Kostenlos

In den Schluchten des Balkan

Text
Autor:
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Drittes Kapitel: In Gefahr

Nach wenigen Minuten kam ich an das eigentliche Dorf Dschnibaschlü, ritt hindurch und befand mich dann wieder zwischen Mais- und anderen Feldern, an welche sich eine Weideebene schloß, die von dem vorhin besprochenen Wald begrenzt wurde.

Die Räderspuren der großen, unbeholfenen Ochsenwagen waren deutlich zu sehen. Ich folgte ihnen in der angegebenen südwestlichen Richtung und hatte beinahe den Wald erreicht, als ich einen Reiter bemerkte, welcher von links her über die Ebene herangetrabt kam. Da ich langsamer ritt als er, hatte er mich bald erreicht.

»Allah bilindsche – Gott sei mit dir!« grüßte er.

»Müteschekürüm – ich danke dir!« grüßte ich.

Er betrachtete mich prüfend, und ich tat dasselbe mit ihm, doch geschah dies von mir nicht so auffällig, wie von ihm. Es war nichts Besonderes an ihm zu bemerken. Sein Pferd war schlecht, seine Kleidung war schlecht, und sein Gesicht machte keinen viel besseren Eindruck. Nur die Pistolen und das Messer, welche in seinem Gürtel staken, schienen gut zu sein.

»Woher kommst du?« fragte er.

»Von Dschnibaschlü,« antwortete ich bereitwillig.

»Und wohin reitest du?«

»Nach Kabatsch.«

»Ich auch. Ist dir der Weg bekannt?«

»Ich hoffe, ihn zu finden.«

»Du hoffst es? So bist du fremd?«

»Ja.«

»Darf ich dein Gefährte sein? Wenn du es mir erlaubst, so kannst du dich nicht verirren.«

Er machte keinen angenehmen Eindruck auf mich; aber dies war kein Grund, ihn zu beleidigen. Er konnte trotzdem ein braver Mensch sein. Und selbst wenn das Gegenteil der Fall war, konnte es mir nichts nützen, ihn von mir zu weisen. Ich hätte höchstens seinen Zorn oder gar seine Rachsucht herausgefordert. Und er sah mir ganz so aus, als ob er in einem solchen Falle geneigt sein würde, mich von der Güte seiner Waffen zu überzeugen; darum antwortete ich:

»Du bist sehr freundlich. Bleiben wir beisammen!«

Er nickte befriedigt und lenkte sein Pferd an die Seite des meinigen.

Eine Weile ritten wir schweigend nebeneinander her. Er betrachtete mit sichtlichem Interesse meinen Rappen und meine Waffen. Dabei war es mir, als ob sein Blick zuweilen besorgt die Umgebung mustere. Gab es hier vielleicht etwas zu befürchten? Ich hielt es für angezeigt, keine Frage auszusprechen. Später freilich erfuhr ich den Grund dieser besorgten Blicke.

»Reitest du von Kabatsch dann weiter?« fragte er mich nun in freundlichem Tone.

»Nein.«

»So besuchest du dort jemand?«

»Ja.«

»Darf ich wissen, wen? Du bist ja fremd, und vielleicht kann ich dir seine Wohnung zeigen.«

»Ich reite zu Ali, dem Sahaf.«

»O, den kenne ich! Wir kommen an seinem Hause vorüber. Ich werde dich aufmerksam machen.«

Wieder stockte das Gespräch. Ich fühlte keine Lust, auf eine Unterhaltung einzugehen, und er schien sich ganz in derselben Stimmung zu befinden. So legten wir eine große Strecke zurück, ohne daß ein weiteres Wort gefallen wäre.

Der Weg zog sich zwischen den Bäumen des Waldes mehr und mehr bergan. Wir erreichten die von dem Bäcker erwähnte Höhe und auch die Stelle, an welcher die Räderspuren sich nach Süden wendeten. Doch war zu bemerken, daß Leute auch nach Westen geritten seien. Dieser letzteren Richtung folgten wir, und dann zeigte sich auch bald der Bach, von welchem die Rede gewesen war.

Nach kurzer Zeit erreichten wir eine kleine Lichtung, an deren Rand ich eine niedrige, länglich gebaute Hütte gewahrte. Sie war ganz roh aus Steinen errichtet und schindelähnlich mit gespaltenem Holz gedeckt. Ich bemerkte eine niedrige Türe und eine kleine Fensteröffnung. Im Dache befand sich eine Oeffnung, welche jedenfalls den Zweck hatte, den Rauch abziehen zu lassen. Mächtige Eichen streckten ihre knorrigen Zweige über dieses urwüchsige Bauwerk aus, welches den Eindruck eines traurigen Verlassenseins machte.

