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In den Schluchten des Balkan

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»Wenn sie aber bis dahin das Geld verbrauchen?«

»So ist es Allahs Wille gewesen, und kein kluger Mensch wird dagegen Einwendungen erheben.«

Ich hatte während meiner ganzen Unterredung mit ihm bemerkt, daß unser Wirt innerlich aufgeregt war. Er hatte die feste Ueberzeugung gehegt, der ganze vorhandene lebendige Polizeiapparat befinde sich auf den Beinen, um ihm wieder zu dem verlorenen Geld zu verhelfen. Nun aber mußte er zu seinem Erstaunen hier sehen und erfahren, daß nur ein einziger Kawaß unterrichtet worden war. Und dieser einzige hatte sogar eine Frist von mehreren Tagen erhalten, nicht etwa um die Diebe herbeizuschaffen, sondern um über die Angelegenheit – nachzudenken.

Nun hatte dieser Eine sich in die Einsamkeit begeben und führte ein durch seinen Tschibuk versüßtes idyllisches Dasein. Er rannte, wie er sich behaglich ausdrückte, in Gedanken hinter den Dieben her.

Das war dem Bestohlenen zu viel. Er hatte sich mehrere Male an dem Gespräch beteiligen wollen, war aber durch meine bittenden Blicke und Winke daran verhindert worden. Jetzt konnte er jedoch seinen Zorn nicht länger meistern. Er sprang vom Pferd, trat zu dem noch immer am Boden liegenden und an seiner Pfeife saugenden Kawassen und rief:

»Was sagst du? Allah hat es gewollt?«

»Ja,« antwortete der Gefragte ahnungslos.

»Daß das Geld verbraucht werde?«

»Wenn es verschwindet, so hat er es gewollt.«

»So! Schön! Prächtig! Das ist ja herrlich! Weißt du denn, wo es gestohlen wurde?«

»In Dabila, glaube ich.«

»Das glaube ich auch. Und bei wem?«

»Bei einem Mann, welcher Ibarek heißt.«

»Kennst du ihn?«

»Nein.«

»So sollst du ihn kennen lernen!«

»Natürlich! Wenn ich ihm die Diebe bringe.«

»Nein! Gleich sofort sollst du ihn kennen lernen! Schau mich an! Wer mag ich sein?«

»Das ist mir ganz gleichgültig. Und was geht dich denn diese Sache an?«

»Viel, sogar sehr viel! Ich heiße Ibarek. Ich bin der Mann, welcher bestohlen worden ist!«

»Du?« fragte der Kawaß erstaunt, ohne sich nur um einen Zoll vom Platz zu rühren.

»Ja, ich!«

»Das ist gut! Das freut mich! Ich habe dir etwas sehr Wichtiges zu sagen.«

»Was denn?«

»Tue in Zukunft dein Geld niemals dahin, wo Diebe es finden können.«

»Maschallah! Welch ein Mann! Welch ein Mensch! Effendi, was sagst du dazu? Was soll ich tun?«

Diese zornige Frage wurde an mich gerichtet. Aber ich kam gar nicht zu einer Antwort. Mein kleiner Halef hatte sich nicht wenig über das Betragen und den Gleichmut des Polizisten geärgert. So wenig ihn die Sache persönlich anging, so war er doch ein zu cholerischer Mensch, als daß er hätte ruhig zusehen können. Er war schon lange im Sattel hin und her gerückt. Jetzt aber schwang er sich heraus und herab und antwortete statt meiner:

»Was du tun sollst? Das werde ich dir gleich zeigen!«

Und hart an den Kawaß herantretend, schrie er ihn wütend an:

»Weißt du, wie man sich gegen einen fremden, vornehmen Effendi und seine Begleiter benimmt?«

»Das weiß ich ganz genau. Warum brüllst du mich so an?«

»Weil du es eben nicht weißt, und weil ich es dir zeigen will. Augenblicklich stehst du auf!«

Er sagte das in gebieterischem Ton. Das Sicherheitsorgan lächelte ihm verächtlich entgegen, schüttelte den Kopf und antwortete:

»Was sagst du, kleiner Mann?«

Das war nun freilich die schlimmste Beleidigung für den kleinen Hadschi. Klein hatte er sich noch niemals ungestraft nennen lassen.

»Was bin ich?« fragte er wütend. »Ein kleiner Mann? Ich werde dir zeigen, wie hoch und lang ich bin, wenn meine Peitsche dazu gemessen wird. Steh auf, oder ich helfe nach!«

Er riß die Nilhautpeitsche aus dem Gürtel.

