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Die Juweleninsel

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»Unter dem Thore ist es finster.«

»Aber, wenn man uns auf dem Hofe begegnet? Selbst wenn wir vollständige Uniform trügen, würde jeder Aufseher, auf den wir treffen, wegen unsern fremden Gesichtern aufmerksam werden und uns anhalten.«

»Ich werde dafür sorgen, daß uns Niemand begegnet.«

»Wie wollen Sie das fertig bringen?«

»Sie wissen, daß ich sehr oft Befehle des Direktors an andere Beamte zu überbringen habe. Ich werde eine augenblickliche Konferenz im Speisesaale anheißen.«

»Gefährlich!«

»Gar nicht, denn der Direktor ist jetzt nicht in der Anstalt. Ich brauche diesen Befehl nur den beiden Oberaufsehern zu überbringen, so sind in fünf Minuten alle Aufseher außer dem Wachthabenden und den Visitatoren, die nicht von ihren Leuten fortkönnen, im Speisesaale versammelt. Also einmal fest und sicher: Sie fliehen wirklich mit?«

»Ja; lieber todt als länger hier!«

»Gut; so gehe ich jetzt. Zwei Minuten, nachdem Sie mich wieder vorübergehen sehen, kommen Sie zum Thorhabenden, aber einzeln, damit es nicht auffällt.«

Er ging.

»Ein verwegener Kerl!« meinte der Arbeitsschreiber. »Er hätte Anlagen, ganz so zu werden, wie sein Vater früher war. Ich möchte doch wissen, warum er sich gerade für uns Beide so interessirt und uns gern mit frei sehen möchte.«

»Einestheils, weil wir seinem Vater, dem Herzoge von Raumburg, so treu dienten und deshalb in die gegenwärtige Lage kamen, und anderntheils, weil er glaubt, daß unsere Anhänglichkeit ihm später von Nutzen sein wird. Wir können uns seine Sorge für uns sehr gefallen lassen. Ohne ihn würde uns eine Flucht schwerlich gelingen, und wenn wir die Freiheit erreichen, gewährt er uns mit seinen Verbindungen die beste Sicherheit, daß wir nicht in die Hände unserer Verfolger zurückgerathen. Es versteht sich ganz von selbst, daß unsere Flucht ein ungeheures Aufsehen erregen und man Alles aufbieten wird, uns wieder zu ergreifen.«

»Wenn ihnen dies gelänge, würde ich mich tödten.«

»Ich mich auch; vorher aber würde ich mich nach allen Kräften zur Wehre setzen. Ehe man mich fängt müssen erst Einige daran glauben. Ich habe aus dem Bestecke des Arztes einige Messer zu mir gesteckt, mit denen man sich schon vertheidigen kann. Willst Du eins?«

»Ja. Gib her!«

Jetzt schritten einige Aufseher eilig vorüber.

»Schau, seine Finte beginnt bereits zu wirken. Die gehen nach dem Speisesaale.«

»Dieser Gedanke von ihm war ausgezeichnet. Nun wird für uns der Weg frei.«

Einige Augenblicke später schritt der Badewärter langsam über den Hof und gab ein leises, für andere unbemerkbares Zeichen, daß Alles gut gehe. Er begab sich in die Wachtstube, wo sich der Thorhabende ganz allein befand.

»Herr Aufseher!«

»Was willst Du?«

»Der Herr Aufseher Wendler ist bei mir im Bade. Er hat die Seife vergessen, die in der Tasche seines Kapots steckt. Sie sollten so freundlich sein und sie ihm schicken.«

»Gleich. Warte hier!«

Er trat in die nebenan befindliche Garderobe und suchte. Nach kurzer Zeit meinte er:

»Es steckt keine Seife drin. Komm heraus und suche selbst einmal nach!«

Der Badewärter warf einen raschen Blick durch das Fenster und sah den Arbeitsschreiber bereits kommen. Ein anderer Mensch war nirgends weiter zu sehen. Es war Zeit. Er trat zu dem Aufseher.

»Hier sind die Taschen!« sprach dieser.

»Schön. Werde Ihnen zeigen, daß ich mehr Geschick besitze als Sie, mein Gutester!«

Mit diesen Worten faßte er den Aufseher von hinten bei der Gurgel und drückte diese zusammen, daß der Ueberfallene keinen Laut von sich geben konnte. Er versuchte sich zu befreien, brachte es aber nur zu einigen kurzen konvulsivischen Bewegungen.

In diesem Augenblicke trat der Schreiber ein und eilte sofort herbei.

»Nehmen Sie sein Taschentuch und stecken Sie es ihm in den Mund!« gebot Raumburg.