Wie nur so nebenbei, deutete mein Begleiter nach der Hütte hinüber und sagte:

»Dort wohnt ein Bettler.«

Er machte keine Miene, sein Pferd anzuhalten. Dieser Umstand ließ den Argwohn, welchen ich gehegt hatte, in mir verschwinden. Ich hielt meinen Rappen an und fragte:

»Wie heißt dieser Bettler?«

»Saban.«

»Ist er nicht Besenbinder gewesen?«

»Ja.«

»So muß ich auf einen Augenblick zu ihm hin. Ich habe ihm eine Gabe zu überbringen.«

»Tue es! Er kann es brauchen. Ich reite einstweilen langsam weiter, immer am Bache dahin. Du kannst mich, wenn du mir dann folgst, gar nicht verfehlen.«

Er ritt wirklich weiter. Wäre er gleichfalls abgestiegen, so hätte mich dies veranlaßt, meine Vorsicht zu verdoppeln. Jetzt fühlte ich mich beruhigt. Ich ritt also zu der Hütte hin und einmal um sie herum, um zu sehen, ob sich vielleicht jemand in der Nähe befände.

Die Eichen und Buchen standen, obgleich sich ihre Aeste berührten, so weit auseinander, daß ich zwischen den mächtigen Stämmen hindurch tief in den Wald hineinzublicken vermochte. Ich fand nicht die Spur eines menschlichen Wesens.

Fast schämte ich mich, Argwohn gehegt zu haben. Ein armer, kranker Bettler – was konnte er mir tun! Einen Hinterhalt gab es nicht, wenigstens nicht in der Umgebung der Hütte; davon glaubte ich, überzeugt sein zu dürfen. Hatte ich ja noch Grund zu Befürchtungen, so konnte die Veranlassung dazu nur im Innern des armseligen Bauwerkes zu suchen sein und da war es nicht schwer, der Gefahr zu entgehen.

Ich stieg vor der größeren Oeffnung, in welcher sich gar keine Türe befand, vom Pferde, band es aber nicht an, um nötigenfalls sofort aufsitzen und davonreiten zu können. Den Revolver schußfertig in der Hand, so trat ich langsam ein.

Die Vorsicht weiter zu treiben, schien gar nicht möglich zu sein, und – sie war auch gar nicht nötig, wie ich mich beim ersten Blick überzeugte.

Das Innere der Hütte bildete einen einzigen Raum, welcher so niedrig war, daß ich mit dem Kopfe fast an die Decke stieß. Ich sah einen geschwärzten Stein, welcher jedenfalls als Herd diente, mehrere entfleischte Ochsen- und Pferdeköpfe, welche wohl die Sessel bildeten, und in der linken hinteren Ecke ein aus Laub bestehendes Lager, auf welchem eine bewegungslose menschliche Gestalt lag. Daneben auf der Erde ein Topf, eine zerbrochene Flasche, ein Messer und einige andere, armselige Kleinigkeiten – das war alles, was die Hütte enthielt. Was sollte hier für mich zu befürchten sein?

Ich holte das Paket herein und näherte mich mit demselben dem Lager. Der Mann rührte sich noch immer nicht.

»Güniz chajir ola – guten Tag!« grüßte ich laut.

Da drehte er sich langsam zu mir herum, starrte mich an, als ob ich ihn aus dem Schlafe geweckt hätte, und fragte:

»Ne istersiz sultanum – was befehlen Sie, mein Herr?«

»Ad-in Saban – dein Name ist Saban?«

»Basch üstüne sultanum – zu Befehl, mein Herr!«

»Bojadschyjü Boschak tanimar-sen – kennst du den Färber Boschak?«

Da richtete er sich erfreut in sitzende Stellung empor und antwortete:

»Pek ei Sultanum – sehr wohl, mein Herr!«

Dieser Mensch sah wirklich sehr krank und elend aus. Er trug nur Lumpen auf dem Leib und schien ein fleischloses Gerippe zu sein. Seine Augen waren begierig auf das Paket gerichtet, welches ich in der Hand hielt.

»Er sendet dir Wein und Backwaren.«

Bei diesen Worten kniete ich mitleidig an seinem Lager nieder, um das mit Bast umwickelte Paket zu öffnen.

»O Herr, o Herr, wie gut du bist! Ich habe Hunger!«

Seine Augen waren flammend auf mich gerichtet. War das wirklich Hunger, oder war es etwas anderes, für mich gefährliches? Ich hatte keine Zeit, diesen Gedanken auszudenken. Hinter mir gab es ein Geräusch. Ich wendete den Kopf. Zwei, vier, fünf Männer drängten sich durch die Türöffnung. Der vorderste hatte die Flinte verkehrt, wie zum Schlage, in der Hand. Er sprang auf mich zu.

