hm, weiß noch nicht. Vielleicht nach Borneo oder Celebes. Die Malaien geben dort gern Gold oder gar Edelsteine für Weiße, die sie ihren Göttern oder Toten zu Ehren schlachten.« – »Ihr seid ein verdammt feiner Pfiffikus, Capitano!«

Der Seemann lachte boshaft und meinte:

»Euch fehlt es auch nicht an dieser verdammten Pfiffigkeit. Wann soll ich den Jungen holen?« – »Könnt Ihr morgen abend eintreffen?« – »In Rodriganda? Ja. Werde einen hübschen Wagen mitbringen. Wo soll ich halten?« – »Ich werde Euch entgegenkommen. Richtet es ein, daß ich Euch Punkt zehn Uhr an der Grenze der Besitzung treffe.« – »Schön. Die Einleitungen überlasse ich natürlich Euch. Es muß wohl ein ungewöhnlicher Kerl sein!« – »Warum?« – »Sonst gebt Ihr Euch nicht solche Mühe. Ein Schlückchen Gift, hm, würde viel rascher sein.« – »Ich hasse das Gift. Es ist unzuverlässig und verräterisch.« – »Unzuverlässig? Hahahaha! Habe eine Art neues Gift entdeckt, prachtvoll!« – »Wo?« – »In einer alten Scharteke. Will sie Euch einmal zeigen!«

Der Kapitän schloß ein in der Kajütenwand eingelassenes Schränkchen auf, schob eine Menge schwerer Geldrollen zur Seite und zog ein Heft hervor, dessen Schrift erkennen ließ, daß es mehrere hundert Jahre alt sei. Der Einband und das Titelblatt fehlten. Er legte es vor sich hin und schlug es auf.

»Herrliches Buch!« meinte er. »Habe es einem alten deutschen Steuermann abgekauft, der es weiß Gott wo aufgegabelt hatte. Stehen alle möglichen Rezepte und Mittel drin, und hier auch das Gift:

* * *

Item eyn herrlich Gifft für Tott und Wahnsinn.

Man nimbt eyn Töpfleyn Safft von Antiaris toxicaria, welches genannt ißt Antschaar, eyn halbes Töpfleyn Safft des Strychnos Tieuté, so man nennt javanische Brechnuß, eyn vierteyl Töpfleyn Safft von Alpinia galanga, welches ißt indischer Galgant und ebenso vill Safft des Zingiber cassamumar, genannt gifftiger Ingwär. Das siedet man auff die Hälfften eyn und hebt es in eyn Flaschen auff. Fünff Tropffen davon machen eyn starken Menschen tott; zwey Tropffen awer gäben ihm in Wahnsinn, so er nicht mehr weiß, wer er gewesen ißt.

Diesser Wahnsinn wierd wieder geheylt durch folgenden Trankk:

Man zerstößt eyn Tassenkopff Capsium, welches heyßt die strauchigte Beißbeeren und thut darauff eyn halben Tassenkopff Speichel von eyn Menschen, welchen man zu Totte gekietzelt hat, läßt stehen eyn Wochen und thut darauff eyn Löffel scharpfen Essieg, gießt ab und hebt in eyn Flaschen auff. Zwei Tropffen von dieser feynen Artzeneyen nimbt den Wahnsinn wieder hinfort binnen dreyen Tagen.