Der Schreiber gehorchte, mußte aber mit seinem Messer die Zähne des Aufsehers auseinanderbrechen.

»Nehmen Sie die Schnur hier aus meiner Tasche und binden Sie ihm die Hände auf den Rücken und die Füße zusammen!«

Dies geschah, und hier konnte auch der Krankenschreiber mithelfen, welcher unterdessen hinzugekommen war. Dann wurde der gefesselte und geknebelte Mann in den Winkel geworfen.

»Hier hängt sein Degen, den er abgelegt hat,« meinte Raumburg. »Ich werde ihn umschnallen, da ich unter uns wohl derjenige bin, der am besten mit dieser Waffe umzugehen versteht. Nun schnell die Ueberröcke an und die Mützen auf. Dann fort.«

Den beiden Andern ging denn doch der Athem etwas laut. In solchen Fällen handelt auch der Muthigste nicht ohne einige Erregung. So vorbereitet verließen sie das Zimmer. Der Badewärter verschloß es und steckte den Schlüssel zu sich.

»Nun straks über den Hof und zwar in militärischer sicherer Haltung.«

Sie gelangten unangefochten an das Innenthor des Eingangs und klopften.

»Wer da!« ließ sich im Thorgewölbe die Stimme des Postens vernehmen.

»Drei Aufseher zum Ausgehen,« antwortete Raumburg fest.

»Können passiren!«

Es öffnete sich zuerst das innere und dann auch das äußere Thor, und Raumburg selbst zog dieses letztere hinter sich zu, damit es dem Posten nicht einfallen solle ihnen nachzublicken.

»Gott sei Dank; es scheint zu gelingen! Nun schnell die Mauer entlang und in das Freie; denn den betretenen Weg müssen wir vermeiden.«

Nicht gar zu eilig, denn das hätte Verdacht erregen können, aber doch mit möglichster Schnelligkeit gingen sie längs der Mauer hin und gelangten in das offene Feld. Hier sahen sie einen schmalen Fußpfad, welcher zum nächsten Dorfe führte und, wie sich von hier oben leicht bemerken ließ, jetzt nicht begangen war. Ihn schlugen sie ein.

»Nun können Sie uns wohl auch sagen, auf welche Weise Sie in Verbindung mit der Außenwelt gelangten,« meinte der frühere Irrenhausdirektor zu Raumburg.

»Das war nicht so schwierig, als ich vorher meinte,« antwortete dieser. »Als Badewärter hatte ich sehr oft in der Küche zu thun, des heißen Wassers wegen. Der Fleischer, welcher das wenige Fleisch, das in das Anstaltsessen geschnitten wird, zu liefern hat, kommt täglich des Morgens zu einer bestimmten Stunde, um dasselbe abzugeben. Er gehört zu denjenigen nicht amtlichen Personen, denen der Zutritt ohne besondere vorherige Anmeldung gestattet ist. Als ich ihn zum ersten Male sah, erkannte ich in ihm einen früheren Ulanen, der, als ich noch den Grad eines Rittmeisters besaß, mein Bursche gewesen war. Er war ein treuer williger Kerl gewesen, und ich hatte ihn bei seiner Verabschiedung unterstützt, so daß er heirathen und eine eigene Fleischerei anfangen konnte. Er war mir also einige Dankbarkeit schuldig. Er erschrak förmlich, als auch er mich erkannte, ließ sich aber nichts weiter merken. Aus einigen Worten, welche er scheinbar an den Koch richtete, hörte ich, daß er mich wiedersehen wolle, und so suchte ich es einzurichten, daß ich am nächsten Tage zu derselben Stunde wieder in die Küche mußte. Er ließ ein zusammengewickeltes Papierchen fallen, auf welches ich den Fuß setzte, um es dann unbemerkt aufzuheben. Er frug mich in den wenigen Zeilen, welche es enthielt, ob er etwas für mich thun könne, und erklärte sich zu allem bereit, was ich von ihm wünschen werde. Ich hielt mich in fortwährendem Verkehre mit ihm und ließ durch ihn einen Brief an Prinz Hugo von Süderland abgehen.«

»Den tollen Prinzen?«

»Ja. Dieser antwortete mir, daß er gern nach Kräften für mich handeln und sorgen werde, und hat mir einen Vertrauten geschickt, der mich mit einem Wagen erwartet, um uns über die Grenze und dann einstweilen in ein sicheres Asyl zu bringen.«

»Werden auch wir dem Prinzen willkommen sein?«

»Ich verbürge mich dafür.«

»Dann gestatte ich mir in Beziehung auf unsere Reise nach der Grenze einige Bedenken.«