Jetzt wurde endlich der Gleichmut des Kawassen ins Wanken gebracht. Er setzte sich auf, erhob drohend den Arm und warnte:

»Tu‘ die Peitsche weg! Das kann ich nicht vertragen, Zwerg!«

»Was? Auch ein Zwerg bin ich? O, der Zwerg wird dir gleich beweisen, daß du die Peitsche sehr gut vertragen kannst. Da – da – da – da – da – da – da – — —!«

Er hatte ausgeholt, und bei jedem »da« sauste die Peitsche auf den Rücken des Mannes nieder.

Dieser blieb noch einige Augenblicke sitzen, ganz erstarrt vor Erstaunen über die Kühnheit des Hadschi. Dann sprang er plötzlich auf, brüllte vor Wut, wie ein Stier, und warf sich mit geballten Fäusten auf Halef.

Ich stand ganz ruhig dabei, mit dem Arm auf den Sattel meines Pferdes gelehnt. Der Kawaß war ein starker Mensch; aber es fiel mir gar nicht ein, meinem Hadschi zu Hilfe zu eilen. Ich kannte ihn zu genau. Nun er einmal die Angelegenheit in seine Hand oder vielmehr auf seine Peitsche genommen hatte, brachte er sie auch zu Ende. Jede Einmischung eines Andern, auch die meinige, hätte ihn beleidigt. Und daß er trotz seiner Kleinheit mehr Körperkraft, und bedeutend mehr Gewandtheit als der Kawaß besaß, davon war ich überzeugt.

Dieser hatte sich zwar auf ihn werfen wollen, war aber bereits nach dem ersten Schritt zurückgetaumelt, denn der Kleine empfing ihn mit Kreuzhieben, welche sich so gedankenschnell folgten, daß die Peitsche sozusagen eine Mauer bildete, durch welche der Feind unmöglich dringen konnte. Die Hiebe sausten hageldicht auf ihn herab: auf den Rücken, auf die Achseln, auf die Arme, an die Seiten und Hüften und Schenkel. Der Mann wurde förmlich von Hieben umsponnen. Und dabei hütete sich der Kleine weislich, das Gesicht, überhaupt den Kopf zu treffen.

Je weniger der Kawaß sich zu wehren vermochte, desto lauter wurde sein Geheul. Er stand endlich ganz still, nahm die Schläge bewegungslos hin und brüllte dabei wie ein Tiger.

»So!« rief endlich Halef, indem er die Peitsche sinken ließ. »Jetzt hast du die Bezahlung für den guten Rat, welchen du vorhin dem Bestohlenen gegeben hast. Besitzest du noch mehr Weisheit in deinem Hirn, so laß sie getrost hören; der Lohn wird sofort folgen. Und willst du mich noch einmal einen Zwerg nennen, so tue es nur bald. Ich habe grad noch übrige Zeit, die Auszahlung fortzusetzen!«

Der Kawaß antwortete nicht. Er wand sich unter den Schmerzen, welche er fühlte. Seine Blicke hingen voller Wut an dem Kleinen. Nur einige unartikulierte Laute ließ er hören. Dann schien er sich plötzlich auf die vorhin von ihm erwähnte Würde seines Amtes und Standes zu besinnen. Er richtete sich hoch auf und rief:

»Mensch, du mußt verrückt sein! Wie kannst du einen Kawassen des Großherrn schlagen?«

»Sei still! Ich würde selbst den Großherrn durchprügeln, wenn er es wagte, sich so gegen uns zu benehmen, wie du. Was bist du denn eigentlich? Ein Soldat, ein Polizist, ein Diener jedes Untertanen! Weiter bist du nichts, gar nichts!«

Es hatte den Anschein, als ob er große Lust spüre, die Peitsche wieder in Bewegung zu setzen. Dazu wollte der Gezüchtigte es nicht kommen lassen und erwiderte:

»Immer Schimpf! Mich kannst du nicht beleidigen. Unsere Instruktion gebietet uns, Nachsicht mit dem Volk zu haben, wenn – —«

»Mit welchem Volk?« unterbrach ihn der Hadschi. »Sind wir etwa Volk?«

»Was denn?«

»Was denn? Bist du blind? Schau mich an! Ist es mir etwa nicht anzusehen, wer ich bin?«

»Ich sehe nichts!«

»So bist du wirklich blind und dumm. Ich will dir sagen, wer ich bin. Ich bin nämlich Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah! Wie aber ist dein Name?«

»Ich heiße Selim.«

»Selim! Weiter nicht?«

»Wie soll ich sonst noch heißen? Selim genügt.«

»Selim genügt! Ja, dir mag es genügen, dir, der du ein Kawaß bist und weiter nichts!«

Der Polizist wußte wohl schwerlich, daß die freien Araber die Gewohnheit haben, ihrem eigenen Namen die Namen ihrer Vorfahren beizufügen. Je länger dann so ein Name wird, desto größer ist der Stolz, mit welchem er von dem Betreffenden getragen wird.