Ich riß den Revolver heraus und – schnellte empor? – Nein, ich wollte mich emporschnellen; da warfen sich die langen, dürren Arme des Bettlers wie die Fänge eines Meerpolypen um meinen Hals und rissen mich wieder nieder. Ich weiß nur noch, daß ich den Lauf des Revolvers schnell nach dem Kopf des verräterischen Alten richtete und losdrückte – zielen aber konnte ich nicht. Dann erhielt ich von hinten einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf. – —

Ich war gestorben; ich besaß keinen Körper mehr; ich war nur Seele, nur Geist. Ich flog durch ein Feuer, dessen Glut mich verzehren wollte, dann durch donnernde Wogen, deren Kälte mich erstarrte, durch unendliche Wolken- und Nebelschichten, hoch über der Erde, mit rasender, entsetzlicher Schnelligkeit. Dann fühlte ich nur, daß ich überhaupt flog, grad so, wie der Mond um die Erde wirbelt, ohne einen Gedanken, einen Willen zu haben. Es war eine unbeschreibliche Leere um mich und in mir. Nach und nach verminderte sich die Schnelligkeit. Ich fühlte nicht nur, sondern ich dachte auch. Aber was dachte ich? Unendlich dummes, ganz und gar unmögliches Zeug. Sprechen aber konnte ich nicht, so sehr ich mich auch anstrengte, einen Laut von mir zu geben.– — – —

Nach und nach kam Ordnung in das Denken. Mein Name fiel mir ein, mein Stand, mein Alter, in welchem ich gestorben war; aber wo und wie ich den Tod gefunden hatte, das war mir nicht bekannt. – — – —

Ich sank nach und nach tiefer. Ich wirbelte nicht mehr um die Erde, sondern ich näherte mich ihr wie eine leichte Feder, welche langsam, immer hin und her gehaucht, von einem Turme fällt. Und je tiefer ich sank, desto mehr vergrößerte sich die Erinnerung an mein nun beendetes irdisches Dasein. Personen und Erlebnisse fielen mir ein, mehr und mehr. Es wurde klarer in mir, immer klarer. Ich erinnerte mich, daß ich zuletzt eine weite Reise unternommen hatte; es fiel mir langsam ein, durch welche Länder – zuletzt war ich in Stambul gewesen, in Edreneh, hatte nach Hause gewollt und war unterwegs in einer steinernen Hütte auf einer Vorhöhe des Planinagebirges erschlagen worden. Die Mörder hatten mich dann gefesselt, trotzdem ich eine Leiche war, und mich auf das Lager geworfen, auf welchem vorher der Bettler gelegen hatte, und sich nachher um den Herd gesetzt und ein Feuer angezündet, über welchem irgend etwas gebraten werden sollte. – — – —

 

Ich war gestorben gewesen und hatte dies doch bemerkt. Ich hatte sogar die Stimmen der Mörder gehört, ja, ich hörte sie noch, indem ich jetzt wieder zur Erde niedersank, deutlicher und immer deutlicher, je mehr ich mich ihr näherte. – — – —

Und wunderbar! Ich sank durch das Dach der Hütte, auf das Laub des stinkenden Lagers, und da saßen sie noch, die Mörder. Ich hörte sie sprechen; ich roch den Duft von Fleisch, welches sie über dem Feuer brieten. Ich wollte sie auch sehen, aber ich konnte die Augen nicht öffnen und konnte mich auch nicht bewegen. – — – —

War ich denn wirklich nur Seele, nur Geist? Da oben, wo ich früher den Kopf gehabt hatte, am hintern Teile desselben, brannte und schmerzte es wie eine ganze Hölle. Es war mir jetzt, als ob ich diesen Kopf noch besäße; aber er war zehnmal, hundertmal, tausendmal größer als früher und umfaßte die unterirdische Flammensee des Erdinnern, auf deren Inseln Vulkan mit Millionen von Kyklopen hämmert und schmiedet. ....

Erst fühlte ich nur diesen Kopf; bald aber bemerkte ich, daß ich auch noch den Leib, die Arme, die Beine besaß. Doch rühren konnte ich kein Glied. Aber mit der größten Deutlichkeit hörte ich jedes Wort, welches dort am Feuer gesprochen wurde. Ich vernahm sogar den Hufschlag einiger Pferde. Zwei Reiter stiegen draußen ab.

»Kalyndschi gelir – der Dicke kommt!« sagte einer.

