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Im Reiche des silbernen Löwen I

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»So glaubst du wohl, daß du auch jetzt noch beobachtet wirst?«

»Ja.«

»Dann weiß man vielleicht, daß ich bei dir bin?«

»Mag man es wissen! Ich wüßte nicht, aus welchem Grunde mir dies Schaden bringen könnte. Dich geht die hiesige Schmuggelei doch gar nichts an.«

»Was war, während ihr euch gefangen im Birs befandet, aus den Zollbeamten geworden, welche du mitgebracht hattest?«

»Die hatten in Hilleh vergeblich auf mich gewartet und mich dann ebenso vergeblich gesucht. Da waren sie, ohne sich weiter um mich zu sorgen, wieder nach Bagdad zurückgekehrt. Wenn du glaubst, hier im Oriente dieselbe Anhänglichkeit zu finden wie im Abendland, so irrst du dich. Uebrigens bekamen wir von dem Säfir unsere Pferde und Waffen wieder und ritten zunächst nach Hilleh, um uns satt zu essen und zu trinken, denn wir waren über drei Tage im Turme gewesen. Sofort nach meiner Ankunft in Bagdad meldete ich mich beim Pascha krank, bat um meine Entlassung und wurde nicht eher wieder gesund, als bis mein Nachfolger meine Stelle angetreten hatte. Man setzte mir eine leider sehr kärgliche Pension aus, von welcher wir bisher gelebt haben, und wenn ich dir sage, daß wir seit jener Zeit noch kein einzigesmal ein Mittagessen gehabt haben, wie das heutige war, so genügt das wohl zum Verständnis unserer Lage. Es giebt Gegenden, in denen ich, der dortigen Billigkeit wegen, besser leben könnte als hier in dem teuren Bagdad; aber ich darf ja nicht fort; mein Leben steht auf dem Spiele.«

»So hast du keinen Versuch gewagt, Bagdad zu verlassen?«

»Nein. Wie hätte ich auch nur den Gedanken dazu fassen können! Wir sind hier Gefangene wie damals im Birs Nimrud. Wir sehnen uns von ganzem Herzen fort und fühlen uns doch für das ganze Leben angekettet. Das erzwungene Leben in diesen Banden ekelt mich an. Ich bin menschenscheu geworden und habe mich zurückgezogen. Wenn nur das geringste dort am Turm von Babel passiert, wenn das Wetter einen Stein abbröckelt oder etwas Aehnliches geschieht, kann man denken, ich habe einen Versuch gemacht, dort einzudringen. Ich sehe den Dolch des Mörders an einem Haare über mir hängen und zucke bei jedem ungewöhnlichen Geräusch zusammen, als ob ich hörte, daß er die für mich bestimmte Kugel in den Lauf seines Gewehres stößt. Ich esse nichts aus fremder Hand, denn es könnte für mich vergiftet sein; ich genieße nur die Reste des Mahles, von welchem der Onbaschi vorher gegessen hat. Ich möchte sterben, nur um dieses von Furcht und Angst erfüllte Leben loszuwerden; ich möchte tot sein, tot, und doch fürchte ich den Tod, denn es giebt eine Stimme in meinem Innern, welche mir fort und fort zuruft, daß ich noch nicht sterben dürfe, weil es noch einen mir unbekannten Zweck meines Lebensrestes, meiner letzten Lebenstage gebe. Ich bin unglücklich, unbeschreiblich unglücklich; das kannst du mir glauben, Effendi!«

Wie dauerte mich der alte Mann! Jetzt kam er mir gar nicht mehr so wunderlich vor wie vorher. Die Angst hatte seinen Charakter zerfressen, seine Thatkraft gelähmt und ihn zum Schmetterling gemacht, der vor jedem auf ihn fallenden Schatten wie vor einem Todfeind flieht. Wie herzlich gönnte ich ihm die Erlösung von diesem Leiden. Wären seine Feinde, der Säfir und die andern, zu fassen gewesen, ich hätte gern mein Leben eingesetzt, um gegen sie für diesen schwergeprüften Mann zu kämpfen. Aber er hatte außerdem noch Feinde, und diese lebten nicht am Birs Nimrud, nicht in der Wüste, nicht in dem Grenzgebiete zwischen Irak Arabi und Persien, sondern in seinem Innern.

»Ja, du bist unglücklich, unglücklicher noch, als du denkst,« sagte ich. »Du fürchtest den Tod; du fürchtest für dein Leben; aber du bist schon längst tot; du lebst schon seit langer Zeit nicht mehr!«

»Wie meinst du das?« fragte er.