Notabene: Kann nur im Landte Asien gemacht werden und ißt erprobt von viellen Menschen, so man Neger, Malays‘s oder Wildte nennet.‹«

»Könnt Ihr denn diese Schrift lesen?« fragte der Advokat. – »Ja«, antwortete der Kapitän. »Ich verstehe Deutsch.« – »So verdolmetscht mir doch einmal das Zeug!«

Der Kapitän tat es. Als er fertig war, fragte der Notar:

»Und dieses Gift habt Ihr?« – »Ja.« – »Hm! Könnte man wohl einige Tropfen davon bekommen?« – »Für wen?« – »Das geht Euch nichts an.« – »Für den Jungen etwa, den ich mir holen sollte?« – »Nein.« – »So, das ist etwas anderes. Aber das Zeug ist verteufelt teuer. Der Tropfen kostet fünf Duros.« – »Alle Wetter! Aber es wirkt zuverlässig?« – »Auf mein Wort!« – »Kann ich zehn Tropfen haben?« – »Ja. Macht fünfzig Duros!« – »Gebt her, und schreibt Euch die fünfzig über!«

Der Kapitän griff in dasselbe Schränkchen, nahm eine Arzneiflasche und ein kleines, leeres Fläschchen heraus, in das er aus der ersteren genau zehn Tropfen abzählte.

»Hier, Señor! Das ist gerade genug, um zwei tot oder fünf wahnsinnig zu machen. Ich hoffe, Ihr werdet mit mir zufrieden sein!«

Diese Unterredung geschah am zweiten Tag nach der Abreise des Advokaten von Rodriganda. Am dritten, also an dem Tag des Festes, kehrte er dorthin zurück. Als er durch das Dorf fuhr, war er nicht wenig überrascht, den ganzen Ort im Festkleid zu erblicken. Die Häuser waren mit Kränzen geschmückt, und die Bewohner trugen ihre Festtagskleider. Erst auf dem Schloß erfuhr er, was geschehen sei, und ging sofort zu seiner Verbündeten, um sich alles ausführlich erzählen zu lassen.

Als die Dämmerung hereinzubrechen begann und der Arzt mit Rosa sich abermals bei dem Grafen befand, bestand dieser darauf, nunmehr seinen Sohn zu sehen. Sternau blieb so nichts anderes übrig, als sich dem Willen Don Emanuels zu fügen. Dieser fragte, ob er nun seinen Sohn sehen könne.

»Ich werde nach ihm schicken«, meinte er, indem er nach dem Vorzimmer ging. Dann befahl er dem Diener: »Der Graf Alfonzo und der Leutnant Lautreville sollen kommen. Sie dürfen aber nur zugleich eintreten!«

 

Mariano hatte keine Ahnung von der Intrige des Arztes. Er trug heute nicht die Uniform, sondern ein kleidsames Zivil und stieß unten im Vorzimmer mit Alfonzo zusammen, der ihn gar nicht beachtete. Der Graf hatte bereits die Binde wieder abgelegt und erwartete mit Ungeduld den Sohn. Als die beiden eintraten, fiel sein Auge zunächst auf Alfonzo, glitt aber schnell von diesem ab und auf den Leutnant hinüber. Da erhob er sich, schritt auf den letzteren zu, öffnete die Arme und rief:

»Mein Sohn, ich bin sehend! O komm und freue dich!«

Bei dieser Szene stieg dem Leutnant das Blut siedend heiß empor, aber er mußte sich beherrschen. Wie gern hätte er sich an die Brust dieses Mannes geworfen! Es war ihm unmöglich, eine Antwort zu geben, aber er hatte es auch nicht nötig zu sprechen, denn Alfonzo antwortete an seiner Stelle:

»Das ist ein Irrtum, Vater, Graf Alfonzo bin ich!«

Der sehend Gewordene heftete seinen Blick jetzt schärfer auf den Sprecher und entgegnete:

»Wer treibt hier Scherz mit mir? Ihr seid nicht mein Sohn!« – »Und doch bin ich es«, antwortete Alfonzo. »Erkennst du mich nicht an der Stimme?«

Don Emanuel starrte den Sprecher an.