»Welche?«

»Es ist zu Wagen nicht geheuer dort, wir Beide haben dies zur Genüge erfahren.«

»Ah, ich weiß, daß Sie da oben gefangen worden sind.«

»Allerdings. Die Bahn können wir freilich nicht benutzen, aber der Wagen bietet uns bei den wenigen Pässen, welche durch das Gebirge führen, ganz dieselbe Gefahr. Man wird bei der Nachricht von unserer Flucht diese Pässe sofort besetzen, so daß ein Wagen nicht passiren kann ohne durchsucht zu werden.«

»Hm, das ist richtig! Es wäre da wohl vortheilhafter, wenn wir die Tour zu Fuße machten. Da kann man leichter ausweichen und ist freier und ungebundener in allen seinen Bewegungen. Ich möchte mich beinahe dafür entscheiden. Was sagen Sie dazu?«

»Ich rathe es sehr.«

»Gut, so sei es entschieden. Aber heut und morgen kommen wir noch nicht in die Berge. Da nehmen wir den Wagen. Dort ist das Dorf. Aber kommt uns da nicht ein Mann entgegen?«

»Ein Spaziergänger.«

»Es scheint so, denn er schlendert dahin, als ob er sich nur ein wenig ausgehen wolle. Aber, hat er nicht etwas in der Hand?«

»Allerdings. Es scheint eine Peitsche oder etwas dem Aehnliches zu sein.«

»Wenn es eine Peitsche ist, so ist er unser Mann. Es ist ausgemacht, daß er dieses Erkennungszeichen mit sich führen und so viel wie möglich gegen die Anstalt zu patroulliren soll. Sehen Sie, auch er hat uns bemerkt und bleibt stehen. Er ist es jedenfalls.«

Sie kamen näher. Er zog die Mütze und grüßte höflich. Raumburg dankte und frug:

»Sagen Sie einmal, lieber Mann, sind Sie da aus diesem Dorfe?«

»Nein.«

»Woher sonst?«

»Weit her.«

»Was thun Sie hier?«

»Ich warte.«

»Ah, richtig! Sie sind aus Himmelstein?«

Der Mann nickte erfreut. Er wußte jetzt, daß er nicht umsonst gewartet habe.

»Ja, meine Herren.«

»Wohl ein Schloßbedienter des Prinzen?«

»Der Schloßvogt selbst. Welcher von den Herren ist es, den ich fahren soll?«

»Wir sind es alle Drei.«

»Ah, ich weiß nur von Einem!«

 

»Thut nichts. Ich bin Derjenige, an den Sie adressirt sind, mein Name ist von Raumburg. Diese Herren hier sind meine Freunde, welche ich Ihrem Herrn sehr zu empfehlen habe. Wie lange Zeit brauchen Sie um uns aufnehmen zu können?«

»Nicht volle zehn Minuten von jetzt an. Ich brauche nur die Pferde, welche bereits eingeschirrt sind, aus dem Stalle zu ziehen und an den Wagen zu hängen.«

»So kommen Sie!«

»In das Dorf? Nein, meine Herren; es ist nicht nothwendig, daß Sie sich dort sehen lassen; das würde Ihre Spur ja sofort verrathen. Man ist übrigens bereits aufmerksam auf mich geworden, weil ich die Pferde gar nicht ausgeschirrt habe und immerwährend hier spazieren gegangen bin. Gehen Sie rechts um das Dorf herum und dann möglichst in der Nähe der Straße weiter. Ich komme sofort nach, und dann können Sie einsteigen.«

»Sind Sie für mich mit allem Nöthigen versehen?«

»Mit Kleidungsstücken nur für Sie, und zwar auch nur für den ersten Augenblick, da ich nicht weiß, ob sie passen werden. Doch sind solche Dinge ja in jedem Laden sehr leicht zu bekommen, nur müssen wir diese Gegend erst hinter uns haben.«

»Und Geld?«

»So viel, wie Sie bis Schloß Himmelstein nur immer brauchen können. Seine Hoheit haben mir diese Börse und diese Brieftasche gegeben, um Beides Ihnen zu überreichen.«

»Danke! Also spannen Sie schleunigst an, damit wir nicht auf Sie zu warten brauchen.«

Der Schloßvogt eilte in das Dorf zurück, und die drei Flüchtlinge wandten sich um dasselbe herum. Sie gelangten hinter demselben auf die Straße, und da sie Niemand da bemerkten, schritten sie langsam auf derselben vorwärts. Sie sollten bald erkennen, was für eine große Unvorsichtigkeit sie damit begingen. Als sie an eine Biegung der Straße kamen, wo die Fortsetzung der letzteren ihnen durch ein Gebüsch verdeckt gewesen war, zuckte Raumburg vor heftigem Schreck zusammen.