»Deine Seele ist ein Kabr[184], in welchem dein Glaube, deine Zuversicht, dein Gottvertrauen begraben liegen. Wer keinen Gott besitzt, hat auch das Leben nicht; wer aber weiß, daß er unter dem Schirm des Allmächtigen steht, den ficht keine Angst und kein Bangen an, der fürchtet keinen Feind und keinen Widersacher, denn alle menschlichen Anschläge müssen zu Schanden werden vor dem Willen dessen, ohne den kein Wassertropfen verdunstet und kein Sonnenstäubchen zur Erde fällt.«

»Du hast gut predigen; dir droht keine Mörderhand!«

»Meinst du? Wüßtest du, wie oft sich solche Hände gegen mich ausgestreckt haben, von mir gesehen oder oft auch hinterrücks! Es haben Menschen, die ich gar nicht kannte oder noch schlimmer, die ich für Freunde hielt, mir nach dem Leben getrachtet; der Tod hat nahe vor mir, neben oder hinter mir gestanden, ohne daß ich es ahnte. Das ist schlimmer und viel, viel gefährlicher, als wenn man, wie du, die Personen kennt, vor denen man sich zu hüten hat. Du sagst, daß mir kein Mörder drohe, und ich sage dir, daß es hier Leute giebt, welche nach meinem Blute förmlich lechzen. Aber siehst du etwa, daß ich Besorgnis hege? Diese Menschen, welche mich verfolgen, können mir nichts anhaben, weil ich unter einem Schutze stehe, gegen den ihre Kraft der Dabbuhr[185] gleicht, welche sich einbildet, in die Höhe steigen und mit ihrem Stachel den Nisr[186] durchbohren zu können.«

»Das werden gewöhnliche Menschen sein; mein Feind aber ist der Säfir, der mächtige Anführer einer Bande von Verbrechern, gegen deren Anschläge selbst der Pascha von Bagdad nicht aufzukommen vermag.«

»Du täuschest dich. Der, welcher mir hier in Bagdad nach dem Leben trachtet, ist wahrscheinlich ebenso mächtig oder, wenigstens in dieser Gegend, noch mächtiger als der Säfir. Denn weil Säfir Gesandter« heißt, befindet er sich jedenfalls nur zeitweilig und vorübergehend hier. Ich vermute sogar, daß beide einander kennen, daß beide Freunde und ganz gleichwertige Halunken sind.«

»Was sagst du? Dir und mir trachten zwei Menschen nach dem Leben, welche Freunde sind?«

»Ja.«

»Ist dein Gegner auch Schmuggler?«

»Vielleicht gar etwas Schlimmeres.«

»Wer ist er, und wie heißt er?«

»Hast du einmal den Namen Sill gehört?«

»Das ist ein persischer Ausdruck, welcher soviel wie Schatten« bedeutet.«

»Ich spreche von diesem Worte als einem Namen, nicht als einem Ausdruck.«

»Da kenne ich ihn nicht.«

»So sei froh! Wie der Schatten nie vom Menschen läßt, so läßt auch der Sill den nicht los, hinter dessen Ferse er mit gezücktem Messer schreitet.«

»Und so einen Sill hast du hinter dir?«

»Mehrere; ihr Anführer ist, wie ich vielleicht mit Recht vermute, ein Freund und Verbündeter deines Säfir, und es würde mich gar nicht wundern, wenn ich bei einer Begegnung mit dem einen auch den andern mit vor meine Fäuste bekäme. Es würde mich herzlich freuen, wenn mir da die Freude würde, die freundliche Zuneigung, welche der Säfir bisher dir gewidmet hat, auf mich zu lenken, denn ich denke, daß ich schnell mit ihm fertig würde.«

»Effendi, du hast sehr viel Selbstvertrauen, vielleicht zu viel!«

»Das glaube nicht! Wer sich mehr zutraut, als er kann, der ist ein eingebildeter Mann; wer sich aber weniger zutraut, als er kann, der ist ein schlechter Mann. Ich bilde mir nichts ein, will aber auch kein schlechter Mann sein. Man muß sich genau kennen, und diese Selbstkenntnis ist freilich nicht leicht zu erlangen; man erwirbt sie durch den Kampf mit widerwärtigen Verhältnissen, mit feindlichen Personen und – und das nicht zum wenigsten – im Kampfe mit sich selbst. Je kaltblütiger man sich dabei verhält, desto leichter und schneller wird man Sieger und desto sicherer gelangt man zur Erkenntnis seiner selbst. Hat man diese aber einmal erworben, so kann man seine eigne Kraft getrost mit den Kräften anderer vergleichen und dann nach dem Ergebnisse dieser Vergleichung handeln. Wer beim berechtigten selbstbewußten Worte eines andern die Nase rümpft und von Hochmut spricht, der kennt den hohen Wert des Selbstvertrauens nicht, weil er selbst kein wahres Vertrauen zu sich hat, obgleich er wohl im stillen oder auch lauter von sich sagt, er sei ein tüchtiger Kerl.«

