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Old Surehand I

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Ein nächtlicher Ritt durch die im Mondenscheine sich dehnende Wüste! Wie gern gönnte ich meinen lieben Lesern die hehren Empfindungen, welche die Menschenbrust dabei höher und höher schwellen lassen! Nur muß das Herz frei von Sorge und von allem sein, was es beklemmen und beengen kann.

Ich habe zuweilen geträumt, ich könne fliegen; der Körper ist vorhanden, hat aber weder Umfang noch Gewicht und scheint sich in eine durchaus rein geistige Potenz verwandelt zu haben, die frei in alle Richtungen streben kann, ohne durch den hindernislosen Raum gestört zu werden. So bin ich geschwebt hoch über der Erde hin, weit über sie hinaus, von Mond zu Mond, von Stern zu Stern, aus einer Unendlichkeit in die andre, von unaussprechlicher Wonne erfüllt. Das war aber nicht eine Wonne des Stolzes darüber, daß ich selbst es war, der den Raum besiegte, sondern die demütige und vertrauensvolle Seligkeit, daß allmächtige Liebe mich trug und immer weiter und weiter führte. Dann lag ich nach dem Erwachen noch lange geschlossenen Auges da, um mich langsam zu besinnen, daß es nur ein Traum gewesen und ich ein ohnmächtiger Knecht der Zeit und des Raumes sei.

Nicht so wie in einem solchen Traume, aber ähnlich ist es, wenn man auf leichtfüßigem Pferde oder Dromedar über die Wüste fliegt. Man kennt nichts Störendes, nichts Hemmendes, denn das einzige Hindernis, welches es giebt, ist der Boden, der hinter einem verschwindet und mehr einen Halt als eine Hemmung bietet. Das Auge haftet nicht auf ihm, sondern auf dem Horizonte, der sich wie eine sichtbare aber nicht zu greifende Ewigkeit immer von neuem gebiert; es richtet sich nach oben, wo zwischen den strahlenden Lichtern des Himmels immer andre und andre, immer mehr und mehr Lichter erscheinen, bis der Blick sie nicht mehr zu fassen vermag. Und wenn der Sehnerv an dieser Anfangs- und Endlosigkeit ermüdet, und die staunend erhobene Wimper sich niedersenkt, so währt die Unendlichkeit im eigenen Innern fort, und es entstehen Gedanken, die nicht auszudenken sind; es steigen Ahnungen auf, die man vergeblich in Worte fassen möchte, und es wallen und wallen Gefühle und Empfindungen empor, die man aber nicht einzeln zu fühlen und zu empfinden vermag, weil sie eine einzige, endlose Woge bilden, auf und mit welcher man weiter und weiter schwebt; immer tiefer und tiefer hinein in ein andächtiges Staunen und ein beglückendes Vertrauen auf die unfaßbare und doch allgegenwärtige Liebe, welche der Mensch trotz des Wörterreichtums aller seiner Sprachen und Zungen nur durch die eine Silbe anzustammeln vermag: – — Gott – — Gott – —Gott – —!

Könnte mir jemand eine Feder geben, aus welcher die richtigen Worte flössen, den Eindruck zu beschreiben, den ein solcher nächtlicher Wüstenritt auf ein gläubiges Menschenherz hervorbringt! Es senkt sich von den leuchtenden Sternen des Firmamentes eine große, himmlische Bestätigung nieder auf das Gemüt: Du hast das rechte Teil erwählet, und das soll nicht von dir genommen werden! Der aber, der seinen Gott verloren hat, der reitet durch Sand und Sand und wieder Sand; er sieht nichts als Sand; er hört ihn stunden- und stundenlang von den Hufen des Pferdes rieseln, und wie die traurige Oede sich vor ihm immer und immer erneut und ihm nichts bringt und bietet als Sand und wieder Sand, so giebt es in den verlorenen Tiefen seines Innern auch nur eine unsagbar elende Wüste, einen trostlosen, toten Sand, der keinem Hälmchen, keinem Würzelchen Leben bieten kann. Für solch einen Unglücklichen kann man nichts thun, als nur beten.

Wirklich? Kann man wirklich gar nichts, gar nichts für ihn thun, als nur beten?

Ich war, ohne daß ich darauf achtete, lange, lange Zeit vorangeritten, mich nur und ganz der stillen, wortlosen Anbetung hingebend, die mir die Hände gefaltet und die Zügel aus ihnen hatte sinken lassen. Da wurde ich aus ihr aufgestört; die Stimme des alten Wabble erklang neben mir:

»Sir, was treibt Ihr da? Ich glaube gar, Ihr betet?«

Die Worte klangen ironisch; ich antwortete nicht.