War das nicht die Stimme des Kerls, mit dem ich bis zur Hütte geritten war? Wie kam er hierher? Er war ja weiter geritten!

»We bir ikindschi – und noch einer!« sagte eine andere Stimme.

»Kim-dir – wer ist‘s?«

»Jahu, bre Silahdschi Deselim Ismilandan – hallo, der Waffenschmied Deselim aus Ismilan!«

Ich hörte, daß die Insassen der Hütte hinauseilten und die beiden Angekommenen unter lebhaften Freudenrufen begrüßten.

»Achmaki tut-diniz – habt ihr den Dummkopf gefangen?« fragte draußen eine fette Stimme.

Ich kannte sie; es war diejenige des dicken Färber-Bäckers aus Dschnibaschlü. Was denn? Meinte er mit diesem Dummkopf etwa mich? Könnte ich diesen Menschen so ein wenig zwischen meine Hände bekommen, ich würde ihn – — – ah, ich konnte jetzt plötzlich die Finger zur Faust ballen! Was doch der Aerger vermag!

»Ewwet, aldat-dik onu – ja, wir haben ihn übertölpelt.«

Diese Worte sagte der Bettler. Meine Kugel hatte ihn also nicht getroffen.

»Gene nerde dir – wo ist die Schaflaus?«

Das war stark! Wenn der Deutsche in handgreiflichster Weise einen recht dummen Menschen bezeichnen will, so nennt er ihn einen Schafskopf. Der Türke bedient sich zuweilen des Wortes Kojundschi, welches ungefähr Schafskerl bedeutet. Mich aber hielt der gegenwärtige Sprecher für so unendlich albern, daß das Wort Kojundschi noch eine unverdiente Ehre für mich gewesen wäre. Er nannte mich also Gene, das ist Schaflaus?

Es kribbelte mir in den Händen, und siehe da: ich konnte jetzt zwei Fäuste machen anstatt, wie vorhin, nur eine. Es war mir ganz so, als ob ich noch lebe und gar nicht gestorben sei. Wenigstens war der Wunsch, den ich hatte, ein sehr irdischer; er bezog sich auf die keineswegs übersinnliche Tätigkeit, welche der Türke mit den drei gleichbedeutenden Wörtern döjmek, wurmak und dajak jedirmek, der Deutsche aber mit dem liebenswürdigen Ausdruck »prügeln« bezeichnet.

Wie kam es nur, daß mein Kopf jetzt nicht mehr so brannte und schmerzte? Auch schien seine vorhin beschriebene Ausdehnung außerordentlich abgenommen zu haben.

»Kulibede dir – er ist in der Hütte,« antwortete der Bettler.

»Zindschirde-a – doch gefesselt?« fragte der Mann, welcher mich Schaflaus genannt hatte und dessen Stimme ich nicht kannte.

»Ewwet, andschak dejil la iladsch – ja, aber nicht notwendigerweise.«

»Nitschün – warum?«

»Tschünki dir müteweffa – weil er tot ist.«

Die Stimmen sanken zu einem Gemurmel hernieder. Erst nach einiger Zeit hörte ich wieder den lauten Befehl:

»Onu bana giösteryn – zeigt ihn mir!«

Sie kamen herein in die Hütte, und der Bettler sagte:

»Bunda jatar – hier liegt er.«

Eine Hand legte sich auf mein Gesicht und blieb da eine Weile prüfend liegen; sie roch wie Schusterpech und saure Milch.

Also ich hatte den Geruchssinn nicht verloren. Ich war am Ende doch nicht tot! Dann sagte der Besitzer der Hand:

»Sowuk ölümin gibi – kalt wie der Tod!«

»Ona namzyna hak – befühl‘ ihm den Puls!« hörte ich den dicken Bäcker sagen.

Die Pech- und Milchhand glitt von meinem Gesicht hinweg und faßte mich am Handgelenk. Der Daumen legte sich prüfend auf den oberen Teil des Gelenkes, wo von einer Pulsader kaum was zu fühlen ist. Dann sagte der Mann nach einer Pause allgemeiner Spannung:

»Onun jok damar woruschu – er hat keinen Pulsschlag.«

»El ile dokan jüreksijy – befühle sein Herz!«

Im nächsten Augenblick fühlte ich die Hand auf meiner Brust. Es schien gar nicht nötig gewesen zu sein, einen Knopf zu öffnen. War Jacke und Weste bereits geöffnet gewesen? Oder hatten mich die guten Menschen vielleicht von diesen Kleidungsstücken befreit?

Ich hätte mich gern davon überzeugt; aber ich konnte die Augen nicht öffnen, und selbst wenn ich dies vermocht hätte, so wäre es mir jetzt nicht eingefallen, es zu tun.