»Alle Teufel, ein Gensdarm!«

»Wahrhaftig!« rief auch der Krankenschreiber. »Was thun wir?«

»Fliehen,« meinte der frühere Oberarzt. »Dort seitwärts in die Büsche hinein!«

»Nein, das geht nicht. Er hat uns bereits gesehen. Vorwärts, wir gehen gerade auf ihn zu!« entschied Raumburg.

»Aber er hat den Karabiner!«

»Und wir sechs Hände. Fürchten Sie sich?«

Der Gensdarm kam langsam näher, den Karabiner über die Schulter gehangen. Er hielt sie für Strafanstaltsbeamte und hob schon die Hand zum militärischen Gruße zur Mütze empor, ließ sie aber überrascht wieder sinken. Er war aufmerksam geworden.

2»Guten Tag, meine Herren! Wohin?«

»Spazieren,« antwortete Raumburg.

»Sie haben frei?«

»Ja, Nachtdienst gehabt; da gibt es stets einen offenen Tag.«

»Habe Sie noch niemals gesehen und kenne doch die Kameraden alle. Sie sind wohl noch nicht lange hier angestellt?«

»Schon seit geraumer Zeit; doch sind wir erst vor Kurzem hieher versetzt worden.«

»Es scheint, Sie haben sich noch nicht vollständig equipirt, oder trugen Sie an Ihrem früheren Dienstorte Schuhe und Hosen von Sträflingstuch?«

»Allerdings.«

»Auch ein Sträflingshalstuch anstatt der Binde? Ah, mein Lieber, machen Sie den Mund zu, sonst fällt Ihnen der Schnurrbart hinein! Meine Herren, Sie haben wohl die Güte, mit mir nach dem Dorfe zurückzukehren!«

»Warum?«

»Sie kommen mir verdächtig vor.«

»Verdächtig? Anstaltsaufseher? Das ist denn doch im höchsten Grade spaßhaft!«

»Nicht ganz so spaßhaft wie die Maskerade, welche Sie treiben, trotzdem wir nicht in der Fastenzeit leben. Bitte, drehen Sie sich um; Sie begleiten mich!«

»Meinetwegen!« antwortete Raumburg gleichmüthig. »Wir wollen den Spaß mitmachen und haben keineswegs etwas dagegen, wenn ein Gensdarm Lust hat, sich da von den Bauern auslachen zu lassen.«

»Das mit dem Auslachen wird sich wohl finden! Ah, was ist denn das?«

Ein dumpfer, weithin dröhnender Ton war von der Stadt her erschollen. Der Sicherheitsbeamte blieb horchend stehen und ließ dann den Karabiner von der Schulter schlüpfen.

»Ein Kanonenschuß – — noch einer – — – und jetzt ein dritter! Holla, es sind drei Züchtlinge entsprungen, und die seid Ihr. Vorwärts marsch, zurück!«

»Herzlich gern, Herr Wachtmeister!« antwortete Raumburg.

Er hatte seinen Wagen kommen sehen, der mit zwei ausgezeichneten Braunen bespannt war. Der Schloßvogt saß auf dem Bocke. Er sah den Gensdarm, welcher die Drei geführt brachte, und ließ sofort die Pferde halten. Absteigen, den einen Wagenschlag öffnen und wieder aufspringen war bei ihm das Werk eines Augenblicks. Er wußte, daß jetzt alles auf ihn ankam.

»Herr Wachtmeister,« rief er, als dieser mit seiner Begleitung herangekommen war; »haben Sie die Schüsse gehört? Es sind drei Züchtlinge entsprungen.«

»Habe sie bereits erwischt. Hier sind sie!«

»Donnerwetter! Dachte mir gleich so etwas, als ich Sie sah. Aber besser ist besser: ich habe schon aufgemacht; wollen Sie nicht meinen Wagen nehmen? Da haben Sie die Hallunken sicherer.«

»Ists Ihr Ernst?«

»Freilich! Ich versäume höchstens eine halbe Stunde Zeit, und die bringe ich schnell wieder ein. Ein Glas Bier fällt wohl auch ab?«

»Das und noch mehr. Ich nehme Ihr Anerbieten an.«

»Wo lade ich ab?«

»Vor dem Anstaltsthore. Lenken Sie um!«

»Ist auch Zeit, wenn Sie drinnen sind. Man darf solche Schlingels nicht so lange auf der Straße stehen lassen.«

»Gut! Vorwärts, eingestiegen!«

Der Vogt hielt die Peitsche hiebgerecht, nahm die Pferde hoch in die Zügel und wartete auf den entscheidenden Augenblick, der ja gleich kommen mußte. Erst stiegen die beiden Schreiber ein, dann folgte Raumburg. jetzt legte der Gensdarm die Hand an den Schlag.