»Nehmt die Zügel auf!« fuhr er fort. »Wenn Euer Pferd bei diesem Galoppe stolpert, könnt Ihr den Hals brechen!«

Ich hatte das Gefühl eines durstig Trinkenden, dem man den Becher von den Lippen reißt, um ihm Aloe hineinzuschütten.

»Was geht Euch mein Hals an!« antwortete ich kurz und ärgerlich.

»Eigentlich nichts; das ist richtig; aber da wir hier zusammengehören, kann es mir nicht gleichgültig sein, ob Ihr im nächsten Augenblicke ein ganzes oder ein zerbrochenes Genick haben werdet.«

»Habt keine Sorge um mich; ich breche es nicht!«

»Sah aber ganz so aus. Wenn man so fesch und schlank dahinfliegt, legt man dem Pferde doch nicht die Zügel auf den Hals!«

»Wollt Ihr mich das Reiten lehren?«

»Fällt mir nicht ein; habe ja gesehen, daß ihr keinen Lehrer braucht. Was ich aber noch nicht gesehen habe, das ist ein Reiter, der mit gefalteten Händen reitet, als ob er in einem Bet- und Lamentierstuhle ritte. Das waret nämlich jetzt Ihr, Mr. Shatterhand.«

»Bet- und Lamentierstuhl? Wie kommt Ihr zu dieser Zusammenstellung?«

»Ist meine Ansicht, Sir.«

»So ist Beten und Lamentieren bei Euch dasselbe?«

»Yes.«

»Hört, das ist ein dummer Scherz!«

»Scherz? Es ist mein Ernst!«

»Unmöglich! Welcher Mensch kann das Gebet als Lamentation bezeichnen! «

»Ich!«

Da zog es mein Gesicht mit einem Rucke nach ihm hin. Ich fragte:

»Ihr habt doch oft und viel gebetet?«

»Nein.«

»Dann aber doch zuweilen?«

»Auch nicht.«

»Wohl gar nie?«

»Nie!« nickte er, und das klang fast wie ein Stolz in seinem Tone.

»Herrgott, das glaube ich nicht!«

»Glaubt‘s, oder glaubt es nicht; mir gleich; aber ich betete noch nie.«

»Aber doch in Eurer Jugend, als Kind?«

»Auch nicht.«

»Hattet ihr denn keinen Vater, der von Gott zu Euch redete?«

»Nein.«

»Keine Mutter, die Euch die Hände faltete?«

»Nein.«

»Keine Schwester, die Euch ein kurzes Kindergebet lehrte?«

»Auch nicht.«

»Wie traurig, wie unendlich traurig! Es giebt auf dieser Gotteswelt einen Menschen, der über neunzig Jahre alt geworden ist und in dieser langen, langen Zeit noch nicht ein einziges Mal gebetet hat! Tausend Menschen könnten mir dies beteuern, ich würde es nicht glauben, ja, ich würde und könnte es nicht glauben, Sir. «

»Da ich selbst es sage, könnt Ihr es ruhig glauben.«

»Ruhig? Ich bin aber nicht ruhig dabei, ganz und gar nicht!«

»Wüßte keinen Grund für Euch, Euch durch eine so klare und einfache Sache, die mir sehr gleichgültig ist, in Eurer Ruhe stören zu lassen!«

»Gleichgültig? Ist Euch das wirklich so gleichgültig, Mr. Cutter?«

»Vollständig!«

»Entsetzlich!«

»Pshaw! Habe nicht geahnt, daß Ihr ein solcher Betbruder seid!«

»Betbruder? Der bin ich nicht, wenn Ihr nämlich dieses Wort in dem Sinne meint, wie es von den Gottlosen genommen wird.«

»Ich meine es so, ganz genau so. Ob ich aber gottlos bin? Hm!«

»Das seid Ihr; los von Gott nämlich!«

»Hört, treibt‘s nicht zu arg, Mr. Shatterhand! Ich bin ein Gentleman, kein Lump. Ich habe stets gethan, was ich für richtig hielt, und möchte den sehen, der mich im Ernst als gottlos bezeichnet!«

»So seht mich an!«

»Also ist‘s wirklich Euer Ernst?«

»Mein völliger. Ihr habt stets gethan, was Ihr für richtig hieltet, seid also stets Euer eigener Gesetzgeber gewesen. Sollte es kein Gesetz geben, welches über Euerm Eigenwillen steht?«