»Diese Stimme, oh, diese Stimme!« rief er. »Ja, ich kenne sie, aber als ich sie zuerst hörte, dachte ich nicht, daß sie meinem Sohn gehören könne. Aber wer ist der andere?« – »Es ist Leutnant de Lautreville«, antwortete Sternau. – »Der Leutnant! Oh, Señor de Lautreville, sagt, ob dies wahr ist!«

Mariano wollte das Herz brechen, aber er antwortete:

»Erlaucht, es ist so!«

Da stieß der Graf einen Laut aus, von dem man nicht sagen konnte, ob es ein Seufzer oder ein Schluchzen sei. Er berührte keinen von den beiden, sondern drehte sich langsam um, sank auf seinen Sitz und sagte:

»Rosa, teile den Herren mit, daß sie gehen sollen. Nur Señor Sternau bleibt hier!«

Alfonzo und Mariano gingen. Sie erfuhren nicht, was in des Grafen Zimmer noch gesprochen wurde.

Als der erstere das Zimmer der frommen Schwester erreichte, fand er den Advokaten dort. Sie beide hatten seine Rückkehr mit allergrößter Spannung erwartet.

»Nun?« fragte Cortejo. – »Er mag nichts von mir wissen!« lautete die Antwort. – »Ah, ich ahnte es! Weiter!« – »Er wollte den Leutnant umarmen.« – »Dieser war zugegen?« – »Er trat mit mir ein.« – »Alle Teufel, das sieht ja aus wie Berechnung! Was sagte der Graf zu ihm?« – »Er hielt ihn für seinen Sohn.« – »Und als du den Irrtum natürlich aufklärtest?« – »Da gebot er uns beiden, uns zu entfernen. Jetzt sitzt jener Sternau wieder bei ihm.« – »Sollte dieser etwas ahnen oder gar wissen? Es ist ein Glück, daß es heute anders wird. Morgen wäre es vielleicht zu spät dazu!« – »Heute? Was soll geschehen, mein Lieber?« fragte die fromme Schwester. – »Das werdet ihr später erfahren. Je weniger heute davon wissen, desto besser ist es für uns. Geht bei Zeiten schlafen und bekümmert euch um nichts.«

Auch er begab sich nach seinem Zimmer; bald jedoch verließ er dasselbe, und es schien, als ob er sich noch im Park ergehen wolle, denn er verschwand mit den langsamen, ziellosen Schritten eines Spaziergängers nach dieser Richtung hin.

Da Sternau und Rosa bei dem Grafen waren, so waren Amy und der Leutnant aufeinander angewiesen. Die erstere war auch auf eine Viertelstunde zu Don Emanuel gerufen worden, hatte sich aber bald wieder zurückgezogen, da das Gemüt des Grafen sehr gedrückt zu sein schien.

Um der Langeweile zu entgehen, hatte Amy dem Leutnant vorgeschlagen, einen Gang ins Dorf zu machen. Sie hatten die Venta – das Wirtshaus – besucht, wo beim Klang der Pfeifen und Zithern getanzt wurde, und kehrten nun nach dem Schloß zurück. Unweit desselben blieb die Engländerin stehen und fragte in leisem Ton:

»Señor, Sie leiden an einem Geheimnis?« – »Ja«, antwortete er nach einer kleinen Pause. – »Darf man es nicht erfahren?« – »Jetzt nicht.« – »Sie haben kein Vertrauen zu mir, Señor?« – »O doch, welch unendliches Vertrauen!« antwortete er. »Aber es gibt Dinge, die man kaum sich selbst sagen darf.« – »Aber später, darf ich es da erfahren?« – »Miß Amy, Sie werden es sicher erfahren, ganz sicher, wenn …«

Er stockte.

»Wenn …? Was wollten Sie sagen, Señor?« – »Wenn ich – wenn ich Sie wiedersehen darf!«

Da nahm sie seine Hand, blickte ihm treu und offen ins Gesicht und entgegnete:

»Sie dürfen! Ich werde auf Sie warten.« – »Wie lange? Oh, wie lange? Sagen Sie es mir, Miß Amy!«

Sie legte ihr Köpfchen an seine Brust und antwortete:

»So lange ich lebe, denn wenn du nicht kommst, sterbe ich.«

Er antwortete nicht, er sagte kein Wort, aber er hielt sie umschlungen lange, lange Zeit, bis sie ihn selbst bat, den Weg fortzusetzen. Er brachte sie noch bis vor die Tür zu ihren Gemächern und begab sich dann direkt nach seiner Wohnung. Er fühlte sich so glücklich, so selig. Er wollte niemand treffen, sondern in der Einsamkeit seines Zimmers mit seinen Gefühlen allein sein.