»Herr Wachtmeister!« rief der Kutscher.

»Was?«

»Sie haben am Ende doch die Unrechten! Sind das nicht Züchtlinge, die drei Männer, welche dort über die Wiese gesprungen kommen?«

»Wo?«

»Rechts da drüben!«

Die Kutsche stand zwischen dem Gensdarm und der Gegend, nach welcher der Schloßvogt zeigte. Darum nahm der Beamte die Hand vom Schlage und trat nach hinten, um besser sehen zu können. Da sauste die Peitsche auf die Pferde nieder; diese stiegen in die Höhe und zogen mit einem schnellen Rucke an.

»Adieu, Herr Wachtmeister; es sind doch die Richtigen!« klang es lachend vom Bocke hernieder.

Der Geprellte faßte sich schnell. Er hob den Karabiner in die Höhe und rief:

»Halt, oder ich schieße!«

Das Gebot wurde nicht beachtet. Der Schuß krachte und noch einer – die Kugeln schlugen beide in den Wagen ein; dieser jedoch flog in sausendem Galoppe weiter. Die Vögel waren zum zweiten Male entwischt. –

Am späten Nachmittage des folgenden Tages ritten auf der Gebirgsstraße ein Knabe und ein Mädchen auf kleinen schottischen Ponnys dahin. Der Knabe mochte etwas über vierzehn und das Mädchen ungefähr zehn Jahre zählen, doch war das letztere im Reiten sichtlich bewanderter als der erstere.

»Das ist eigentlich sonderbar bei Dir,« meinte das Mädchen. »Du hast drei Väter.«

»Wieso, Magda?«

»Nun, Du hast einen Vater, den hast Du gar niemals gesehen, dann hast Du einen Vater, der ist Dein Stiefvater, und endlich hast Du noch einen Vater, der ist auch mein Papa.«

»Ja, ich muß Papa zu ihm sagen, aber hat er mich denn auch wirklich so lieb, wie ein Vater gewöhnlich seine Kinder liebt?«

»Der Papa? Der hat Dich sehr lieb, das kannst Du mir glauben. Ich war dabei, als er mit Herrn Walther von Dir sprach.«

»Was hat er da gesagt?«

»Ja, das darf ich Dir eigentlich gar nicht verrathen, Kurt; denn sonst wirst Du mir am Ende gar stolz, und Du weißt doch, daß ich dies niemals gern leiden mag.«

»Ich verspreche Dir, daß ich nicht stolz werde. Ich habe übrigens auch gar keine Anlagen dazu.«

»Er sagte nämlich so:[»] Dabei setzte sich das hübsche Kind auf ihrem Ponny in eine sehr würdevolle Positur zurecht, um die Haltung und Miene nachzuahmen, welche ihr Vater bei den betreffenden Worten gezeigt hatte. »Mein lieber Herr Walther, Sie sind der Erzieher meiner Tochter, und ich freue mich Ihnen sagen zu können, daß ich mit Ihnen sehr zufrieden bin. Ich habe Ihnen jetzt auch meinen Pflegesohn übergeben. Er ist ein armer Schifferknabe und hat nur einen solchen Unterricht genossen, wie er in einer gewöhnlichen Volksschule ertheilt wird; aber er besitzt ausgezeichnete Anlagen und eine Lust zum Lernen, die ihm helfen wird auch größere Schwierigkeiten zu überwinden. Er hat ein sehr gutes Herz, ist offen und ehrlich in allen Fällen; man muß ihm herzlich gut sein, und ich wünsche, daß auch Sie ihm Ihre Liebe widmen. Er soll Marineoffizier werden, haben Sie die Güte, Ihren Unterricht nach diesem Plane zu arrangiren! Siehst Du, so hat Papa gesagt, und noch vieles Andere dazu, was Alles sehr gut und schön geklungen hat.«

»Das freut mich sehr. Das hätte meine Mutter hören sollen, die wäre recht glücklich darüber gewesen. Sie hat mir geboten, Alles zu thun um die Zufriedenheit Deines Papa zu erlangen.«

»Ich habe es ihr bereits erzählt. Aber, Kurt, Du sollst nicht sagen »Deines« Papa; er ist ja auch Dein Vater, und ich bin also Deine Schwester. Ich freue mich unendlich, daß ich einen Bruder habe, denn das ist viel besser als vorher. Auch die Tanten haben Dich sehr gern. Sie gewinnen nicht gleich jemanden lieb, aber Du, weißt Du, wodurch Du ihre Zuneigung sogleich erobert hast?«