»Hm! Die Gesetze der Vereinigten Staaten, nach denen ich mich richte.«

»Weiter keine?«

»Nein.«

»Giebt es nicht ethische, religiöse, göttliche Gesetze?«

»Für mich nicht. Ich bin geboren; das ist ein Fact. Ich bin geboren, wie ich bin; das ist ein zweites Fact. Ich kann nicht anders sein, als ich bin; das ist ein drittes Fact. Ich trage also nicht die geringste Schuld an dem, was ich bin und was ich thue; das ist das Hauptfact. Alles Andere ist Unsinn und Albernheit.«

»Hört, Mr. Cutter, Eure Logik hinkt auf allen Beinen!«

»Laßt sie hinken, Sir! Ich bin in das Leben hereingehinkt, ohne um Erlaubnis gefragt zu werden, und der Teufel soll mich holen, wenn ich nun meinerseits beim Hinaushinken irgend wen um Erlaubnis frage! Ich brauche dazu weder Religion noch Gott.«

Es war entsetzlich. Die Haare wollten sich mir bei diesen Worten sträuben, und ich hatte ein Gefühl, als ob mir jemand mit einem Eisstücke über den Rücken führe. Vor nur wenigen Minuten hatte ich mir den Ritt eines ungläubigen Menschen durch die Wüste gedacht, und jetzt war der Gedanke zur Wahrheit geworden! Dieser Greis, der nicht daran dachte, in welcher Nähe sich das Grab vor ihm befand, sprach Worte aus, welche für meine Ohren eine Lästerung enthielten, die mich schaudern machte!

»So glaubt Ihr nicht an Gott?« fragte ich mit beinahe bebender Stimme.

»Nein.«

»An den Heiland?«

»Nein.«

»An ein Leben nach dem Tode?«

»Nein.«

»An eine Seligkeit, eine Verdammnis, welche ewig währt?«

»Fällt mir nicht ein! Was kann mir so ein Glaube nützen?«

Sollte ich über diese Worte traurig sein oder empört? Ich wußte es nicht; aber es kam etwas über mich, was mich zwang, ihm von meinem Pferde hinüber den Arm auf die Schulter zu legen und zu sagen:

»Hört, Mr. Cutter, ich habe Euch eine Teilnahme geschenkt, wie ich sie nicht jedem schenke; jetzt aber graut mir vor Euch! Dennoch will ich zu Euch halten und mich bemühen, Euch zu beweisen, daß Ihr Euch auf einem schrecklichen Irrwege befindet.«

»Was soll das heißen? ihr wollt mich belehren?«

»Ja.«

»In dem, was Ihr Religion nennt?«

»Ja.«

»Danke, danke sehr! Das müßte ich mir verbitten!

Schon der Versuch würde mich beleidigen. Ihr habt vorhin gehört, was und wie ich denke. Mit Worten und Lehren darf mir keiner kommen; da bin ich zu alt und zu klug dazu. Ich habe Euch ein Fact nach dem andern genannt. Redensarten gelten bei mir nichts und wenn sie noch so schön klingen. Bei mir gilt das Fact als Beweis, sonst nichts.«

 

»Habt Ihr Religionsunterricht genossen?«

»Nein.«

»So könnt Ihr auch kein Urteil über den – —«

»Schweigt, oder bringt einen Fact!« unterbrach er mich.

»Hört mich nur einige Minuten an, Mr. Cutter! Ich bin überzeugt, daß Ihr meine Worte – — —«

»Keine Worte! Einen Fact will ich haben!« fiel er mir wieder in die Rede.

»Ich werde ja gar nicht viele Worte machen, ich will nur eine Frage aussprechen, welche – — —«

»Unsinn! Eine Frage ist kein Fact!«

Da lief mir denn doch die Galle über; ich hielt mein Pferd mit einem Rucke an, fiel ihm in die Zügel, daß er auch halten mußte, und ließ meinen Zorn, den ich nicht beherrschen konnte, reden:

»Fact, Fact und wieder Fact! Ihr habt vorhin allerdings ein Fact nach dem andern gebracht und scheint stolz auf die falsche Logik zu sein, mit welcher Ihr sie verbindet. Ihr sagt, daß Ihr weder Gott noch Glauben braucht; ich aber sage Euch und bitte Euch, meine Worte wohl zu merken: Es wird Euch, wie die heilige Schrift sagt, schwer werden, gegen den Stachel zu lecken, und ich sehe es kommen, daß der Herrgott Euch einen Fact entgegenschleudern wird, an welchem Ihr zerschellen müßt wie ein dünnes Kanoe am Felsenrande, wenn Ihr nicht zu der einzigen Rettung greift, die im Gebete liegt. Möge der, an den Ihr niemals glaubtet und zu dem Ihr niemals betetet, Euch dann gnädig und barmherzig sein!«