Inzwischen verdoppelte der Notar, als er den Park erreicht, seine Schritte und gelangte lange vor zehn Uhr zur Grenze. Landola erschien sehr pünktlich. Er hatte einen zweispännigen Wagen und sechs kräftige Matrosen bei sich. Der Wagen wurde unter Bäumen, die ihn verbargen, in die Obhut eines der Leute gestellt, und die anderen marschierten auf Rodriganda zu.

»Wie wird es gehen?« fragte der Kapitän. – »Sehr leicht«, antwortete der Notar. »Es ist Tanz im Dorf, wo sich fast die ganze Dienerschaft befindet. Er ist auch hier, ich habe ihn beobachtet. Eine der hinteren Treppen ist frei. Auf ihr führe ich Euch nach dem Korridor und in seine Zimmer, die unverschlossen sind. Ihr postiert Euch in die Schlafstube, und wenn er kommt, so nehmt Ihr ihn fest.« – »Das klingt leicht. Aber wie kommen wir wieder fort?« – »Auf demselben Weg. Ihr wartet, bis ich erscheine, denn ich hole Euch wieder ab, wenn alles sicher ist.«

Es geschah, wie der Advokat gesagt hatte. Sie erreichten vollständig unbemerkt den hinteren Teil des Schlosses und gelangten von der Treppe, auf der sie die Fußbekleidungen auszogen, auf den erleuchteten Korridor, der verlassen lag, in die Wohnung des Leutnants, in der kein Licht brannte. Dort versteckten sie sich.

Als Mariano ahnungslos aus dem Dorf zurückkehrte, trat er in das Zimmer, daß ihm als Wohnraum diente, und machte Licht. Er riegelte die Tür zu, die nach dem Korridor führte, und begab sich dann in das Schlafzimmer, um sich seiner Oberkleider zu entledigen. Kaum jedoch hatte er den ersten Schritt in den dunklen Raum getan, so erhielt er einen Faustschlag an die Schläfe und darauf einen ebenso wohlgezielten zweiten, daß er die Besinnung verlor, ehe er einen Laut auszustoßen vermochte.

»Holt das Licht heraus«, gebot der Kapitän. »Wir wollen uns den Burschen einmal ansehen.«

Das Licht wurde gebracht, und man beleuchtete Mariano.

»Ah, ein feiner Bursche!« meinte Henrico Landola. »Hm, er sieht irgendeinem ähnlich, den ich kenne. Werde mich wohl noch darauf besinnen. Knebelt ihn, wickelt ihn in das Segeltuch und bindet die Taue fest, daß es ein hübsches, steifes, ruhiges Bündel ist, mit dem wir keine Not haben.«

Das Licht wurde ausgelöscht, und noch war nicht lange Zeit seitdem vergangen, als es leise an die vordere Tür klopfte, die geöffnet wurde, worauf der Notar hereingehuscht kam.

»Habt Ihr ihn?« fragte er. – »Ja.« – »Hat er sich gewehrt?« – »Pah! Das werden wir uns verbitten! Eine Seemannshand weiß gut zu treffen.« – »Er ist wohl noch ohne Besinnung?« – »Das wird sich finden. Kann es fortgehen? Draußen ist es geheurer als hier.« – »So kommt!«

Cortejo führte nun die Seeleute auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und sie erreichten den Wagen, ohne von irgendeinem Menschen bemerkt worden zu sein. Zwei Männer hatten den Geraubten bis hierher getragen. Er wurde von ihnen zunächst auf die Erde geworfen. Der Advokat zog darauf eine Blendlaterne hervor, die er ansteckte. Er konnte es sich nicht versagen, sein Opfer noch einmal anzusehen und ihm ein peinigendes Wort mit auf den Weg zu geben. Das Licht der Laterne fiel auf das Gesicht des Gefangenen. Er hatte die Augen offen.