Die Hand hatte mir nur einen Augenblick lang auf dem Herzen gelegen; dann glitt sie nach der Magengegend und blieb dort ruhen. Hierauf erklärte das Orakel:

»Gönnülü sessini tschikarmar – sein Herz schweigt still.«

»Dir ölmüsch onun itschün – folglich ist er tot!« erklang es rund im Kreise.

»Kim onu öldürmisch – wer hat ihn getötet?« fragte der Mann, dessen Stimme ich nicht kannte.

»Ben – ich!« erklang es kurz.

»Nassyl – wie?«

»Tepelemisch onu – ich habe ihn erschlagen.«

Dies sagte der Mann im Tone einer Genugtuung, welche mir die beruhigende Ueberzeugung brachte, daß mein Blut in Bewegung sei. Ich fühlte es nach den Schläfen steigen. Wer noch Blut hat, das sich in den Adern bewegt, der kann nicht tot sein. Ich lebte also noch; ich lag in Wirklichkeit auf dem Laubhaufen und war also nur besinnungslos gewesen.

Der dicke Bäcker schien doch noch einige Besorgnis zu hegen. Er wollte kein Mittel, sich von meinem Tod zu überzeugen, unversucht lassen; darum fragte er:

»Soluk malik olmar – hat er Atem?«

»Kulak asar-im – ich will horchen!«

Ich fühlte, daß sich jemand zu mir niederlegte. Dann rieb sich eine Nase an der meinigen. Ich bekam einen Duft von Knoblauch, Tabakschmirgel und faulen Eiern zu genießen; dann erklärte der Betreffende:

»Onun jok nefes – er hat keine Luft.«

»Sabuscha-lum – entfernen wir uns!«

Dieser Befehl befreite mich endlich von der Sorge, daß man doch noch Leben in mir verspüren werde. Aber wäre es nicht vielleicht besser gewesen, wenn sie bemerkt hätten, daß ich nicht tot sei? Ich befand mich nicht im Gebrauch meiner Glieder, dafür aber in der fürchterlichen Gefahr, lebendig verscharrt zu werden.

Es befiel mich Angst. Ich fühlte, daß es mich erst eiskalt und dann glühend heiß überlief. Ich begann zu schwitzen. Die Leute hatten sich an das Feuer gesetzt. Sie verhielten sich schweigend. Vielleicht waren sie zunächst mit dem Fleisch beschäftigt, dessen Duft bis zu mir drang.

Meine Lage war hoffnungslos. Der Schlag mit dem Kolben hatte meinen Hinterkopf getroffen. Ich bin weder Anatom noch Patholog; ich weiß die möglichen Wirkungen eines solchen Krafthiebes nicht aufzuzählen. Ich besaß Gehör und Geruch; vielleicht auch Gesicht und Geschmack; aber daß die Bewegungsnerven versagten, das schrieb ich diesem Hieb zu. Würden sie ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, und zwar so schnell, wie es in meiner Lage notwendig war?

Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, wozu ich bei meiner robusten Körperbeschaffenheit doch Hoffnung hatte, blieb mir sehr wenig Aussicht, mich dem mir drohenden Schicksale zu entziehen. Ja, wenn meine Gefährten in der Nähe gewesen wären! Wenn wenigstens mein braver Halef eine Ahnung von der mir drohenden Gefahr gehabt hätte! Aber dies war doch nicht der Fall.

Es überkam mich ein Gefühl, von welchem ich nicht weiß, ob es Mut oder Verzweiflung zu nennen ist; vielleicht ist das erstere richtig, denn ich habe stets gewußt, daß Gott auch dann, wenn die Uhr zum zwölften Stundenschlag ausholt, noch helfen kann. Ich ballte die Fäuste; ich preßte den Atem in die Lungen zurück, als ob ich mich freiwillig ersticken wolle; ich spannte alle Fasern an, die ich überhaupt in der Gewalt hatte, und da – da ging es wie ein gewaltiger Ruck durch meinen Körper: ich konnte die Arme bewegen, die Beine, den Nacken und – Gott sei Dank! – auch die Augenlider.

Zwar hütete ich mich sehr, dies merken zu lassen; aber ich prüfte nach und nach alle Glieder durch. Es ging nicht leicht; der Kopf war wie zerschlagen. Ich mußte mich wirklich anstrengen, um logisch zu denken, und in den Extremitäten hatte ich das Gefühl, als seien sie mit Blei angefüllt; aber ich hoffte doch, mich gegebenen Falles erheben und einigermaßen verteidigen zu können. Vielleicht wich die Lähmung schneller noch, als es jetzt den Anschein hatte. Und sodann vertraute ich dem Einflusse des Augenblickes und der Wirkung, welche ein fester Wille auf den ungehorsamen Körper auszuüben pflegt. So viel wenigstens stand fest, daß ich mich nicht lebendig begraben lassen würde.