Ich erschrak jetzt fast selbst über den Ton, in welchem meine Worte weit hinaus in die Wüste klangen. Es konnte hier in dieser weiten Ebene kein Echo geben; dennoch war es mir, als ob sie schmetternd zu uns zurückgeworfen würden, wohl eine Folge meiner Erregung. Er aber ließ ein kurzes Lachen hören und antwortete:

»Ihr habt eine wunderbare Begabung zum Hirten, der seine Schäflein weidet, Sir, doch bitte ich Euch, mich nicht als Schaf zu betrachten! Old Wabble wird niemals ein frommes Lämmlein sein; th‘is clear!«

Wie oft hatte mir dieses th‘is clear heimlich Spaß gemacht; jetzt widerte und ekelte es mich an, und ich fühlte, daß auch er selbst sich um meine ganze Zuneigung gebracht hatte. Ich antwortete kalt:

»Lämmlein oder nicht; aber ich will nicht wünschen, daß einmal ein Augenblick kommt, an welchem Ihr Euch so rettungslos verloren seht, daß Ihr mich knieend bittet, Euer Hirt zu sein!«

»Würdet Ihr dann mein kniefälliges Flehen erhören und mich auf grüne Weide führen, mein frommer Sir?«

»Ja, das würde ich, und wenn ich mein Leben daran setzen müßte. Jetzt aber kommt weiter! Wir sind fertig!«

Old Surehand und infolgedessen die Apatschen waren nämlich auch halten geblieben. Wir trieben unsre Pferde wieder an. Old Wabble blieb hinter mir zurück, während Old Surehand sich an seiner Stelle an meiner Seite hielt, zunächst ohne ein Wort zu mir zu reden.

Ich war tief, tief – — – was denn? Verstimmt? Nein, das war das richtige Wort nicht. Ich war traurig, traurig wie noch selten; ich fühlte ein unendliches, heiliges Mitleid mit dem Alten, trotz des Hohnes, den ich von ihm geerntet hatte. Keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder, keine Schwester! Keinen Unterricht, niemals, aber auch nicht ein einziges, allereinziges Mal gebetet! Das war der berühmte king of the cowboys! Meine Drohung war mir ganz absichtslos über die Lippen geflossen; ich hatte grad so und nicht anders sprechen müssen. War ich das Werkzeug eines höheren Willens? Als später diese Drohung fast wörtlich in Erfüllung ging, war es mir, als ob ich es sei, der durch diese Prophezeiung den schrecklichen Tod des Alten heraufbeschworen habe, und es dauerte lange, ehe die Vorwürfe, die ich mir darüber machte, zum Schweigen kamen.

Old Surehand ritt schweigend neben mir. Er hatte alles gehört und schien darüber nachzudenken. Erst nach längerer Zeit unterbrach er das Schweigen, indem er mir die Frage vorlegte:

»Darf ich Euch stören, Sir? Ich sehe, daß Ihr in Euch versunken seid.«

»Es ist mir ganz lieb, aus diesen Gedanken geweckt zu werden.«

»Ihr wißt, daß ich viel von Euch habe sprechen hören; dabei wurde stets auch das erwähnt, daß Ihr fromm seid.«

»Hat man unter fromm dabei verstanden, daß ich das, was ich denke und glaube, stets im Munde führe?«

»Nein, es war vielmehr das Gegenteil der Fall.«

»Hat man sich lustig über diese sogenannte Frömmigkeit gemacht?«

»Nie. Ihr pflegt ja Eure religiösen Ansichten mehr in Thaten als in Worten auszusprechen, und das imponiert. Ich habe Euch dann auch genau so gefunden. Ihr habt von Religion kein Wort zu mir gesprochen.«

»Ist auch nicht nötig!«

»Vielleicht doch!«

»Wieso?«

»Weil – — – hm! Sagt einmal, Sir, Euer Leben ist wohl, ich meine nämlich Euer inneres, stets ein sehr ruhiges und gleichmäßig verlaufendes gewesen? Ihr habt als Kind gehört, daß es einen Gott gebe, und an ihn geglaubt; dieser Glaube ist nie angetastet worden und lebt nun als schöner Kinderglaube noch in Eurem Herzen? Das denke ich und werde mich nicht irren.«

»Ihr irrt.«

»Wirklich?«

»Ja, Ihr irrt. Es giebt keinen Sieg ohne vorhergehenden Kampf. Mein inneres Leben ist fast nicht weniger ereignisvoll gewesen wie mein äußeres. Der Strom auch des Seelenlebens fließt nicht immer gleichmäßig zwischen seinen Ufern; er hat seine Wellen und Wogen, seine Klippen und Versandungen, seine Wassermängel und Ueberschwemmungen.«