»Ah, Bursche, du bist munter«, grinste der Notar ihn an. »Deine Rechnung mit Rodriganda ist gemacht Du wirst keinem Menschen mehr schaden. Lebe wohl und vergiß mich nicht.«

Mit diesen Worten schlug er dem Wehrlosen mit der geballten Faust einige Male in das Gesicht und gab das Zeichen, ihn in den Wagen zu heben. Während dies geschah, wurde er von dem Kapitän auf die Seite genommen und gefragt:

»Also wie, Señor? Soll er sterben oder …« – »Hm, tot ist am besten!« – »Dann verliere ich aber ein Bedeutendes!« – »So schreibt Euch zweihundert Duros mehr auf Euer Konto.« – »Das ist etwas anderes! Für diesen Preis kann man es machen. Da sind die Jungens ja fertig. Gute Nacht, Señor! Ihr laßt Euch doch noch sehen, ehe ich in See steche?« – »Einmal noch, ja.« – »Adieu!« – »Adieu!«

Der Wagen rasselte davon, und der Advokat kehrte nach Rodriganda zurück.

Er nahm dorthin nun die feste Überzeugung mit daß sein Spiel jetzt gar nicht mehr zu verlieren sei.

14. Kapitel

Am anderen Morgen hatte sich Miß Amy Lindsay bereits zu einer sehr frühen Stunde erhoben. Oft hat das Glück ganz dieselbe Wirkung auf die Nachtruhe wie das Unglück; es verscheucht den Schlaf. Es trieb sie, hinauszugehen in den kühlen, taufrischen Morgen. Als sie aus ihrem Zimmer trat, sah sie Frau Elvira von oben kommen, ein Körbchen im Arm. Sie grüßte mit einem tiefen Knicks, und Amy dankte ihr auf das freundlichste.

»Wie es scheint, ist unsere gute Señora Elvira schon sehr in Geschäften«, sagte sie. – »Jawohl, meine verehrte Doña Amy Lady«, antwortete die Kastellanin, die von ihrem guten Alimpo gelernt haben mochte, die spanische Titulatur mit der englischen zu vereinigen. »Ich habe nämlich einen großen Fehler auszugleichen.« – »Darf man ihn kennenlernen?« – »Warum nicht? Denkt Euch, Doña Lindsay Miß, wir haben gestern überall Blumen und Kränze gehabt, und gerade dem, der den Tag zum Fest machte, dem hat man nicht eine einzige Blüte auf sein Zimmer gestellt. Das ist höchst undankbar! Das sagt mein Alimpo auch.« – »Ah, Sie meinen Señor Sternau?« – »Ja, ihn und keinen anderen. Denkt Euch, Miß Lady, daß er den gnädigen Grafen nicht nur sehend gemacht, sondern auch von einer sehr lebensgefährlichen Krankheit geheilt hat. Man muß ihm dankbar sein. Darum sagte Doña Rosa, ich solle heute früh für Rosen sorgen.« – »Er hat bisher bei Don Emanuel stets gewacht?« – »Ja, es scheint, er traut gewissen Leuten zu, daß sie die Heilung des gnädigen Herrn verhindern wollen. Er ist ein sehr energischer Mann, das sagt mein Alimpo auch. Selbst heute hat er beim gnädigen Grafen gewacht; jetzt aber ist er in den Park gegangen.« – »So werden wir ihn vielleicht treffen. Ich werde Ihnen helfen, Blumen brechen.« – »Oh, wie gütig Ihr seid, teure Señorita Miß Amy Doña. Ich nehme diese große Ehre an.«

Amy hatte richtig vermutet. Sie waren noch nicht lange beschäftigt, so sahen sie den Arzt herbeikommen. Er zog den Hut grüßend, und die Engländerin trat auf ihn zu.