»Meinst du denn, daß ein Kawaß so ganz und gar nichts ist?« rief er nun.

»Schweig!« antwortete der Kleine. »Ein Kawaß, der nur Selim heißt, darf gar nichts sagen. Schau her, was für andere Leute hier stehen!«

Er deutete auf Omar und fuhr fort:

»Dieser ist Omar Saban If el Habadschi Ben Abu Musa Dschafar es Sofi Otalan Ibn Avizenna Ali Nafis Abu Merwan el Hegali!«

Dann zeigte er auf Osko und sagte:

»Und dieser berühmte Krieger heißt Osko Abd el Latif Mefari Ben Mohammed Hassan el Dschaseris Ibn Wahab Alfirat Biruni el Seirafi! – Weißt du es nun?«

Ich mußte mir Gewalt antun, um ein schallendes Gelächter zu unterdrücken. Die beiden hießen gar nicht so; aber um dem Kawassen zu imponieren, nannte der kleine Hadschi eine Menge von Namen und Ahnen her, von denen Osko und Omar während ihres ganzen Lebens keine Ahnung gehabt hatten.

Und das tat er mit solchem Ernst, und die arabischen Namen schossen mit solcher Schnelligkeit und Geläufigkeit aus seinem Mund, daß der Polizist ganz starr dastand, als sei ein jeder Name eine Kugel, die ihn getroffen habe.

»So antworte doch!« rief Halef ganz erregt. »Hast du die Sprache verloren, du Menschenkind, das mit seinem einzigen Selim zufrieden ist? Hast du denn keine weiteren Namen und hast du keine Ahnen? Wie hieß dein Vater und der Großvater deines Vatersvaters? Haben sie keine Taten getan, oder sind sie Verbrecher und Feiglinge gewesen, daß du dich schämst, uns ihre Namen zu nennen? Oder wurdest du vielleicht gar nicht geboren, sondern bist an einem trüben Tag aus einer Mausfalle geschlüpft. Blicke nur auf uns! Hier stehen Leute!«

Der Kawaß wußte noch immer nicht, was er eigentlich antworten sollte. Die Vorwürfe des Kleinen krachten nur so auf ihn nieder.

»Siehe dir auch diesen an!« sagte Halef, auf seinen Wirt deutend. »Er ist kein Araber, sondern ein Türke, und doch heißt er nicht bloß Selim, sondern Ibarek el konakdschy, Ibarek, der Herbergsvater. Ihm sind hundert Pfund gestohlen worden. Was aber könnte denn dir gestohlen werden, dir, der du gar nichts weiter besitzest, als den Namen Selim?«

 

»Oho!« antwortete endlich der mit solcher Verachtung behandelte Kawaß. »Ich bin auch kein Bettler. Ich habe mein Amt und – —«

»Amt! Sei still von deinem Amt! Was das zu bedeuten hat, das haben wir gesehen. Dein Amt scheint zu sein, im Gras zu liegen und Allah die Tage und Wochen zu stehlen. Aber ich werde Bewegung in euch Faulenzer bringen. Ich werde zum Präfekten gehen und ihn solch ein Quecksilber trinken lassen, daß er mit allen Fingern und Zehen zappeln soll! Ich befehle dir, dich sofort aufzumachen und nach der Stadt zu gehen. Wenn du in einer halben Stunde nicht bei dem Präfekten bist, lasse ich dich im tiefsten Wasser ersäufen und sodann noch obendrein mit einer Kanone erschießen. Wir brechen jetzt auf. Denke nicht, daß ich dir den Befehl zum Spaß gegeben habe! Ich meine es ernst. Das wirst du erfahren!«

Dem Kawassen blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen.

»Was?« stieß er hervor. »Einen Befehl willst du mir erteilen, du?«

»Ja! Hast du es denn nicht gehört?«

»Hast du mir denn irgend etwas zu befehlen?«

»Welch eine Frage! Natürlich hast du mir zu gehorchen. Du bist ja nur Selim der Namenlose, ich aber bin Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn —«

»Halt ein, halt ein!« unterbrach ihn der Kawaß, indem er sich beide Hände auf die Ohren legte. »Dein Name ist ja so eine lange Schlange, daß man befürchten muß, von ihr erdrückt zu werden. Ja, ich werde nach der Stadt gehen, sofort. Aber nicht, weil du es mir befohlen hast, sondern um dich bei dem Präfekten anzuzeigen. Du hast einen Diener des Großherrn geschlagen. Dafür sollst du eine Strafe erleiden, wie hier noch niemand bestraft worden ist.«

Er raffte seine Sachen von der Erde auf und verschwand hinter den Büschen. Fürchtete er einen neuen Ausbruch der Tatkraft meines kleinen Hadschi, oder dürstete er wirklich nach Rache für die empfangene Züchtigung? Wohl beides.