Ich blieb lang ausgestreckt liegen und schielte hinüber nach dem Feuer, welches auf dem Steine brannte. Dort saßen acht Männer, welche mit ihren Messern das Fleisch von den Knochen eines Schafes lösten und in großen Stücken zwischen die Zähne steckten. Unter ihnen befand sich der dicke Bäcker, der liebenswürdige Bettler und der ehrenwerte Urian, welcher sich mir als Führer nach Kabatsch angeboten hatte.

So also hatte der Bäcker es gemeint, als er schwor, daß wir uns wiedersehen würden! Freilich hatte er wohl nicht gemeint, daß man mich erschlagen würde. Warte, du Fleischkloß, ich hoffe, es dir »schlagend« beweisen zu können, daß ich noch am Leben bin!

Und mein famoser Führer hatte sich vortrefflich zu verstellen gewußt! Warum hatte er doch nur so besorgt zwischen die Bäume geblickt? Ah, da ging mir ein Licht auf! Als ich mich wartend hinter dem Hause des Färbers befand, hatte sich der Geselle entfernt. Er war von seinem Herrn ausgesandt worden, um die hier anwesenden Gentlemen zusammenzutrommeln und den Bettler von meinem Kommen zu benachrichtigen. Mein Führer hatte mich im Felde erwartet und dann befürchtet, daß wir dem Boten oder einem der sauberen Herren begegnen könnten, in welchem Falle ich ja leicht Verdacht schöpfen konnte. Der Färber-Bäcker hatte nur aus schlauer Berechnung mich mit dem Auftrage an den Bettler betraut. So war es und nicht anders!

Und nun war er mit dem Waffenschmied und Kaffeewirt Deselim aus Ismilan hier. Er hatte diesen für heute oder morgen erwartet, und dieser gute Mann, der Schwager des »Schut«, war just zur richtigen Minute gekommen, um sich durch die Bemächtigung meiner Person aus der ihm drohenden Gefahr zu befreien.

Wie sollte ich ihnen entkommen? Acht gegen Einen! Und dieser Eine war gefesselt und gelähmt! Das Fensterloch war zu klein; kein Mensch konnte hindurch kriechen.

Vorn in der Ecke lagen meine Waffen. Man hatte sie mir abgenommen und alles andere, was ich bei mir trug, natürlich dazu. Ich lag in Hemd und Hose auf dem Laubhaufen.

Jetzt prüfte ich behutsam die Fesseln. Sie bestanden aus Riemen und waren fest. Hier war nichts zu tun. Bei größerer Anstrengung hätten sie mir doch nur die Haut zerschnitten. Ich sann und grübelte, um einen Rettungsgedanken zu finden – vergebens. Es gab nur eine Hoffnung, und diese war nicht viel wert: ich mußte mich tot stellen. Jedenfalls schafften sie mich in den Wald, um mich einzuscharren. Vielleicht kamen sie da auf die Idee, die Riemen zurückzubehalten, die doch immerhin einen Wert hatten, wenn auch nur einen ganz geringen. Dann befand ich mich im freien Besitze meiner Glieder.

Vielleicht gönnten sie dem Grabe die beiden Stücke nicht, mit denen ich noch bekleidet war. Wollten sie mir auch diese ausziehen, so mußten sie vorher die Fesseln entfernen. Auch in diesem Falle hatte ich wenigstens die Hoffnung, wenn auch nicht loszukommen, so doch nicht ohne Widerstand an diesem Orte meine irdische Wanderung zu beenden. Es blieb mir also nur übrig, in Geduld zu warten, was da kommen werde. Sicherlich blieben diese Menschen nicht ewig stumm. Ein Gespräch zwischen ihnen konnte einen brauchbaren Wink für mich enthalten.