»Das war eine Rede, die du nicht dir, sondern mir gehalten hast, Effendi; das weiß ich wohl. Aber ich bin ein alter Mann; du bist noch jung, und dir wurden nicht die, welche dir die Liebsten auf Erden waren, durch den blutigen Mord aus den Armen gerissen.«

»Ich habe trotzdem soviel wie du, ja vielleicht noch mehr verloren; aber wem der Herrgott in seiner Weisheit nimmt, dem giebt er doppelt wieder. Freilich, wer es nicht versteht, die Hand darnach auszustrecken und zuzugreifen, der wird nicht von dem reichen Ersatze und der Heilung aller seiner Wunden reden können. Und wenn du klagst, daß dir alle deine Lieben durch den Tod entrissen worden seien, so frage ich dich- Kannst du denn wirklich, wirklich und wirklich behaupten, daß sie tot sind?«

»Effendi!« fuhr er auf. »Willst du mit meinem Herzen, mit meinem Grame ein grausames Spiel treiben?«

»Nein. Vor einem solchen Beginnen möge mich Gott behüten! Denke nicht, daß ich dir diesen Gedanken in frevlem Leichtsinne in die Seele werfe! Ich weiß gar wohl, was ich thue! Indem ich jetzt zu dir rede, ist jedes Wort vorher bedacht und hat darum ein schweres Gewicht.«

 

»Aber wie kommst du dazu, meine Toten zu den Lebenden zu zählen?«

»Habe ich das gethan?«

»Ja.«

»Nein. Ich habe nur gefragt, ob du behaupten, also beweisen kannst, daß sie wirklich tot sind. Kannst du das?«

»Ja und – — – doch auch nein.«

»Nicht ja, sondern bloß nein! Hast du ihre Leichen gesehen?«

»Nein.«

»Ueberreste ihrer Körper gefunden?«

»Nein.«

»Sprachst du mit Leuten, welche vollgültige Zeugen ihres Todes waren?«

»Wieder nein. Man erzählte mir von der Ermordung, aber niemand war selbst dabei gewesen; niemand hatte die That mit eigenen Augen gesehen.«

»Und doch glaubst du so fest daran? Ich an deiner Stelle hätte nach unumstößlichen Beweisen gesucht!«

»Effendi, treib mich nicht zur Selbstanklage! Mach mir das Herz nicht noch schwerer, als es während aller dieser Jahre war und auch heut noch ist!«

»Ich möchte es dir im Gegenteile erleichtern. Du hast uns jene Ereignisse in Damaskus nur ganz kurz erzählt. Denke nach! Es werden sich in dem bisher herrschenden Dunkel Stellen finden, welche lichter sind und dir vielleicht Grund zur Hoffnung bieten. Hast du denn wirklich noch gar nie nachgedacht, sondern alles als so selbstverständlich und für immer abgeschlossen hingenommen?«

»Oh, ich will dir doch gestehen, daß es Stunden gegeben hat, in denen ich an der Wahrheit dessen, was ich bisher für unumstößlich hielt, zweifeln wollte; aber wie sehr ich mich dann auch bemühte, einen einzigen Grund zu finden, der meinem Anker einen Halt bieten könnte, immer kehrte dieser, mir meinen Kummer wiederbringend, vergeblich aus der Tiefe zurück.«

»So wirf ihn nur von neuem aus!«

»Das nützt mir nichts! Sag doch selbst: Würden die Meinen, wenn sie nicht tot wären, mir nicht ein Zeichen ihres Lebens geben?«

»Sie können es nicht, weil sie nicht wissen, wo du bist.«

»Sie hätten forschen müssen, bis sie mich fanden!«

»Wahrscheinlich haben sie das gethan; aber du mußt bedenken, daß du nichts von dir hören lassen durftest. Wie sollten sie dich da finden?«

»Das ist wahr, Effendi.«

»Vielleicht haben sie auch gar nicht nach dir geforscht, weil sie dich für tot hielten. Sie mußten doch erfahren, daß du erschossen worden seist!«

»Sie konnten von den Soldaten, welche mich geschont hatten, das Gegenteil erfahren!«

»Hätten diese davon sprechen dürfen?«

»Zu meinem Weibe und ihren Eltern? Jedenfalls, denn diese hätten nichts verraten.«