»Da rennt er hin!« meinte Halef befriedigt. »Wie habe ich meine Sache gemacht, Sihdi?«

Er blickte mich an, als ob er eine Belobung erwartete. Statt der aber empfing er eine sehr empfindliche Zurechtweisung.

»Schlecht, sehr schlecht hast du sie gemacht. Du hast schon manche Dummheit begangen, noch niemals eine so große wie jetzt.«

»Sihdi, ist das dein Ernst?«

»Ganz und gar.«

»Aber dieser Mensch hatte die Züchtigung gewiß verdient!«

»War es denn deines Amtes, sie ihm zu geben?«

»Von wem sollte er sie sonst erhalten?«

»Von seinem Vorgesetzten.«

»O Allah! Wenn der ihn hätte prügeln sollen, so wären beide ganz sicher dabei eingeschlafen. Nein, wer handeln will, der handle schnell! Dieser Mensch blieb vor uns liegen, als ob er der Urgroßvater des Großherrn sei, den alle gläubigen und ungläubigen Untertanen ehren müssen. Dieses Vergnügen habe ich ihm nun gestört.«

»Ohne jedoch an die Folgen zu denken.«

»Welche Folgen sollen kommen? Wenn er uns bei dem Präfekten verklagt, so kann es sehr leicht geschehen, daß auch dieser meine Peitsche zu kosten bekommt.«

»Halef, nun ist‘s genug! Der Mann hatte eine Züchtigung verdient; das ist wahr. Du aber mußtest warten, was ich tun würde. Wir wissen nicht, welchen Gefahren wir überhaupt entgegen gehen, und da war es eine ganz unbegreifliche Unklugheit, uns noch überdies mit der Polizei zu verfeinden. Ich habe den Mann mit Spott behandelt. Das hättest auch du tun sollen. Statt dessen hast du ihn geschlagen. Ich habe es dir nicht befohlen, darum werden mich die Folgen wenig kümmern. Mich geht die Sache gar nichts an. Sieh du zu, wie du den Kopf aus dem Wasser bringst!«

Ich stieg auf und ritt davon. Die Andern folgten kleinlaut. Am tiefsten ließ Halef den Kopf hängen. Es dämmerte immer heller in ihm die Ahnung, daß er uns einen sehr großen Schaden angestiftet haben könne.

Der Türke, welcher die meiste Ursache hatte, zornig zu sein, ritt schweigend an meiner Seite. Erst nach einer Weile erkundigte er sich:

»Effendi, können die Folgen wirklich schlimm für den Hadschi werden?«

»Natürlich!«

»Aber du wirst ihm beistehen?«

»Nicht im mindesten!« antwortete ich, da Halef hörte, was ich sagte. »Er hat sich des Widerstandes gegen die Staatsgewalt und der Körperverletzung gegen einen kaiserlichen Polizeibeamten schuldig gemacht. Ich kann ihn nicht retten, wenn sie ihn ergreifen.«

»So mag er fliehen!«

»Er mag tun oder lassen, was ihm beliebt. Er hat ohne meine Einwilligung gehandelt, wie ein kleiner Knabe, der unfähig ist, sich die Folgen seiner Tat zu überlegen. Sie mögen nun über ihn kommen. Ich kann ihm nicht helfen.«

Es wurde mir nicht leicht, diese harten Worte auszusprechen. Sie taten mir vielleicht noch weher als dem kleinen Hadschi selbst; aber ich hielt es für notwendig, ihm einmal einen solchen Verweis zu erteilen.

Er war mir treu durch alle Gefahren gefolgt, und durch welche Gefahren! Wie oft hatte er sein Leben mit mir gewagt! Er hatte die Heimat verlassen, und was noch mehr war, auch Hanneh, die Blume der Frauen. Mein ganzes Herz war voll von Dankbarkeit gegen ihn. Aber er begann jetzt, unvorsichtig zu werden.

Daß uns so manches schlimme Wagnis gelungen war; daß wir das Glück gehabt hatten, uns stets selbst aus den bösesten Klemmen heraus zu arbeiten, das hatte sein Selbstvertrauen aufgebläht. Er glich einem kleinen, tapfern Hündchen, welches den Mut hat, selbst dem stärksten Leonberger an den Hals zu springen. Ein einziger Biß des Riesen aber würde es töten. Und grad jetzt näherten wir uns dem gefährlichen Bereich der Skipetaren. Da war Vorsicht doppelt nötig.