 

Und eben jetzt legte jener Mann, dessen Stimme mir unbekannt gewesen war und den ich für den Waffenschmied aus Ismilan hielt, den letzten Knochen weg. Er wischte sich das Messer an seiner Hose ab, steckte es in den Gürtel und sagte:

»So! Jetzt haben wir gegessen, und nun können wir auch reden. Ich werde den Schöps bezahlen. Was hat er gekostet?«

»Nichts,« antwortete der Bettler. »Ich habe ihn gestohlen.« »Desto besser. Der Tag fängt also sehr billig an. Ich komme, um euch lohnende Arbeit zu geben, und unterdessen habt ihr eine andere vollbracht, welche vielleicht noch lohnender ist. Ich weiß noch nicht genau, wie es eigentlich zugegangen ist. Ich kam zu Boschak, als er im Begriff war, aufzubrechen, und wir sind so schnell geritten, daß er unterwegs nicht sprechen konnte.«

»Allah ‚l Allah! Ich bin in meinem Leben noch nicht so geritten!« klagte selbst jetzt der Dicke. »Ich fühle nicht, ob ich noch am Leben bin.«

»Du lebst, Freund! Aber, konntest du nicht eher aufbrechen?«

»Nein. Ich habe nur das eine Reittier, und der Bote, den es fortgetragen hatte, kam so spät zurück.«

»Also nun – wer ist dieser Fremde gewesen?«

»Ein Christ aus dem Frankenlande.«

»Allah verderbe seine Seele, wie ihr seinen Körper getötet habt! – Wie kam er zu dir?«

»Er hatte mein Weib unterwegs getroffen und nach mir gefragt. Er wußte alle unsere Geheimnisse und wollte mich bestrafen lassen, wenn ich meine Tochter nicht dem Sahaf zum Weibe gebe.«

»Sie gehört Mosklan, unserem Verbündeten. Wer aber hat diesen Fremdling eingeweiht?«

»Ich weiß es nicht, er schwieg darüber. Er sprach von Mosklan, vom Schut, von allen; er kannte unser Dorngestrüpp im Felde und zwang mich mit seiner Drohung, ihm meine Einwilligung zu geben.«

»Du aber hältst es nicht!«

»Einem Gläubigen halte ich mein Wort; aber er ist ein Christ. Geht nach Stambul und sprecht mit den Ungläubigen. Es gibt dort viele russische Christen, welche sagen, daß niemand sein Wort zu halten brauche, der während des Versprechens im stillen zu sich gesagt hat, daß er es brechen werde. Warum soll ich an ihnen nicht das tun dürfen, was sie lehren und untereinander auch tun?«

»Du hast recht.«

»Ich schickte also heimlich meinen Knecht an Saban und die Freunde hier und ließ ihnen sagen, was geschehen solle. Saban mußte sich krank stellen; Murad erwartete den Fremdling, um ihn sicher hierher zu bringen, und die andern versteckten sich hinter die dicken Stämme des Waldes, um dann nach ihm in die Hütte zu treten. Das ist‘s, was ich weiß; laß dir das weitere von ihnen erzählen.«

»Nun, Saban, wie ist es dann gekommen?« fragte der Waffenschmied.

»Sehr gut und sehr leicht,« antwortete der Bettler. »Der Fremde kam mit Murad, welcher sich den Anschein gab, als ob er weiter reiten wolle, und stieg ab. Ich beobachtete es durch das Fenster und legte mich sodann rasch auf das Lager.

Der Fremde trat herein und brachte mir, was der Bäcker ihm für mich gegeben hatte.«

»Den Wein gibst du mir aber wieder!« warf der Erwähnte ein. »Ich sandte ihn dir nur zum Scheine und habe nur diese eine Flasche. Das Gebäcke aber kannst du behalten.«

»Was! Wein hast du ihm geschickt?« fragte der Ismilaner.

»Ja.«

»Den bekommst du nicht wieder!«

»Warum?«

»Weil wir ihn trinken werden.«

»Wie könnt ihr ihn trinken? Ihr seid gläubige Söhne des Islam, und der Prophet hat den Wein verboten.«

»Nein, er hat ihn nicht verboten. Er hat nur gesagt: »Alles, was trunken macht, sei verflucht!« Diese eine Flasche Wein aber wird uns nicht betrunken machen.«

»Sie ist mein Eigentum!«

Der Ton, in welchem er sprach, zeigte, daß der Dicke die feste Absicht hatte, seinen Wein zu retten; da aber bemerkte der Bettler lachend:

»Streitet euch nicht über die Gebote des Propheten. Der Wein kann nicht getrunken werden.«

»Warum?« fragte der frühere Besitzer des umstrittenen Gegenstandes.

»Weil er bereits getrunken ist.«

»Mensch, was fällt dir ein! Wer gab dir das Recht dazu?« rief der Bäcker.