»Also Ihr habt auch gekämpft?«

»Oft bis zur Anstrengung der letzten Kraft! Aber es ist mir mit diesem Kampfe stets heiliger Ernst gewesen. Es giebt Millionen Menschen, welche durch das Leben gehen, ohne nach Klarheit zu ringen; ob Gott oder nicht, das ist ihnen gleich; es ist das ein Leichtsinn, über den man weinen könnte. Mir aber ist der höchste, ja der einzige Zweck meines Daseins der gewesen, zur Erkenntnis zu gelangen. Ja, ich habe das unendliche Glück gehabt, gläubige Eltern zu besitzen. Ich war der Liebling meiner Großmutter, welche im Alter von sechsundneunzig Jahren starb; sie lebte in Gott, leitete mich zu ihm und hielt mich bei ihm fest. Das war ein wunderbarer, seliger Kinderglaube, voll hingebender Liebe und Vertrauen. Ich habe als Knabe des Abends und des Morgens und auch noch viel außerdem dem lieben Gott alle meine kleinen Wünsche und Bitten vorgetragen. Ich erinnere mich, daß einst ein Schwesterchen schlimmes Zahnweh hatte; kein Mittel half; da tröstete ich sie: »Paulinchen, ich gehe jetzt hinaus in die Schlafstube und sag‘s dem lieben Gott; paß auf, da hört‘s gleich auf!« Werdet Ihr mich auslachen, Sir, wenn ich Euch versichere, daß es wirklich aufgehört hat?«

»Fällt mir nicht ein! Wehe dem Menschen, der über so etwas zu lachen vermag!«

»Ich könnte Euch viel erzählen, von höchst sonderbaren Wünschen, die ich da dem lieben Gott vorgetragen habe; er hat seine Engel, und wenn es Menschen sind, auch solche Bitten zu erfüllen. Später als Schüler begann ich nachzudenken. Ich bekam ungläubige Lehrer, welche ihre Verneinung in einen anziehenden Nimbus zu hüllen wußten. Ich studierte hebräisch, aramäisch, griechisch, um die heilige Schrift im Urtexte zu lesen. Der Kinderglaube verschwand; der Zweifel begann, sobald die gelehrte Wortklauberei anfing; der Unglaube wuchs von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht, denn ich opferte meine Nächte dem frevelnden Beginnen, die Wahrheit durch meine eigene Klugheit zu erfassen. Welche Thorheit! Aber Gott war barmherzig gegen den Thoren und führte ihn auch auf dem Wege des Studiums zu der Erkenntnis, daß jener fromme Kinderglaube der allein richtige sei. Meine nachherigen Reisen brachten mich mit den Bekennern aller möglichen Anbetungsformen in Berührung. Ich besaß nicht jenes Christentum, welches sich über allen Andersgläubigen erhaben dünkt, sondern ich prüfte auch hier; ich studierte den Kuran, die Veda, Zarathustra[44] und Cong-fu-tse[45]. Diese Lehren konnten mich nicht ins Wanken bringen wie früher die Werke unserer »großen Philosophen«, welche noch heut in meiner Bibliothek »glänzen«, weil ich sie außerordentlich schone, indem ich sie fast nie in die Hand nehme. Mein Kinderglaube ist also durch zahlreiche Prüfungen gegangen; er hat sich in ihnen voll bewährt und wohnt mir darum doppelt unerschütterlich im Herzen.«

»Glaubt Ihr, ihm auch ferner treu zu bleiben?«

»Bis in den Tod und darüber hinaus!«

Es lag ein tiefer, dringlicher Ernst in der Weise, wie er fragte. Ich begann zu ahnen, daß dieser gewaltige Jäger auch in seinem Innern jage – — nach der Wahrheit, die er vielleicht noch nicht kennen gelernt hatte oder die ihm wieder entrissen worden war. Da hielt er mir die Hand herüber und bat:

»Gebt mir einmal Eure Hand, Sir, und versprecht mir bei Eurer Seligkeit und bei dem Andenken jener alten Großmutter, die Euch heut noch teuer ist, mir genau nur so zu antworten, wie Ihr wirklich denkt!«

»Hier meine Hand; ich verspreche es. Es bedarf gar nicht des Hinweises auf meine Seligkeit und des Andenkens an jene alte, liebe Frau, die ich einst wiedersehen werde.«

»Giebt – — es – — einen – — Gott?«

Er zog diese vier Worte weit auseinander und betonte jedes einzelne von ihnen. Ja, es war ihm Ernst, wahrer Ernst.

Er hatte gerungen und gekämpft, mit heißer Anstrengung, war aber noch nicht zum Siege gelangt.

»Ja,« antwortete ich mit derselben Betonung.