»Nun?«

»Dadurch, daß Du so muthig und klug gegen den tollen Prinzen gewesen bist, und dann auch ganz besonders damit, daß Du damals die Frösche und Krebse entfernt hast. Auch uns er alter guter Kunz ist Dir sehr gut. Wenn er von Dir spricht, so wirst Du gar nicht anders als »unser Junge« oder »unser Kurt« von ihm genannt.«

»Ja, wir haben es gegen früher wie im Himmel bei Euch, und das gönne ich meiner armen guten Mutter von ganzem Herzen. Sie grämt sich gar sehr darüber, daß mein Stiefvater jetzt in das – das – — das – — – »

»Sage nur das Wort, lieber Kurt; Du bist doch nicht schuld daran!«

»In das – Zuchthaus gekommen ist, wollte ich sagen.«

»O, wie schrecklich muß es dort sein! Man kann sich gar nicht wundern, wenn einmal Einer zu fliehen versucht, wie der Kutscher gestern erzählte. Wie war denn das eigentlich? Du bist ja mit dabei gewesen.«

»Nun, ich mußte den Papa und Kunz, als sie abreisten, mit zur Station begleiten, und da trafen wir im Wartesaale einen Herrn in Uniform. Der war, wie er Papa erzählte, Arbeitsinspektor im Zuchthause und mit dem letzten Zuge gekommen, um mit einem Geschäftsmanne zu verhandeln, der in der Strafanstalt sehr viel arbeiten läßt. Während dieser Mittheilung hörten wir, daß die Bahnbeamten sich etwas zuriefen. Es war soeben eine Depesche gekommen, welche an alle Stationen des Landes gerichtet ist. Sie lautete, daß drei sehr vornehme, sehr wichtige und auch sehr gefährliche Gefangene entsprungen seien, nämlich der Prinz von Raumburg und zwei Aerzte, von denen der eine Direktor und der andere Oberarzt im Irrenhause gewesen sind. Du kannst Dir denken, wie der Arbeitsinspektor erschrocken ist. Der frühere Oberarzt war sein Schreiber im Zuchthause; er gab die vorgenommene Besprechung auf und kehrte gleich mit dem nächsten Zuge, welchen auch Papa benutzte, in die Anstalt zurück.«

»Das sind allerdings drei sehr gefährliche Leute. Der Prinz hat mit seinem Vater, der nun todt ist, eine Verschwörung gegen unsern guten König angezettelt und das Land um ungeheure Summen betrogen, wie sich nachher herausstellte. Auch gemordet haben sie, heimlich und öffentlich, und viele Leute, die ihnen im Wege waren, als Wahnsinnige in das Irrenhaus gebracht, wo sie so gemartert wurden, daß sie wirklich wahnsinnig werden oder sterben mußten.«

»Das ist ja ganz und gar entsetzlich! Woher hast Du es denn erfahren?«

»Papa und die Tanten haben sehr oft davon gesprochen. Der alte Herzog hatte auch den Krieg angestiftet und das Land an den König von Süderland verrathen, das Volk sollte Revolution machen und er wollte dabei König werden. Aber es ist ihm nicht geglückt. Der tolle Prinz kam zwar mit seinen Soldaten in das Land; aber der General von Sternburg hat ihn umzingelt, und Papa ist mit seinem Heere ganz unvermuthet in Süderland eingefallen und hat die Hauptstadt erobert. Deshalb kann ihn der tolle Prinz nicht leiden. Die beiden Aerzte, welche mit entsprungen sind, sind ganz gewiß dieselben, von denen Papa erzählt hat. Sie haben dem alten Raumburg geholfen die Feinde desselben wahnsinnig zu machen. Ich wollte, sie würden wieder erwischt und in das Zuchthaus zurückgeschafft!«

»Man wird sie schon ertappen. Die ganze Polizei ist auf den Beinen, und alle Straßen sind besetzt um sie abzufangen. Die Depesche lautete nämlich, daß sie in einem Wagen, der mit zwei Braunen bespannt ist, die Straße nach dem Gebirge zu eingeschlagen haben.«

 

»Schrecklich! Wenn wir ihnen hier begegneten!«

»Oh, die sollten uns nur etwas thun! Ich habe mich vor dem tollen Prinzen nicht gefürchtet, und nun vor ihnen erst recht nicht. Ich könnte sie nicht aufhalten, denn ich bin zu klein dazu; aber Dir sollten sie kein böses Auge machen; das wollte ich mir sehr verbitten!«

»Oder wenn sie nach Helbigsdorf kämen! Der Papa ist mit Kunz verreist, und die Tanten sind auf Besuch hinüber zu Barons. Die kommen ja erst morgen wieder.«