Im Stillen freute ich mich darüber, daß er den faulen Polizisten so wacker durchgebläut hatte, und ich war, was sich von selbst verstand, entschlossen, die Folgen von ihm abzulenken. Aber ich hielt es für geraten, seiner Tatenlust und Tateneiligkeit einen kleinen Dämpfer aufzusetzen.

Achtes Kapitel: Ein Heiliger

Nach einiger Zeit erreichten wir die Straße von Kusturlu und lenkten nun wieder nach rechts ein. Wir näherten uns der Strumnitza und ritten zwischen Tabaks- und Baumwollenfeldern hin.

Bald sahen wir einen Berg vor uns aufsteigen, an dessen Seite die Häuser der Stadt zu erkennen waren. Oben auf seiner Kuppe erblickten wir dunkles Grün, unter welchem das Gemäuer der Ruine hervorlugte.

»Das ist Ostromdscha,« erklärte der Türke.

»Auch Strumnitza genannt, nach dem Fluß, der nahe an der Stadt vorüberfließt,« fügte ich bei, meine ganze Geographiekenntnis erschöpfend.

Da kam Halef an meine Seite. Der Anblick der Stadt ließ ihn an die Folgen seiner voreiligen Handlung denken.

»Sihdi,« begann er.

Ich tat, als ob ich es nicht hörte.

»Sihdi!«

Ich blickte unverwandten Auges nach der Stadt.

»Hörst du mich nicht – oder willst du mich nicht hören?«

»Ich höre dich.«

»Meinst du etwa, daß ich fliehen soll?«

»Nein.«

»Ich täte es auch nicht. Lieber würde ich mir eine Kugel durch den Kopf jagen. Oder meinst du, daß ich mich von einem Präfekten hier einsperren lassen soll?«

»Ganz nach deinem Belieben!«

»Lieber möchte ich ihm eine Kugel durch den Kopf jagen!«

»Und würdest dann erst recht eingesperrt.«

»Was denkst du, was geschehen wird?«

»Ich weiß es nicht. Man muß es abwarten.«

»Ja, warten wir es ab! Aber wirst du mich unter deinen Schutz nehmen?«

»Ich denke, ich stehe unter dem deinigen. Du nennst dich ja meinen Freund und Beschützer!«

»Sihdi, vergib das mir. Du allein bist doch der Beschützer gewesen.«

»Nein, Halef. Ich habe sehr oft unter deinem Schutz gestanden. Das werde ich dir nicht vergessen, und so wollen wir sehen, ob die Leute hier es wagen werden, sich an dem berühmten Hadschi Halef Omar zu vergreifen.«

»Hamdulillah! Allah sei Dank! Jetzt fällt mir ein Stein vom Herzen, der so groß und so schwer war, wie der Berg da vorn, an welchem die Stadt liegt. Alles kann ich ertragen, nur das nicht, daß mein Effendi böse auf mich ist. Zürnst du noch?«

»Nein.«

»So gib mir deine Hand.«

»Hier hast du sie.«

Der Blick voll inniger Liebe und Treue, fast möchte ich sagen Hundetreue, welchen er mir dabei zaghaft zuwarf, drang mir tief zu Herzen. Was für ein herrliches Gut ist es doch um das Glück, einen solchen treuen Freund zu besitzen!

Wir näherten uns der Stadt immer mehr. Kurz bevor wir die ersten Häuser – richtiger Hütten – erreichten, saß auf einem Stein ein Bettler am Wege, ein Jammerbild des Elendes und der Verkommenheit.

Eigentlich ist es falsch, zu sagen, er saß am Wege, denn er saß nicht. Er schien gar nicht richtig sitzen zu können. Er lag mit zusammengekrümmtem Rücken halb auf der Seite, neben sich die beiden Krücken. Um seine nackten Füße waren Lumpen gewickelt und mit Fäden festgebunden. Seine einzige Hülle bestand in einem alten Ding, halb Tuch und halb Mantel, welches er sich um die Hüften gewunden hatte. In dieses Tuch schien er die Gaben zu stecken, welche ihm gereicht wurden: Brot, Früchte und Anderes, denn es bildete eine übermäßig dicke Wulst um seinen Leib. Dieser Leib war hager und schmutzig braungelb. Man sah die Rippen deutlich liegen, und die Schlüsselbeine traten hervor, wie bei einem Skelett. Der Kopf war bedeckt von wirren, struppigen Haaren, welche wohl jahrelang keinen Kamm gefühlt hatten. Das Gesicht war aufgedunsen, die Züge besaßen aber dennoch einen scharfen Schnitt. Die Haut hatte eine bläulichrote Farbe, als ob sie erfroren sei. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

Das Gesicht befremdete mich. Es lag ein Widerspruch in demselben, der mir gleich beim ersten Blick auffiel; doch vermochte ich nicht zu sagen, worin dieser Widerspruch bestehe. Der Ausdruck desselben war derjenige des Blödsinnes, der Gefühllosigkeit.