»Du selbst. Du hast ihn ganz ausdrücklich mir gesandt. Ich habe ihn mit den Gefährten geteilt. Wärst du eher gekommen, so hättest du mittrinken können. Dort liegt die Flasche, nimm sie mit und rieche daran, wenn deine Seele sich nach ihr sehnt!«

»Sei ein Erbe des Teufels, du Spitzbube! Niemals im Leben wirst du wieder eine Gabe von mir erhalten.«

»Ich brauche sie ja auch nicht, obgleich ich für einen Bettler gelte; das weißt du so gut wie ich.«

»Jetzt fort mit dem Streite!« befahl der Waffenschmied. »Erzähle weiter, Saban!«

Der Genannte kam der Aufforderung nach. Er sagte:

»Der Fremde mochte glauben, daß ich schlafe. Er trat zu mir und grüßte so laut, daß ich tat, als ob ich erwache. Er

fragte, ob ich Saban heiße und den Färber Boschak kenne, welcher mir hier diese Gabe sende. Er kniete neben mir nieder, um das Päckchen zu öffnen, welches die Gaben Boschaks enthielt. Da sah ich die Gefährten, welche leise eingetreten waren. Ich faßte ihn schnell, zog ihn zu mir nieder, und er bekam den Kolbenschlag, welcher ihn sofort tötete. Wir haben ihn entkleidet, und nun können wir alles teilen, was er bei sich trug.«

»Ob wir sein Eigentum teilen, das steht noch sehr in Frage. Welche Gegenstände hatte er bei sich?«

Es wurde alles genannt. Man vergaß nicht die geringste Kleinigkeit. Selbst die Stecknadeln, von denen ich ein kleines Päckchen bei mir gehabt hatte, wurden gezählt. Für diese Gegend waren sie beinahe eine Seltenheit und bildeten infolgedessen eine ganz schätzbare Erwerbung.

Durch die nur ein klein wenig geöffneten Augenlider sah ich, daß der Waffenschmied aus Ismilan meine Büchse betrachtete.

»Dieses Gewehr ist nicht zehn Para wert,« sagte er. »Wer soll es tragen? Es ist schwerer als fünf lange türkische Flinten, und es gibt hier bei uns nicht so große Patronen, wie sie zur Ladung erforderlich sind. Es ist ein alter Feuerspeier aus der Zeit vor zweihundert Jahren.«

Der gute Mann hatte eben noch keinen Bärentöter in der Hand gehabt. Noch mehr aber schüttelte er den Kopf, als ihm nun auch der Henrystutzen gereicht wurde. Er drehte ihn nach allen Seiten, tastete und probierte eine Weile an ihm herum und gab dann unter einem verächtlichen Lächeln sein Gutachten ab:

»Dieser Fremdling muß Ratten im Kopfe gehabt haben. Dieses Gewehr ist nichts als ein Spielzeug für Knaben, welche das Exerzieren lernen sollen. Man kann es nicht laden; man kann damit gar nicht schießen. Hier ist der Schaft und da der Kolben, dazwischen eine eiserne Kugel mit vielen Löchern. Wozu soll die Kugel sein? Etwa um die Patronen aufzunehmen? Man kann sie nicht drehen! Wo ist der Hahn? Der Drücker läßt sich nicht bewegen. Wenn der Mensch noch lebte, würde ich ihn auffordern, einen Schuß zu tun. Er könnte es nicht und müßte sich schämen!«

So wurde ein jeder Gegenstand besprochen, und es kamen da Urteile zum Vorscheine, welche mich zum Lachen gebracht hätten, wenn dies mit meiner Lage zu vereinbaren gewesen wäre. Eben wollte der Ismilaner sich vom Boden erheben, um sich auch mein Pferd zu betrachten, als ich den Hufschlag eines sich langsam nähernden Rosses vernahm. Auch die Männer hörten es, und der Bettler trat vor die Türe.

»Wer kommt da?« fragte der Ismilaner.

»Ein Fremder,« antwortete der Gefragte. »Ein kleiner Kerl, den ich noch nie gesehen habe.«

Und da hörte ich auch bereits den Gruß:

»Neharak mubarak – Dein Tag sei gesegnet!«

»Neharak sa‘id – Dein Tag sei beglückt! Wer bist du?«

»Ein Reisender aus der Ferne.«

»Woher kommst du?«

»Aus Assemnat.«

»Und wohin willst du?«

»Nach Gümürdschina, wenn du es erlaubst.«

»Du bist sehr höflich, denn du bedarfst meiner Erlaubnis ja gar nicht.«

»Ich bin höflich, weil ich wünsche, daß auch du es seist. Ich möchte eine Bitte an dich richten.«

»Sprich sie aus!«

»Ich bin ermüdet und sehr hungrig. Erlaubst du mir, in dieser Hütte auszuruhen und meine Mahlzeit bei dir zu verzehren?«

»Ich habe keine Speise für dich; ich bin arm.«

»Ich habe Brot und Fleisch bei mir, und du sollst auch davon haben. Es reicht für uns beide.«