»Nach Helbigsdorf sollen sie erst recht nicht kommen.«

»Und unser Herr Walther ist auch fort, auf Ferien zu seiner Braut nach Himmelstein!«

»Schadet nichts. Papa hat in seinem Waffenschranke eine ganze Menge von Degen und Pistolen, ich würde alle drei todtstechen oder niederschießen. Ich lerne das ja jetzt!«

»Ich habe dennoch Angst. Sie könnten Dich ja auch todt machen. Aber schau, wer sitzt dort unter dem Baume? Ich fürchte mich. Komm herüber auf die andere Seite!«

Die Straße führte durch den Wald. An dem einen Saume desselben lehnte unter einer knorrigen Fichte eine alte Frau. Sie war vollständig barfuß, trug einen einzigen Rock von grellrother Farbe, um die Schultern einen gelben, arg beschmutzten Ueberwurf und hatte ein blaues Tuch turbanartig um den Kopf geschlungen. Ihr Teint war tiefbraun; zahlreiche Runzeln durchfurchten ihr Gesicht, in welchem eine scharfe Nase über einem spitzigen Kinne thronte, und ihre Gestalt lag gebeugt auf dem Stocke, auf den sie die beiden Hände stützte. Mit ihren tiefliegenden schwarzdunklen Augen musterte sie aufmerksam die von ihrem Spazierritte heimkehrenden Kinder. Als diese herangekommen waren, streckte sie die Rechte bittend aus und trat unter dem Baume hervor.

»Gebt einer armen Zigeunerin etwas, Ihr blanken Kinder!«

Magda wollte ängstlich weiter reiten, aber Kurt hielt ihr Pferd und das seinige an.

»Eine Zigeunerin bist Du? Da habe ich ja noch gar keine gesehen!«

Sein offenes Angesicht und seine ehrlichen freundlichen Augen mochten der Alten gefallen.

»So sieh mich einmal ganz genau an,« meinte sie lächelnd, und ihre Augen zeigten dabei einen Ausdruck, wie man ihnen denselben so freundlich gar nicht zugetraut hätte. Dadurch und in Folge von Kurts Muthe wurde Magda auch beherzter.

»Du bist heute wohl schon sehr weit gegangen?« fragte sie.

»Nein; aber ich bin alt, und da wird man leichter müde als in der Jugend.«

»Also müde bist Du? Und wohl auch hungrig und durstig?«

»Beides ein wenig.«

»Da bist Du ja recht schlimm daran. Kurt, ich habe meinen Beutel vergessen. Bitte, gib ihr auch für mich etwas, damit sie zu Essen und zu Trinken kaufen kann!«

»Ja,« erwiderte dieser verlegen, »ich habe auch kein Geld mit. Was thun wir da?«

Das Mädchen blickte überlegend vor sich nieder. Die Zigeunerin nickte freundlich.

»Wenn Ihr nichts bei Euch habt, so könnt Ihr mir ja auch nichts geben. Es ist so gut, als hättet Ihr es gethan. Ihr seid gute Kinder. Gott segne Euch!«

Da hob Magda sehr entschlossen das Köpfchen.

»Nein, Du mußt etwas von uns haben. Aber sage mir vorher, ob es wahr ist, daß die Zigeuner so schlimme Leute sind. Die Tanten sagen, daß sie sogar Kinder stehlen.«

»Nein, das ist nicht wahr. Die Zigeuner sind so arm, daß sie froh sind, wenn sie gar keine Kinder haben. Und wenn einmal Einer etwas Böses thut, so sind die Andern doch nicht schuld daran.«

»Ja, das will ich auch gern glauben. Du siehst gar so mild und gut mit Deinen großen Augen und kannst sicherlich nur Gutes thun. Ich möchte gern, daß Du zu essen und zu trinken bekommst und Dich recht schön ausruhen kannst. Willst Du mit uns kommen?«

»Wohin?«

»Nach Helbigsdorf. Wir haben nur noch eine Viertelstunde bis dahin.«

»Ihr seid von Helbigsdorf?

»Ja. Helbigsdorf ist unser,« antwortete Magda mit einem gewissen Selbstbewußtsein.

»Es gehört doch dem General von Helbig.«

»Das ist unser Papa. Willst Du mit? Du kannst bei uns essen und trinken so viel Du willst, und auch in einem schönen Bette schlafen. Wir geben Dir das ganz gern!«

Die Alte nickte zustimmend und kam über den Straßengraben herüber.

»Ja, ich gehe mit Euch, Ihr guten Kinder.«

Kurt sah ihren Bewegungen mit einigem Bedenken zu.