Das alles sah ich aber nicht gleich jetzt, sondern ich bemerkte es erst später, als wir vor dem Bettler halten blieben, um ihm eine Gabe zu reichen. Ich betrachtete ihn sehr genau, weil ich von dem Türken erfahren hatte, wer er sei.

Als wir uns nämlich noch fern befanden und ihn sitzen sahen, sagte der Wirt:

»Das ist Busra, der Krüppel, von dem ich dir erzählt habe.«

»Derjenige, welcher bei deinem Nachbar war, als du glaubtest, der Heilige sei zu ihm gegangen?«

»Ja, Effendi.«

»Ist er denn der Gabe bedürftig?«

»Ja. Er kann nicht arbeiten, denn er hat kein Rückenmark mehr.«

»So könnte er wohl gar nicht leben?«

»Davon verstehe ich nichts. Man sagt so. Er geht an zwei Krücken und zieht die Beine hinterher. Er kann sie nicht bewegen. Dazu ist er ein Blödsinniger, der nur wenige Worte zu reden versteht. Jeder gibt ihm etwas. Wenn du mehrere Tage hier bleibst, wirst du ihn öfter sehen.«

»Hat er Verwandte?«

»Nein.«

»Wo wohnt er?«

»Nirgends. Er ißt da, wo er etwas erhält, und schläft da, wo er vor Müdigkeit niedersinkt. Er ist ein elender Mensch, dem Allah in jenem Leben zulegen wird, was er ihm hier versagt hat.«

Der Krüppel saß mit dem Rücken gegen uns. Als er den Huftritt unserer Pferde hörte, richtete er sich mühsam mittels seiner Krücken empor und wendete sich uns zu. Jetzt sah ich sein ausdrucksloses, blödes Gesicht. Sein Auge schien gar keinen Blick zu haben. Es war tot und nichtssagend. Der Mann mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein, doch war es schwer, ihm ein bestimmtes Alter zuzusprechen.

Ich fühlte Mitleid mit dem Elenden und hatte keine Ahnung, welch eine hervorragende und feindselige Rolle er mir gegenüber noch spielen sollte. Wir hielten bei ihm an. Er streckte uns die Hand entgegen und stammelte dabei tonlos nur immer das eine Wort:

»Ejlik, ejlik, ejlik – Wohltat, Wohltat, Wohltat!«

Die Andern gaben ihm, und auch ich reichte ihm ein Zweipiasterstück. Fast aber erschrak ich, denn als ich vom Pferd herab ihm die Münze in die Hand legte, ging ein Zucken durch seinen Körper, als hätte er aufspringen wollen, und aus seinen vorher so glanz- und leblosen Augen blitzte ein Blick auf mich, ein Blick voll Haß und Grimm, wie ich ihn noch nie im Auge eines Feindes beobachtet hatte. Im nächsten Moment aber senkten sich die Lider, und das Gesicht nahm den Ausdruck der Stupidität wieder an.

»Schükür, schükür – Dank, Dank!« stammelte er.

Das war so seltsam, fast unglaublich, wenn ich es nicht so außerordentlich deutlich gesehen hätte. Was hatte er mit mir? Warum diese grundlose Feindseligkeit gegen einen völlig Fremden? Und wenn aus diesen Augen ein so intensiver Blick des Hasses leuchten konnte, war der Mensch wirklich blödsinnig? Dabei empfand ich ein unbestimmtes Gefühl, als ob ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hätte. Aber wann und wo? Täuschte ich mich nicht? Schien es denn nicht, als ob auch er mich kenne?

 

Wir ritten weiter, ich hinter den anderen; ganz unwillkürlich wendete ich mich zurück, um noch einmal einen Blick auf ihn zu richten.

Was war denn das? Er hockte gar nicht mehr so hilflos auf dem Stein. Er saß kraftvoll da, ich möchte beinahe sagen stramm, und hatte den rechten Arm mit der Krücke erhoben und schwang sie drohend uns nach. Uns? Vielleicht nur mir!