»Ihr glaubt, Eure Großmutter wiederzusehen; es giebt also ein Leben nach dem Tode?«

»Ja!«

»Beweise!«

»Ich beweise es Euch, indem ich zwei Koryphäen vorführe, deren Kompetenz über allen Zweifel erhaben ist.«

»Wer sind diese Personen?«

»Eine sehr, sehr hochstehende und eine ganz gewöhnliche.«

»Nun also, wer?«

»Gott selbst und ich.«

Er senkte den Kopf und schwieg lange, lange Zeit.

»Beleidigt Euch die Zusammenstellung des allerhöchsten Wesens mit einem Sterblichen, der an Eurer Seite reitet?« fragte ich endlich, da er noch immer nichts sagte.

»Nein, denn ich weiß, wie Ihr es meint. Also Gott?«

»Ja. Er spricht in seinen Worten und in seinen Werken. Wer beiden die Ohren und die Augen willig öffnet, der wird und muß zu der Erkenntnis gelangen, die ich jetzt ausgesprochen habe.«

»Und Ihr?«

»Es ist die Stimme meines Herzens.«

»Ihr sagt das so ruhig und einfach, und doch ist es etwas so Großes um diese Stimme. Wollte doch Gott auch mein Herz reden lassen!«

»Bittet Gott darum; er wird sie erklingen lassen!«

»Sie war früher lebendig; dann ist sie gestorben!«

Das klang so sehnsüchtig, so traurig.

»Ihr waret einst auch gläubig, Mr. Surehand?«

»Ja.«

»Und habt den Glauben verloren?«

»Vollständig. Wer giebt ihn mir zurück!«

»Derjenige, welcher die Gefühle des Herzens wie Wasserbäche lenkt, und derjenige, welcher sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben! Ihr ringt und strebt nach dieser Wahrheit, Sir; kein Nachdenken und kein Studieren kann sie Euch bringen; aber seid getrost, Sir, sie wird Euch ganz unerwartet und plötzlich aufgehen, wie einst den Weisen im Morgenlande jener Stern, der sie nach Bethlehem führte. Euer Bethlehem liegt gar nicht weit von heut und hier; ich ahne es!«

Er hielt mir die Hand abermals herüber und bat:

»Helft mir dazu, Mr. Shatterhand!«

»Ich bin zu schwach dazu; die wahre Hilfe liegt bei Gott. Es müssen schlimme Mächte gewesen sein, die Euch das raubten, was jedem Menschen das Höchste und das Heiligste sein soll.«

»Ja; es waren Ereignisse, die mir alles nahmen, auch den Glauben. Ein Gott, der die Liebe, die Güte, die Gerechtigkeit ist, kann das nicht zugeben; wenn es trotzdem geschieht, so giebt es keinen Gott.«

»Dieser Schluß ist ein Trugschluß, Sir.«

»Nein!«

»Doch! Ihr spracht nur von Güte, Liebe und Gerechtigkeit; wollt Ihr nicht auch an die Allweisheit denken? Ich weiß nicht, was geschehen ist, und will auch nicht darnach fragen; aber sagt mir nur das Eine, Mr. Surehand: Seid Ihr etwa ein Gott?«

»Nein.«

»Ihr scheint Euch aber für einen zu halten!«

»Wie so?«

»Weil Ihr Euch unterfangen habt, mit Gott zu rechten und zu hadern; das kann nur unter Gleichstehenden geschehen.«

 

»Uff!« ließ er sich leise hören. Die Richtigkeit meiner Logik schien ihm einzuleuchten.

»Ja,« fuhr ich fort, »ich klage Euch an, Euch überhoben zu haben, indem Ihr den Herrgott und sein Walten vor Euern Richterstuhl gezogen habt, Ihr, die Handvoll Staub, den allmächtigen Schöpfer und Erhalter aller Himmel, Erden und Sterne! Bedenkt doch, was das ist: der Wahnsinn einer Insektenlarve, die den Adler aus dem Aether zur Rechenschaft herunter vor ihr winziges Löchlein fordert! Und dieser Vergleich bezeichnet den Abstand zwischen Gott und Euch noch immer nicht treffend genug! Sind Euch die Bücher des Allmächtigen aufgeschlagen, daß Ihr seine Ratschlüsse kritisieren dürft? Ist es seinem Willen nicht möglich, das, was Euch bedrückt, in Wohlthat zu verwandeln? Kann er nicht jene Ereignisse, welche Euern schwachen, kurzsichtigen Augen als Unglück erschienen, zu einem Ende führen, welches Euch vor seiner Allweisheit in den Staub sinken läßt? Darf das Kind, wenn es die Rute des Vaters fühlt, zu ihm sagen: Komm her und rechtfertige dich vor mir?«

»Ich – — hatte – — – diese Rute – — – nicht verdient,« antwortete er zögernd wie einer, der nur etwas sagen will.