»Aber wie kannst du denken, daß die Deinen auf den Gedanken hätten kommen sollen, zu den Angehörigen deiner Kompagnie zu gehen, um zu fragen, ob man, um dich zu retten, vielleicht nicht auf dich gezielt habe! Und wenn ihnen Gott selbst diesen Gedanken eingegeben hätte, so wußten sie doch nicht, welche Soldaten es waren, die man zu eurer Exekution kommandiert hatte. Sie hätten sich hin und her erkundigen müssen, und das wäre aufgefallen und hätte Argwohn erregt. Bedenke das!«

»Daran habe ich allerdings noch nicht gedacht!«

»Du hast die Ansicht gehabt, daß sie ermordet worden seien; ich aber will einmal annehmen, dies sei nicht wahr. In diesem Falle sind sie vor dem Pöbel geflohen, welcher die Schiiten ebenso wie die Christen bedrohte. Als die Straße, in welcher sie wohnten, geplündert und niedergebrannt wurde, befanden sie sich bereits in Sicherheit, vielleicht außerhalb der Stadt; es ist auch möglich, daß sie unter den Tausenden waren, welche Abd el Kader in das Kastell und in sein Haus rettete. Im ersteren Falle durften sie sich nicht eher in die Stadt zurückwagen, und im letzteren Falle konnten sie das Kastell oder das Haus des Algierers nicht eher verlassen, als bis wieder Ruhe eingetreten war; da aber warst du schon tot, das heißt, offiziell erschossen und begraben. Als sie sich wieder sehen lassen durften, erfuhren sie das. Es gab für sie keine Ahnung einer Ursache, an deiner Hinrichtung zu zweifeln; sie mußten sie als vollendetes Faktum hinnehmen. Siehst du das nicht ein?«

»Effendi, wenn du in dieser Weise sprichst, ist es mir unmöglich, dir ein Wort zu widerlegen.«

»Also weiter! Hätten sie etwa um Oeffnung des Grabes bitten sollen, um nachzuschauen, ob du auch wirklich drin liegest? Selbst wenn sie auf diese kühne Idee gekommen wären, man hätte sie wenigstens ausgelacht oder gar noch Schlimmeres gethan. Nein, die Angelegenheit ist so einfach wie nur möglich verlaufen: Sie erfuhren deinen Tod; sie haben aufrichtig und tief um dich getrauert, was sie vielleicht heut noch thun, und dann – — – was denkst du wohl, was sie dann gethan haben werden?«

»Das kann ich nicht wissen.«

»Wissen nicht, aber vermuten. Du hast ja erzählt, was viele, viele der Geretteten thaten, als sie sich wieder öffentlich zeigen durften.«

»Sie zogen von Damaskus fort.«

»Richtig. Sie trauten der erzwungenen Ruhe nicht, welcher leicht ein neues und noch größeres Blutbad folgen konnte. Warum soll grad dein Schwiegervater sich sicherer gefühlt haben als andere Schiiten oder Christen?«

Der Bimbaschi rückte höchst unruhig auf seinem Sitze hin und her. Es war geradezu zum Verwundern, daß er noch nie dieselben Gedanken wie jetzt ich gehabt hatte. Endlich antwortete er:

»Höre, Effendi, jetzt glaube ich selbst, daß der Vater meiner Frau, falls sie nicht umgebracht worden sind, nicht länger, als umumgänglich nötig war, in Damaskus geblieben ist.«

»Und meinst du, daß er es fertig gebracht hätte, nur allein seine Frau mitzunehmen?«

»Nein; er hat auf alle Fälle mein Weib und meine Kinder mitgenommen.«

»Aber wohin?«

»Wer kann das wissen!«

»Ich sage wieder wie vorhin: Man kann es nicht wissen, aber doch vermuten. Denke nach!«

»Hm! Ich an seiner Stelle wäre unbedingt nach Beirut gezogen.«

»Warum?«

»Weil er vorher dort gewohnt hatte und glücklich gewesen war.«

»Aber ich an seiner Stelle hätte das nicht gethan!«

»Aus welchem Grunde?«

»Weil der Aufstand gegen die Andersgläubigen grad im und am Libanon begonnen und dort die weitesten Kreise gezogen hatte. Die Ruhe war nur infolge des Zwanges eingetreten. Beirut liegt inmitten dieses gefährlichen Gebietes. Brach die Empörung von neuem aus, so war mit Sicherheit anzunehmen, daß sie wieder grad hier beginnen werde. Hat nun der Vater deines Weibes Damaskus aus Besorgnis, daß sich das Blutbad wiederholen werde, verlassen, so wird er doch nicht grad dahin gezogen sein, wo das neue Unheil am ehesten zu erwarten war.«

»Effendi, ich bemerke etwas wie Allwissenheit an dir!«

»Uebertreibe nicht! Nur einer ist allwissend, und den kennst auch du, obgleich du nicht an ihn glaubst. Ich ziehe nur den einfachen, gesunden Menschenverstand zu Rate und hole aus den klar daliegenden Thatsachen ebenso einfach meine Schlüsse. Das kann ein jeder thun, der seine Gedanken nicht ohne Aufsicht spazieren gehen läßt.«