Es wurde mir fast unheimlich zu Mut. Der Mensch sah in diesem Augenblick wie ein wahrer Satan aus. Ja, satanisch verzerrt waren die Züge seines Gesichtes. Es dämmerte in mir, wo ich ihn bereits gesehen hatte. Eine orientalische Stadt – fürchterliches Menschengedränge – entsetzliches Schreien und Brüllen – tausend Hände langten nach mir – sollte es in Mekka – das phantasmatische Bild sank wieder in mein Inneres zurück, und ich wußte ebenso wenig wie vorher.

»Kann dieser Bettler wirklich nicht gehen?« fragte ich den Türken.

»Nur mit der Krücke,« antwortete er. »Die Beine hängen ihm wie Lappen an dem Leib.«

»Auch nicht aufrecht sitzen?«

»Nein. Er hat kein Rückenmark mehr.«

Kein Rückenmark! Welch ein Unsinn! Daß ich ihn soeben in einer sehr energischen Stellung gesehen hatte, verschwieg ich, denn ich hielt es nicht für geraten, den Moslem zum Mitwisser eines Geheimnisses zu machen, welches ich freilich selbst nicht wußte, ja kaum nur ahnte.

Nach kurzer Zeit erreichten wir die Stadt. Ich hatte den Türken nach den bereits erwähnten heißen Quellen befragt und von ihm erfahren, daß dieselben allerdings vorhanden seien, aber nicht in der Weise, wie ich es erwartet hatte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen das Wasser derselben sehr reichlich geflossen war, um aber dann wieder fast zu versiegen. Zuweilen war heißes Wasser in Menge vorhanden, und dann wieder stockte der Ausfluß gänzlich. Jetzt sollte es nur sehr karg vorhanden sein.

Als wir die ersten Häuschen oder vielmehr Hütten der Stadt vor uns hatten, sagte der Herbergsvater:

»Effendi, hast du vielleicht Lust, dir die heißen Quellen gleich jetzt anzusehen?«

»Liegen sie am Wege?«

»Nein. Aber wir haben nur wenige Schritte zu reiten, um zu ihnen zu gelangen.«

»So führe uns hin!«

Er lenkte zur Seite ab, und wir ritten um einige der Hütten und um die zu ihnen gehörigen Gärtchen, welche aber diesen Namen keineswegs verdienten, herum.

Ein lautes Kreischen einer weiblichen Stimme drang zu uns.

»Da ist die Quelle,« nickte unser Führer.

»An welcher man sich so zankt?«

»Ja. Du mußt nämlich wissen, daß man glaubt, das Wasser sei sehr gut gegen gewisse Krankheiten. Wenn nun wenig fließt, so streiten sich die Frauen miteinander, welche gekommen sind, es zu holen.«

Wir bogen um ein Oleandergebüsch und hielten nun vor der Therme.

Der Lauf des Wassers war durch ein Rinnsal bezeichnet, dessen ockerfarbiger Grund darauf schließen ließ, daß die Quelle eisenhaltig sei. Heute war nur wenig Wasser in demselben zu sehen. Es kam aus einer kreisrunden Vertiefung des Erdbodens, welche mit demselben roten Niederschlag belegt war. Die rundum zusammengetretene Stelle bewies, daß dieser Ort sehr fleißig besucht wurde.

Am Rand der Vertiefung lagen Steine, welche wohl herbeigeschafft worden waren, um als Sitz zu dienen.

Jetzt, in diesem Augenblick, waren nur drei Personen anwesend, und zwar weibliche: zwei Frauen und ein kleines Mädchen von acht Jahren.

Die eine der Frauen war ziemlich gut, wenn auch unsauber gekleidet und besaß eine ansehnliche Körperfülle. Sie war es, deren keifende Fistelstimme wir gehört hatten. Sie stand mit dem Rücken gegen uns gerichtet, und da sie noch immer laut schrie, so bemerkte sie unser Kommen nicht.

Zu ihren Füßen lagen einige Lappen und ein alter Topf, dessen Henkel abgebrochen war. Der Topf war umgestürzt, und ihm entquoll langsam eine dicke, graubraune Masse, deren Aussehen keineswegs appetitlich war.

Die andere Frau saß auf einem der Steine. Sie war nur mit einem sehr ärmlichen dunklen Rock bekleidet und hatte ein vorsintflutliches Tuch um den Oberkörper geschlungen, welches auch die Arme und Hände bedeckte. Sie sah aber sonst leidlich sauber aus, sauberer noch als die andere, welche sich ihrer Kleidung nach in besseren Verhältnissen zu befinden schien. Ihr Gesicht war hager. Die Not hatte demselben ihre traurigen Runen eingeritzt. Das Kind an ihrer Seite war nur in ein baumwollenes Hemd gehüllt, welches gut gewaschen und sogar gebleicht zu sein schien.