»Nicht verdient! Seid Ihr der Mann, darüber zu entscheiden? Glaubt Ihr, der einzige Mensch zu sein, welcher meint, es sei ihm unrecht geschehen? Haben nicht Tausende und Abertausende mehr, viel mehr gelitten als Ihr? Denkt Ihr etwa, daß zum Beispiel mein Himmel stets nur voller Geigen gehangen habe? Was heißt, nicht verdient? Ich wurde als ein krankes, schwaches Kind geboren, welches noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen oder gar laufen zu können. Hatte ich das verdient? Seht Old Shatterhand jetzt an! Ist dieses Kind in ihm noch zu erkennen? Bin ich nicht vielmehr ein lebendes Beispiel jener Weisheit, mit welcher Ihr gehadert habt? Ich bin dreimal blind gewesen und mußte dreimal operiert werden. Hatte ich das verdient? Wer aber kann sich, von Winnetou abgesehen, heut rühmen, die scharfen Augen Old Shatterhands zu besitzen? Ich habe nie gemurrt und geknurrt wie Ihr, sondern getrost meinen Herrgott über mir walten lassen, und wie hat er alles, alles so herrlich hinausgeführt! Ich habe als armer Schüler und später als Student wochenlang nur trockenes Brot und Salz gehabt, weil ich keinen Menschen hatte, der mir half, und zu stolz zum Betteln war. Ich mußte mich durch Privatunterricht ernähren, und während andere Studenten das Geld ihrer Väter mit ihrer Gesundheit und dadurch oft auch ihre ganze Zukunft verjubelten, hielt ich im Winter mein Buch zum Dachfenster meines Bodenstübchens hinaus, um meine Lektion im Mondenschein zu absolvieren, weil ich kein Geld zu Licht und Feuerung hatte. Hatte ich das verdient? Und doch bin ich niemals irgend jemandem einen Pfennig schuldig gewesen und habe nur zwei Gläubiger gehabt; die waren Gott und ich: Gott, der mir ein Pfund verliehen hatte, um es auszubilden, und ich, der ich die strenge Forderung an mich stellte, keine Stunde meines Lebens vergehen zu lassen, ohne mir sagen zu können, daß sie pflichtgetreu ausgenützt worden sei und mir Früchte getragen habe. Gott war gütig mit mir; ich aber habe nie einen so strengen Gebieter gehabt, wie ich mir selbst einer gewesen bin. Und dann später in den langen Jahren meiner Reisen, Wanderungen und Jagdfahrten habe ich mich wie oft, wie oft in Lagen befunden, in denen ich auch fragen konnte: Habe ich das verdient? Aber der Ausgang ist stets so gut und glücklich gewesen, daß ich in Dankbarkeit die Hände falten und sagen mußte- Nein, das habe ich nicht verdient!«

Ich machte eine Pause. Old Surehand sah still vor sich nieder und sagte kein Wort; darum fuhr ich lebhaft fort:

»Ihr werdet Euch darüber wundern, daß ich in solchem Eifer gesprochen habe; aber wenn ich jemanden von verdient oder nicht verdient reden und über sein Schicksal murren höre, so treibt es mich, ihm gegenüber dem, was er von sich denkt, zu sagen, was ich von mir halte: Ich habe vor Gott weder Rechte noch Verdienste, sondern nur Pflichten gegen ihn; ich muß ihm täglich dafür danken, daß er mich erschaffen hat, um mich in diesem irdischen Leben für ein höheres vorzubereiten.«

»Könnte ich das auch!« seufzte er jetzt. »Ihr habt Euch durchgerungen und seid innerlich gefestigt. Mich aber treibt das Schicksal von Ort zu Ort; so habe ich auch innerlich den haltenden Anker verloren und die Heimat und bin ruhelos geworden.«

»Ihr werdet die Ruhe da finden, wo sie allein zu suchen ist; der Kirchenvater Augustinus von Tagaste mag es Euch zeigen; er sagt: Des Menschen Herz ist ruhelos, bis es ruhet in Gott! Und von dem Weltheilande sagt eines unsrer schönsten Kirchenlieder:

»Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen, Wenn ich in deiner Liebe ruh! Ich traure nicht; was kann mich quälen? Mein Licht, mein Trost, mein Heil bist du.«