»Aber sag, wohin er sich gewendet haben soll, wenn er nicht nach Beirut gegangen ist?«

»Kannst du das nicht raten?«

»Nein.«

»O Bimbaschi, wie muß ich mich da über dich wundern!«

»Daj ko katu! Da giebt‘s gar nichts zu wundern! Du magst es zugeben oder nicht, zum Erraten solcher Dinge gehört doch ein kleines Stückchen Allwissenheit, wenn auch nur ein winziges, ganz winziges Teilchen davon. Berechnen kann jeder etwas, denn er hat die Zahlen oder Ziffern dazu; was aber hat er, wenn er raten Soll, nur raten?«

»So wollen wir es nicht raten, sondern berechnen nennen. Wir haben hier ja auch Ziffern oder Zahlen, wenn diese auch nicht in Einheiten, Mehrheiten oder Nullen, sondern in Thatsachen bestehen.«

»Du wirst gelehrt, Effendi. Das verstehe ich nicht.«

»Du wirst es sofort begreifen, wenn ich dir ein Beispiel gebe. Du fühlst dich hier unglücklich und möchtest gern fort. Wenn du das könntest und nichts, aber auch gar nichts dich hinderte, deine Schritte dorthin zu lenken, wohin du gehen möchtest, welchen Ort, welche Stadt, welche Gegend oder welches Land würdest du da wählen?«

»Welch eine Frage! Die Antwort hierauf ergiebt sich doch wohl ganz von selbst. Ich würde nach dem Leh memleketi[187] gehen, weil ich ein geborener Leh Lehli[188] hin. Darüber kann es doch gar keinen Zweifel gehen!«

»Keinen Zweifel?« fragte ich lächelnd. »Es kann ihn freilich geben, denn du hast ganz denselben Zweifel soeben noch in Beziehung deines Schwiegervaters gehegt.«

»Ich?« fragte er erstaunt.

»Ja.«

»Wieso?«

»Du befandest dich in Zweifel darüber, nach welcher Gegend oder welchem Lande er sich gewendet hat.«

»Maschallah! Ja, das ist wirklich ein Wunder! Effendi, wie du mich zu fangen verstehst!«

»Nun, was sagst du jetzt?«

»Er ist nach Persien gegangen; ja, er konnte nur nach Persien gehen, weil er ein geborener Perser ist. Das Unglück, welches er in der Fremde, im Auslande erlebte, muß ihn dahin getrieben haben, wohin es das Herz des Menschen bis an das Ende seines Lebens immer und immer wieder zieht, nämlich nach seinem Vaterlande. Ist auch dir dieser Zug nach der Heimat bekannt?«

»Jetzt möchte nun ich ausrufen wie vorhin du: Welch eine Frage! Ich war es doch wohl, der dich auf Polen aufmerksam machte, damit du Persien raten solltest. Kann mir da die nie endende Anhänglichkeit des Menschen an die Stätte, wo seine Eltern gewohnt haben, unbekannt sein?«

»Nein; meine Frage war ganz unnötig. Also nach Persien! Und ich wohne schon so lange Zeit und so nahe an der Grenze dieses Landes, ohne auf den Gedanken gekommen zu sein, den du mir jetzt eingegeben hast. Wie hätte ich forschen können, zwar nicht selbst, aber durch andere Leute, denn ich durfte nicht von hier weg! Vielleicht hätte ich die gefunden, welche ich für verloren hielt. O Effendi, was habe ich versäumt! Ich bin ganz, ganz untröstlich darüber!«

»Beruhige dich!«

»Beruhigen? Das kannst nur du sagen, der du nicht weißt, was es heißt, alles verloren und nichts wiedergefunden zu haben, weil man nicht verstanden hat, an der richtigen Stelle zu suchen!«

»Beruhige dich! Wie es scheint, haben wir jetzt unsere Standpunkte vertauscht. Du hast den meinigen eingenommen und mir den deinigen überlassen.«

»Wieso?«

»Vorhin wolltest du von keiner Hoffnung etwas wissen, und ich versuchte, dir den Strahl einer solchen in das Herz fließen zu lassen. Jetzt scheint es keine Trauer, sondern bloß noch Hoffnung in dir zu geben, und ich muß dich nun wieder zu deinen früheren Zweifeln führen.«

»Thu das nicht, Effendi, thu das nicht; ich bitte dich! Du ahnst ja gar nicht, wie glücklich du mich damit gemacht hast, daß du das Blut der Meinen, welches ich für vergossen hielt, aus meinem Gedächtnisse wischtest.«