Die keifende Dicke sprudelte ihre Zornesworte so schnell heraus, daß man ihnen gar nicht zu folgen vermochte. Nur die doppelt stark betonten Hauptausdrücke waren deutlich zu unterscheiden. Kein Lastträger hätte sich kräftigerer Schimpfreden zu bedienen vermocht. Dabei schlug sie mit den Fäusten bald auf die andere Frau, bald auf das weinende Kind ein.

Diese andere Frau machte bei unserem Anblick eine Bewegung, durch welche die Xantippe veranlaßt wurde, sich nach uns umzudrehen.

O Himmel! Welch ein Antlitz erblickte ich! Die Visage eines tätowierten Südseeinsulaners ist das reine Schönheitsideal dagegen. Der Grund davon war, daß sich das Weib das Gesicht mit einer dicken roten Masse eingerieben hatte. Sie sah schrecklich aus. Als sie uns erblickte, trat sie von der andern zurück und hemmte den rauschenden Strom ihrer Rede.

»Friede sei mit euch!« grüßte ich.

»In Ewigkeit, Amen!« antwortete sie.

Diese Worte ließen mich vermuten, daß sie eine Bulgarin griechischen Bekenntnisses sei.

»Ist das die Quelle, an welcher man Heilung findet?«

»Ja, Herr; diese Quelle ist berühmt im ganzen Land und noch weit darüber hinaus.«

An diese Auskunft knüpfte sie eine Aufzählung von hundert Krankheiten, gegen welche man hier Hilfe finden könne, und von ebensovielen Wundern, die an diesem Ort geschehen sein sollten.

Sie entwickelte dabei ein Rednertalent, welches mich geradezu verblüffte. Die Worte sprühten ihr nur so vom Mund, und ich fand auch nicht eine einzige Lücke von dem tausendsten Teil einer Sekunde, welche ich hätte benutzen können, um mit einer Frage in diese Bresche einzudringen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie einfach aussprechen zu lassen, was aber erst nach längerer Zeit geschah, da sie mich nach unzähligen Krankheiten, Gebrechen und Fehlern fragte, welche mich hergetrieben haben konnten. Eine Antwort aber wartete sie durchaus nicht ab.

»O Allah! Maschallah! Allah w‘ Allah!« rief Hadschi Halef Omar einmal über das andere Mal, wobei er die Hände zusammenschlug.

Die Frau schien anzunehmen, daß diese Interjektionen nicht dem Fluß ihrer Rede, sondern den aufgezählten Vorzügen der heißen Quelle gewidmet seien, und fühlte sich dadurch nur veranlaßt, diese Aufzählung in wahrhaft überwältigender Sprachfertigkeit fortzusetzen. Um sie zum Schweigen zu bringen, berührte ich die Weichen meines Rappen leise mit den Sporen. Er war das nicht gewohnt und ging mit allen Vieren in die Luft.

Die Rednerin hielt inne, sprang zurück und stieß einen Angstschrei aus. Das benützte ich, um nun auch zu Wort zu kommen.

»Wie heißest du?« fragte ich sie.

»Nohuda. Ich bin in Debrinitz geboren, wie mein Vater ebenso dort geboren war. Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt. Die Großeltern waren drüben über dem Fluß – —«

Ich ließ den Rappen abermals steigen, denn ich befürchtete nicht ohne Grund, daß sie mit mir die Stufenleiter ihrer Verwandtschaft bis jenseits des alten Methusalem hinaufsteigen werde. Sie hielt glücklicherweise inne, und ich besaß die ungeheure Geistesgegenwart, dies zu der Erklärung zu benutzen:

»Liebe Nohuda, ich muß dir sagen, daß ich wegen eines Kopfleidens hierher gekommen bin. Ich fühle nämlich – —«

»Kopfleiden?« fiel sie mir schnell in die Rede. »Herr, das ist recht, das ist gut, daß du gekommen bist! Wenn du wüßtest, wie viele verschiedene Köpfe, tausend und aber tausend an Zahl, hier Heilung von – —«

Der Rappe drang jetzt auf sie ein, so daß sie wieder eine Pause machte. Ich erklärte:

»Mein Kopfleiden ist so arg, daß mir sogar das Anhören der menschlichen Stimme große Qualen bereitet. Habe daher die Güte und sprich nur dann, wenn ich dich frage. Ich sehe es deinem Gesicht an, daß eine zarte, mitleidsvolle Seele in deiner Brust wohnt; darum denke ich, daß du mir diese Bitte erfüllen wirst.«