»Darf ich mich Ihnen anschließen, Señor Sternau, oder sind Ihre Gedanken mit etwas Besserem beschäftigt, als ich Ihnen bieten kann?« fragte sie. – »Sie sind mir herzlich willkommen, Miß«, antwortete er, »denn Sie bieten mir die Wirklichkeit dessen, womit sich meine Gedanken beschäftigen. Ich dachte nämlich an Sie.« – »An mich?« fragte sie mit scherzhaftem Erstaunen. – »Ja, und der Gedanke an Sie führte mich im Geist nach dem fernen Land, das Ihnen bald zur Heimat werden soll.« – »Sie meinen Mexiko? Kennen Sie es?« – »Sehr gut. Ich bin von den Prärien Nordamerikas durch Texas und Neumexiko geritten, kam dann durch die Wüste Mapimi nach der Hauptstadt des Landes, wo ich einige Monate verweilte, und ging hierauf nach Kalifornien, um das Leben und Treiben in den Minenregionen näher kennenzulernen«. – »Ah, Sie waren wirklich in Mexiko? Oh, das befreundet mich mit diesem Land!« rief sie. »Sie werden mir von ihm erzählen müssen, Sir. Ich muß Ihnen nämlich gestehen, daß ich eine ganz entsetzliche Angst vor Mexiko habe, welches das Land der Grausamkeiten und der Gewalttätigkeit ist. Denken Sie an seine Geschichte.« – »Ja, diese Geschichte ist allerdings mit Blut geschrieben, und die Verhältnisse sind selbst heute noch immer keine geordneten, aber so schlimm, wie es Ihnen zu sein scheint, ist es doch nicht. Mexiko ist eines der schönsten Länder der Erde; es bietet die seltensten Genüsse und Annehmlichkeiten, und besonders wird das Leben und Treiben der Hauptstadt Ihnen die größte Befriedigung gewähren.« – »Aber das Leben und Treiben der Provinzen, Sir. Man spricht sogar von Räuber- und Mörderbanden, die es dort geben soll!« – »Nun«, lächelte der Arzt, »man möchte freilich fast behaupten, daß ein jeder Mexikaner so ein wenig Räuber, Mörder oder Freibeuter ist, aber man wird sehr bald daran gewöhnt« – »Gewöhnt!« rief sie. »Wie kann man gewöhnt werden, mit Räubern, Mördern und Freibeutern zusammenzusein!« – »Sehr leicht, Miß Amy. Diese Räuber sind die feinsten Kavaliere, die es geben kann. Sie machen die Bekanntschaft eines hohen Offiziers, der Sie bezaubert, eines Richters, dessen Gerechtigkeit Ihnen imponiert, eines Gelehrten, dessen Wissen Sie anstaunen, eines Geistlichen, dessen Frömmigkeit Sie bis ins tiefste Herz erquickt; dann werden Sie eines schönen Tages von Räubern angefallen und erkennen in dem Anführer derselben Ihren Offizier oder Richter, Ihren Gelehrten oder Geistlichen. Das ist dort gar nicht auffällig, obgleich es Ihnen ungewöhnlich vorkommen und ein kleines Lösegeld kosten wird. Sie werden von den Leuten mit aller Höflichkeit behandelt und wenn der Anführer Ihnen späterhin in irgendeinem Salon wieder begegnen sollte, so wird er Ihnen mit aller Courtoisie den Arm bieten und nichts verlangen, als daß Ihnen das kleine Abenteuer nicht mehr erinnerlich ist.« – »Das ist ja ganz erstaunlich romantisch! Es ist in diesen Fällen also bloß auf die Kasse und nicht auf das Leben abgesehen?« – »Meist. In den entfernten Provinzen ist es allerdings etwas gefährlicher. Wer sich da nicht jeder Gegenwehr enthält, der kann seinen Mut leicht mit dem Tod büßen. Man reist in diesen Gegenden deshalb nur unter militärischer Bedeckung. Doch sind solche Kleinigkeiten keineswegs mit den Gefahren der wilden Savanne zu vergleichen. Dort ist jeder wider jeden; man schwebt in jedem Augenblick in Todesgefahr, und wer da nicht gut beritten und ebenso gut bewaffnet ist, Körperstärke und Erfahrung besitzt, der soll lieber daheim bleiben.« – »Ja, ich habe davon gelesen. Ist es wahr, daß solche Leute, die diese Wildnis durchziehen, die Spur eines jeden Menschen, eines jeden Tieres zu entdecken vermögen?« – »Allerdings. Es gehört dazu nicht nur Übung, sondern vor allen Dingen ein Scharfsinn, den man sich nicht anzueignen vermag; er muß angeboren sein. Man muß jedes Sandkörnchen, jeden Grashalm, jeden Zweig befragen können, muß tausend Umstände berücksichtigen, an die kein anderer denken würde.« – »Haben Sie das auch getan?« – »Ich war ja dazu gezwungen«, antwortete Sternau leichthin. – »Ah, da sind Sie also einer jener berühmten Pfadfinder gewesen, die ein so romantisches Leben führen?«