»Du irrst. Ich habe diese blutigen Spuren nicht vertilgt, denn eine solche Absicht wäre gleich einer Versündigung an dir gewesen. Es lag mir fern, bestimmte Erwartungen oder gar eine volle Ueberzeugung in dir zu erwecken, denn wenn sie sich später als Trugbilder erwiesen, so müßte dein Gram sich verdoppeln oder gar in einen tödlichen verwandeln. Ich wollte, wie ich schon sagte, dir nur einen Strahl der Hoffnung geben, der deiner starren Gleichgültigkeit gegen das Leben ein Ende machen sollte. Du aber springst sofort von einem Extrem in das andere über und nimmst als eine Gewißheit an, was nicht einmal wahrscheinlich, sondern höchstens möglich ist. Hüte dich! Ich werde dir jetzt überzeugende Gründe vorführen, daß deine Lieben ermordet worden sind.«

»Nein, nein; thue das nicht!« wehrte er ab. »Diese Gründe kenne ich alle, alle nur zu genau. Sie haben mir alle Lebensfreude getötet und selbst den geringsten Genuß des Daseins zur Unmöglichkeit gemacht. Ich verspreche dir, daß ich nicht überschwänglich denken und hoffen will. Ich gebe dir mein Wort, daß ich zwischen Hoffnung und Befürchtung gehen werde, bis die eine oder die andere zur Gewißheit wird!«

»Thue das; das ist das richtige Verhalten. Glaube mir, daß ich, indem ich dir diese Hoffnung gab, mir meiner Verantwortlichkeit voll und ganz bewußt gewesen bin; aber indem ich einer innern Stimme folgte, habe ich es gewagt. Diese Stimme hat mich noch nie getäuscht, außer wenn ich sie einmal mißverstand; sie hat mich oft, sehr oft aus schweren Gefahren geführt und mir bei der Lösung von Aufgaben beigestanden, zu der ich ohne sie zu schwach gewesen wäre. Es ist, wenn ich diese Stimme wahrnehme, als ob mein Schutzengel mit mir spräche, und indem ich sie höre und ihr gehorche, fühle ich mich selig und mein Herz gehoben wie in Engelsnähe. Als sie sich vorhin wie eine freundliche Ahnung, und doch viel heller, klarer und bestimmter als eine Ahnung, in mir bemerkbar machte, konnte ich ihr nicht widerstehen; ich mußte ihr meine Bedenken opfern und von der Möglichkeit eines Morgens nach langer, dunkler Nacht zu dir sprechen. Ich glaube nicht, daß ich diese Stimme heut falsch verstanden habe, aber ich warne dich dennoch, mehr zu erwarten, als eine bloße Möglichkeit versprechen und erfüllen kann.«

 

»Ich danke dir, Effendi, und werde so vorsichtig sein, wie du es wünschest; aber den Strahl, welcher schon begonnen hat, mein altes, müdes Herz zu erwärmen, den gebe ich nicht wieder her. Ich sage dir, es ist sonderbar: in keiner Kirche und in keiner Moschee habe ich die fromme, erhebende Regung gespürt, welche ich jetzt in mir auftauchen fühle. Du bist weder ein christlicher, noch ein muhammedanischer Prediger, aber deine Worte haben mir – — – «

»Verkenne dich und dein Inneres nicht selbst!« unterbrach ich ihn. »Du bist stets ein Weltkind mit nur irdischen Wünschen und Gedanken gewesen; dein Herz war für die Forderungen des Himmels so fest verschlossen, daß das Wort weder eines Wa‘is[189] noch eines Chatib[190] es zu öffnen vermochte. Es mußten Trübsale über dich ergehen und lange, schwere Leiden deine Seele vorbereiten; dann war vorauszusehen, daß die erste Hand, welche freundlich nach dir griff, dich aus der Tiefe des Elendes und der Glaubenslosigkeit auf die erste Stufe der Erkenntnis führen werde. Daß dies grad meine Hand gewesen ist, darfst du nicht mir anrechnen; deine Zeit ist gekommen, und jeder andere, falls er fest im Glauben und treu in der Liebe war, hätte dir ganz dieselbe Gabe wie heut ich gebracht. Du ahnst noch nicht, was auf unsere jetzige Unterredung folgen wird; aber ich sage dir, es wird ein Licht aufgehen, welches du nicht auslöschen kannst, wenn du das auch wolltest. Es wird immer größer werden und schließlich dich und dein ganzes Sein und Wesen erleuchten.«

»Glaubst du das wirklich, Effendi?« fragte er, vor Ergriffenheit fast nur flüsternd.