»Die Ruhe, welche Ihr sucht, bleibt Euch unauffindbar außer in Gott und in der heiligen Religion. Und wenn Old Wabble vorhin in seiner sündigen Vermessenheit sagte, daß er beide nicht einmal zum Sterben brauche, so hoffe ich, daß Ihr ihn Euch nicht als Muster, sondern als abschreckendes Beispiel gelten laßt!«

»Keine Sorge, Mr. Shatterhand! Ich bin nicht ein Leugner und Verächter Gottes, sondern ich habe ihn verloren, und ringe darnach, ihn wiederzufinden.«

»Er wird Euch entgegenkommen und sich finden lassen.«

»Das hoffe ich von ganzem Herzen. Und nun laßt uns von diesem Thema abbrechen, sonst wird es mir zu viel auf einmal! Ihr seid vorhin streng mit mir verfahren, als Ihr mich an meine Nichtigkeit erinnertet; aber ich bin Euch dankbar dafür. Es ist mir, als ob ich Euch die Hände dankbar küssen müßte, denn es regt sich seit einer Viertelstunde etwas in meinem Herzen, was mich gemahnt wie eine Verheißung, daß mein Hoffen sich erfüllen werde. Ihr habt ein Licht entzündet, welches ich jetzt zwar in weiter, weiter Ferne sehe; aber rührt jetzt nicht daran, damit es nicht wieder verlösche: ich hege die Zuversicht, daß es mir immer näher kommen wird!«

Diese Worte machten mich glücklich. Sollte ich wirklich die Freude erleben, eine Seele durch meinen Fingerzeig zurechtgewiesen zu haben? Und zwar die Seele eines Mannes wie Old Surehand war! Es mußten außerordentliche und sehr traurige Verhältnisse gewesen sein, die ihn um seinen Glauben gebracht hatten. Er hielt sie geheim und sprach nicht von ihnen. Diese Verschwiegenheit war nicht etwa die Folge eines Mißtrauens gegen mich; er wollte nicht an den Wunden rühren, die wahrscheinlich noch heut in ihm bluteten. Hätte er doch gesprochen! Ich war, freilich ohne daß ich es wußte oder auch nur ahnte, in der Lage, ihm das Herz zu erleichtern und ihn auf die Spur zu bringen, nach welcher er lange, lange Zeit gesucht hatte, ohne sie entdecken zu können.

Unser Ritt nahm einen so ruhigen, ungestörten Verlauf, daß nichts über denselben zu sagen ist. Gegen Morgen hielten wir an, um unsre Pferde ausruhen zu lassen, und am späten Vormittage sahen wir links von uns die erste Stange und kamen auf die Fährte Winnetous und seiner Apatschen, zu denen Bloody-Fox nun sicher schon gestoßen war. Einen Kilometer von dieser Stelle entfernt steckte die zweite Stange, und indem wir diesen Pfählen folgten, gelangten wir sehr bald an unser Ziel.

Dieses, von den Apatschen, wie schon erwähnt, Gutesnontin-khai und von den Comantschen Suks-ma-lestavi genannt, was beides »hundert Bäume« bedeutet, lag am Rande der Wüste und war folgendermaßen beschaffen:

Die Grenze zwischen dem Llano und der westlich von ihm liegenden grünen Ebene verlief nicht in gerader Linie; sie war stellenweise sehr deutlich ausgesprochen, sonst aber kaum zu erkennen und bildete Aus- und Einbuchtungen, die bald nur klein und bald von großer Ausdehnung waren. Mit einer solchen kleinen Bucht hatte man es in Beziehung auf die »hundert Bäume« zu thun. Sie besaß die Gestalt eines Hufeisens, dessen ziemlich hoher Rand sich wie eine Böschung allmählich abwärts senkte. Im Hintergrunde entsprang ein Wasser, welches sich zunächst in einem Becken von vielleicht zwanzig Fuß Durchmesser sammelte und dann ostwärts abfloß, um nach und nach im Sande zu versiechen. Infolge der Feuchtigkeit gab es hier ein saftiges Gras, welches unsern Pferden sehr zu gute kam. Die Hufeisengestalt hob sich besonders dadurch von der Umgegend ab, daß die erwähnte Böschung bis hinauf auf ihre Höhe mit ziemlich dichtem Gebüsch bewachsen war, über welches dünnes Stangenholz zahlreich emporragte. Dieses Letztere hatte das Material zu den Pfählen geliefert, mit denen Schiba-bigk, allerdings vergeblich, bemüht gewesen war, den ihm nachfolgenden Comantschen den Weg nach der Oase des Llano zu bezeichnen. Man sah deutlich, wo er die Stangen abgeschnitten hatte, und überall lagen die Aeste und Zweige zerstreut, welche unter den Messern seiner Leute gefallen waren.

44Zoroaster.
45Confucius.