 

Er verbeugte sich mit komischem Stolz und entgegnete:

»Zu dienen, Miß Amy.« – »Könnte man doch einmal ein Beispiel erleben, um den Scharfsinn eines solchen Präriejägers bewundern zu können!« – »Dieser Wunsch wird Ihnen in Mexiko sehr leicht zu erfüllen sein, hier aber, mein teure Miß – ah, vielleicht ist es auch hier bereits möglich, denn ich sehe hier eine Fährte, die uns als Beispiel dienen kann.«

Sie hatten sich im Verlauf ihres Gesprächs von den Blumen und von der Kastellanin entfernt und waren nach demjenigen Teil des Parks gekommen, der an die hintere Seite des Schlosses grenzte. Kein gewöhnliches Auge hätte in dem Sand des Weges den Eindruck von Füßen entdecken können, aber der geübte Blick Sternaus, angeregt und geschärft durch den Gegenstand des Gesprächs, erkannte sofort, daß hier mehrere Personen gegangen waren.

»Eine Fährte?« fragte die schöne Engländerin, indem sie den Boden musterte. »Ich sehe ja nichts!« – »Das glaube ich Ihnen gern, Miß Amy«, antwortete Sternau. »Es gehört allerdings das Auge eines wilden Indianers oder eines erfahrenen Präriejägers dazu, aus der Lage der Sandkörnchen zu schließen, daß dieser wenig gangbare Pfad während der Nacht betreten worden ist.« – »Während der Nacht? Mein teurer Sir, das klingt ja nach irgendeinem heimlichen Abenteuer!« – »Oh, wir brauchen nicht sogleich an einen Roman zu denken«, lächelte er. Und indem er ihren Arm ergriff, um sie zurückzuhalten, fuhr er fort: »Bitte, bleiben Sie zunächst hier stehen, damit Ihr Fuß die Spuren nicht verwischt!« Dann bückte er sich nieder, um den Sand zu untersuchen und sagte: »Jetzt blicken Sie her, Miß Lindsay! Sehen Sie, daß hier die Körner niedergedrückt worden sind?«

Sie folgte seiner Aufforderung, betrachtete den Boden genau und entgegnete überrascht:

»Wirklich, ich sehe einen Eindruck! Und Sie denken, daß er von einem Fuß herrührt?« – »Allerdings. Er rührt von einem großen Stiefel her, von einem Stiefel, der einen sehr breiten und niedrigen Absatz hat, ungefähr so, als wenn er derjenige eines Wasserstiefels wäre, wie ihn die Fischer und Schiffer tragen. Und hier ist die Spur des zweiten Stiefels, ganz derjenigen des ersten entsprechend. Und weiter; hier rechts haben Sie noch mehrere Spuren; es sind also hier mehrere Männer gegangen. Und betrachtet man den Rand der Fußeindrücke genau, so sieht man, daß derselbe bereits vollständig eingefallen ist, denn er ist nicht mehr scharf abgegrenzt; wie es der Fall sein würde, wenn die Leute erst vor kurzer Zeit hier gegangen wären. Sie sind also zur frühen Nachtzeit hier gewesen.« – »Aber solche Stiefel trägt im Schloß keiner«, bemerkte das Mädchen, das sich für diese eigentümliche Angelegenheit zu interessieren begann.

»Das läßt also vermuten, daß diese Männer hier fremd waren«, antwortete er. Ich beginne fast, einen kleinen Verdacht zu hegen.« – »Ah, wirklich?« fragte sie ängstlich. – »Ja. Sie sind vom Schloß her gekommen. Lassen Sie uns sehen, aus welcher Tür!«

Sie verfolgten nun die Spur nach dem Schloß zurück und kamen an den hinteren Eingang, den die Seeleute als Passage benutzt hatten.

»Ah!« rief Sternau. »Sehen Sie, man hat auf dem Herweg eine andere Richtung eingeschlagen als auf dem Rückweg. Diese Männer sind hier links zwischen den Sträuchern herausgekommen, dann aber rechts durch den Park gegangen. Es waren also wirklich Fremde. Die Sache wird in der Tat bedenklich. Lassen Sie uns eilen! Wir müssen schnell sehen, wohin sie gegangen sind.«

Sie verfolgten die Spur nach dem Park. Amy Lindsay wurde von Minute zu Minute aufgeregter. Sie sah, mit welchem Scharfblick ihr Begleiter die geringste Kleinigkeit berücksichtigte, mit welcher Sicherheit er die Richtung bestimmte, und erstaunte fast, als er, an einer Stelle angekommen, wo der Pfad breiter wurde und der Sand vom Tau noch feucht war, den Boden mit noch größerer Sorgfalt als bisher untersuchte und sagte:

»Miß, das ist sonderbar. Es ist ein Schloßbewohner bei den Fremden gewesen. Sehen Sie, dieser Eindruck rührt von einem feinen Herrenstiefel her. Ich werde ihn mir genau abzeichnen.«

Mit diesen Worten zog er ein Zeitungsblatt, das er zufällig bei sich trug, und einen Bleistift hervor und zeichnete die Umrisse des Stiefels so genau nach der Spur, daß die Konturen der Zeichnung streng an die Sohle des Stiefels passen mußten.

»So, das ist das eine«, sagte er. »Das andere ist fast noch merkwürdiger. Hier sind zwei Männer gerade hintereinander gegangen. Bemerken Sie, daß die Absätze ihrer Stiefel tiefer in den Sand eingedrungen sind als die Sohle?« – »Ja, Sir!« – »Sie sind also fester und schwerer aufgetreten als die anderen, sie haben eine Last zu tragen gehabt, die nicht leicht gewesen ist. Kommen Sie, Miß Amy, gehen wir jetzt noch weiter!«

Sternau verfolgte die Spur noch längere Zeit, ohne ein Wort zu sagen; endlich aber blieb er stehen und meinte ganz erstaunt:

»Ah, hier hat ein Wagen gestanden!« – »Wirklich?« fragte sie. »Was tut ein Wagen hier zwischen den Büschen?« – »Diese Frage werfe auch ich auf. Es ist hier die Grenze des Parks. Sehen Sie die Gleise? Es waren zwei Pferde vorgespannt. Hier hat man die Last niedergelegt, hier neben dem Wagen.«