»Ich bin überzeugt davon. Gott, den du leugnest, hat schon die verborgenste Falte deines Herzens ergriffen; es wird ihm sehr bald ganz und voll gehören. Wo seine allmächtige Liebe ihren Einzug halten will, gibt‘s keinen Widerstand.«

Da sprang er auf und rief:

»Liebe, Liebe! Gieb mir mein Weib, gieb mir meine Kinder wieder, und ich will, o Liebe Gottes, an dich glauben und dich festhalten bis zum letzten Augenblick des Lebens und noch länger – länger – — länger!«

»Noch länger! Da sprichst du schon von der Ewigkeit, die du noch vor kaum einer Stunde leugnetest. Halte die Hand fest, welche sich dir heut geboten hat, um dich zu retten! Aber verlang ja nicht zu viel von ihr; stelle keine Bedingungen, denn Gott läßt nicht mit sich feilschen! Will er dir gnädig sein, so ist er es ohne Handel. Bete zu ihm, so oft du kannst, denn die Stufen des Gebetes sind es, auf denen er herniedersteigt!«

Es trat eine tiefe Stille ein, welche lange, lange währte. Die Palmenwedel flüsterten wieder; aber das klang jetzt nicht mehr wie Märchenklänge aus Tausend und eine Nacht, sondern wie ein süßes, liebe- und verheißungsvolles Mahnen: »Rufet, so werdet ihr mich finden; klopfet an, so wird euch aufgethan!« Der Bimbaschi hatte sich wieder niedergesetzt und die Hände ineinander verschlungen. Jetzt trennte er sie, reichte mir die Rechte hin, um die meinige zu drücken, und sagte:

»Weißt du, was ich jetzt gethan habe?«

»Ja. Du hast gebetet,« antwortete ich.

»Gebetet; du hast es erraten. Ich habe gebetet, aus eigenem Antriebe zum ersten, zum allererstenmal in meinem Leben gebetet! Wie oft habe ich die Beter ausgelacht oder gar bemitleidet, und nun fühle ich, daß ich es war, der Mitleid verdiente. Es ist mir, als ob ich lange, lange krank und schwach, zum Sterben krank, gelegen und eine Arznei von wunderbarer Kraft bekommen hätte, welche mir mit einem Male die verlorene Stärke und Gesundheit wiederbrachte. Seit dem Verluste meiner Familie bin ich kein Mensch gewesen; ich habe nicht gelebt; aber jetzt lebe ich, lebe wieder und sehe ein, daß Tausende, ja vielleicht Millionen dahinleben, ohne wirklich zu leben.«

»Ja, ein wirkliches Leben lebt nur der, welcher in Gott und seiner Liebe lebt. Dir war die Liebe gestorben, und an ihrer Stelle wucherten in dir der Groll, der Haß, die Rache empor. Du warfst die ganze Schuld an deinem verfehlten Dasein auf Gott, ohne zu bedenken, daß niemand schuld war als du selbst. In deiner hochmütigen Selbstgerechtigkeit hadertest du mit Gott und hieltest seine ewige, unwandelbare Gerechtigkeit für Ungerechtigkeit. Du allein warst es, der gefehlt hatte; aber es mangelte dir die Selbsterkenntnis, und so klagtest du nicht dich an, sondern den, von dem du zum Glücke geführt worden wärest, wenn du seine Gebote geachtet hättest. Du glaubtest, er habe dich vernachlässigt, obgleich du des Glückes vielleicht würdiger seist als andere Menschen. Du hast dich gegen die von ihm bestätigte Obrigkeit empört und bist, wie du selbst eingestandest, als Aufrührer im Blute gewatet; du bist um nichtiger Vorteile willen zu einem andern Glauben übergetreten und hast dadurch die heilige Lehre Christi und die fromme Ehrfurcht vor allem, was über uns erhaben ist, verleugnet; dir stand die Liebe zu den Deinen höher als die erste Verpflichtung des Menschen, himmelan zu streben, und bis zum heutigen Tage hat dich nur der Kummer um dein irdisches Unglück und die Sehnsucht nach irdischem Wohlergehen beschäftigt, nicht aber der Gram um die Umnachtung deiner Seele und die Besorgnis um dein ewiges Heil. Du hast dich vor dem Strahle der Sonne versteckt und wunderst dich darüber, daß du frierst; du hast das Wasser des Lebens verschmäht und bist erzürnt darüber, daß du dürstest; du hast dir die Thore des Glückes verschlossen und ballst in kindischem Trotz und Unverstand die Faust gegen den Vater, der sie offen für dich hielt. Das alles, alles hast du gethan, und noch viel, viel mehr hast du unterlassen; aber fragtest du dich etwa, was auf so schwere Begehungs- und Unterlassungssünden folgen muß? Nein! Du hast weit mehr verdient, als was dir geschehen ist. Gott brauchte gar nicht ungerecht zu sein, wie du ihn genannt hast, sondern nur gerecht, so säßest du jetzt entweder gar nicht oder als ein zehnmal unglückseligerer Mann hier vor meinen Augen. Du bist nicht imstande, einzusehen, wie barmherzig er trotz allem, worüber du klagst, gegen dich gewesen ist, mit welcher Langmut er gezögert hat, dir deine Schuld voll anzurechnen und welch eine unverdiente Gnade von ihm es für dich ist, daß er dir jetzt einen Lichtstrahl sendet, und zwar grad durch mich, gegen den du ihn verleugnet oder gar der Ungerechtigkeit beschuldigt hast.«

Als ich jetzt schwieg, zögerte er, zu antworten. Es waren schwere Anklagen, die ich ausgesprochen hatte, Anklagen, die ihn um so kräftiger treffen mußten, je weniger bisher von Selbsterkenntnis bei ihm die Rede gewesen war. Es wäre ein großer Fehler von mir gewesen, ihn in dieser Beziehung zu schonen. Steht der Arzt vor einem Menschen, welcher seine Gesundheit durch ein unordentliches Leben ruiniert hat, so muß er, wenn er ihn heilen will, ihm mit voller Aufrichtigkeit sagen, welchen Ursachen die Krankheiten zuzuschreiben sind. Und die Verpflichtungen des Seelenarztes sind nicht weniger hoch als diejenigen eines Mediziners, welcher die Aufgabe hat, nur die körperlichen Gebrechen zu behandeln. Der Bimbaschi mußte niedergedrückt werden, um sich desto höher aufrichten zu können. Um erkennen zu können, wie ungerecht er, der Wurm, gegen den Allvater der Welt gewesen war, mußte er einsehen, daß ihm dieser, anstatt ihn durch seine Gerechtigkeit zu vernichten, nur Gnade um Gnade gegeben hatte. Schienen meine Worte hart gewesen zu sein, so hatte ich doch nicht darnach fragen dürfen, ob sie mir übelgenommen werden könnten, denn wenn sie eine solche Aufnahme fanden, dann war dem Bimbaschi auf geistlichem Gebiete überhaupt nicht mehr zu helfen. Ich war aber der guten Zuversicht, daß sie die gewünschte Aufnahme finden und die beabsichtigte Wirkung haben würden.

Was ich gedacht hatte, das geschah. Er gestand mir nach einer längeren Pause:

»Effendi, hätte ein anderer so zu mir gesprochen wie du, so hätte er gewärtig sein müssen, hier vom Dache hinabgestürzt zu werden, denn ich bin zwar alt geworden, und der Onbaschi scheint die Bequemlichkeit zu lieben; aber es scheint auch nur so, denn in Wirklichkeit können wir bei Beleidigungen noch sehr schnell bei der Hand sein. Von dir jedoch nehme ich diese Worte ruhig hin, denn ich weiß, du meinst es gut mit mir, und wenn ich auch noch nicht mit vollster Bestimmtheit erkenne, daß deine Vorwürfe die Wahrheit enthalten, so finde ich doch auch keine Worte, mit denen ich sie widerlegen könnte, und es taucht in mir eine Ahnung auf, daß es gar nicht lange dauern werde, bis ich einsehe, daß du tiefer als ich selbst in mich hinabgeblickt hast. Ich komme mir vor wie ein Patient, welcher dem Arzte wehrlos in die Hand gegeben ist. ich möchte mich gegen dich sträuben und fühle doch, daß das, was mir wehe thut, wie eine Wohlthat wirken wird, und daß ich die Hand, welche mir heut Schmerzen bereitet, vielleicht einst noch segnen werde. Ich bin überhaupt so weich, so sonderbar gestimmt, wie ich es noch nie in meinem Leben war. Ich gleiche einer Pflanze, welche einen schweren Regen auf sich fallen lassen muß, der ihr wohl die Blätter, oder wenigstens einige derselben, von den Zweigen schlägt, aber dabei ihren dürstenden Wurzeln Nahrung giebt, daß sie neue, schönere und grünere und vielleicht gar auch Blüten treiben und Früchte bringen kann. Es würden das« – — fügte er nachdenklich hinzu – —»am Ende wohl die ersten guten und nützlichen Früchte meines Lebens sein, auf welche ich zeigen könnte, wenn ich dereinst gefragt werde, was ich mit meinem Dasein begonnen und wie ich die Zeit desselben angewendet habe.«

184Grab.
185Wespe.
186Adler.
187Polen.
188Pole.
189Christlicher Prediger.
190Muhammedanischer Prediger.