»Du bist sehr müde, wie es scheint, und wirst mit unsern Pferden gar nicht fortkommen.«

»So reitet Ihr voraus oder macht ein wenig langsamer.«

»Das geht nicht. Die Ponnys laufen nicht langsam, und zurücklassen wollen wir Dich auch nicht. Wenn Du Dich doch auf mein Pferdchen setzen könntest. Ich würde gern absteigen und es so führen, daß Du nicht fällst.«

»Wolltest Du das wirklich, mein guter Knabe?«

»Ja, sonst würde ich es Dir doch gar nicht anbieten. Willst Du es versuchen?«

»Ja, wenn Du es mir wirklich erlaubst.«

»So komm!«

Er stieg ab und wollte ihr behilflich sein. Zu seinem Erstaunen aber schwang sie sich mit einer Gewandtheit auf das Pferdchen, die er selbst noch gar nicht besaß.

»Ah, ging das schnell! Das sieht ja aus, als ob Du schon sehr viel geritten seist.«

»Das ist auch wirklich der Fall, mein Kind.«

Sie nahm ihm die Zügel aus der Hand, und es ging im raschen Schritte vorwärts. Die Zigeunerin ergriff zuerst das Wort:

»Also Ihr seid die Kinder des Herrn Generals von Helbig? Ich dachte, er hätte nur eine Tochter.«

»Das ist auch eigentlich richtig,« antwortete Magda, die jetzt ganz zutraulich geworden war. »Ich habe Kurt erst ganz kürzlich zum Bruder erhalten.«

»Wie so?«

»Wir waren im Seebad Fallum; da haben wir ihn kennen gelernt und ihn mit nach Helbigsdorf genommen, ihn und seine Mutter. Er hat mir das Leben gerettet und den tollen Prinzen mit sammt seinem Kahne umgefahren; darum ist er nun mein Bruder geworden.«

»Den tollen Prinzen, ah!«

»Kennst Du ihn?«

»Ja.«

»Du scheinst überhaupt recht sehr bekannt zu sein. Daß Papa eine Tochter habe, wußtest Du ja auch. Ist es wahr, daß die Zigeuner weissagen können und Dinge wissen, die sonst niemand weiß?«

»Es gibt welche unter ihnen, denen die Gabe verliehen ist, von der Du redest.«

»O, dann hast Du sie wohl auch?«

»Ja,« antwortete die Alte einfach.

»Dann bitte, weissage mir doch einmal!«

»Dazu bist Du noch zu jung, mein Kind. Die Züge Deines Gesichtes und die Linien Deiner Hand sind noch nicht genug entwickelt und ausgebildet. Später werde ich Dir weissagen.«

»Kannst Du mir nicht wenigstens etwas sagen?«

»Vielleicht,« lächelte die Zigeunerin. »Wie heißt Dein Brüderchen hier?«

»Kurt.«

»Nun gut: Kurt ist jetzt nur Dein Bruder, aber einst wird er Dein Mann sein.«

Magda schlug fröhlich die Hände zusammen und rief:

»Das ist prächtig. Ich möchte auch gar keinen Andern zum Manne haben! Aber ist es auch wahr, ist es auch wirklich sicher und gewiß?«

»Es ist wahr,« bestätigte die Alte halb scherzend, halb ernsthaft. »Aber er heißt doch wohl nicht Kurt allein, sondern er muß auch noch einen andern Namen besitzen!«

»Kurt Schubert.«

»Schubert? Was ist denn Dein eigentlicher Vater?«

Magda antwortete auch jetzt an des Knaben Statt:

»Ja, das ist etwas, wo Du zeigen könntest, daß Du mehr weißt als andere Leute. Er hat seinen Vater gar niemals gesehen, und das ist eine sehr traurige Geschichte. Sein Vater war Steuermann und ist rnit seinem Schiffe in alle Welt gefahren, aber nicht wiedergekommen. Dann hat seine Mutter einen bösen Stiefvater heirathen müssen, der stets betrunken gewesen ist und jetzt nun gar im Zuchthause steckt.«

»Steuermann war er, und Schubert hieß er?« frug die Zigeunerin nachdenklich. »Balduin Schubert vielleicht?«

»Ja, Balduin!« rief Kurt schnell. »O, Du kennst seinen Namen?«

»Was weißt Du noch von ihm?«

»Nichts, als daß er einen Bruder hat, der Thomas hieß und Geselle in einer Hofschmiede war. Das hat mir meine Mutter erzählt.«

»Ich werde Euch doch beweisen, daß ich mehr weiß als andere Leute. Ich werde Deiner Mutter von Deinem Vater erzählen, den ich kenne, und mit dem ich kürzlich noch gesprochen habe.«

»Ist es möglich? Ist es wahr?«

»Ja, Dein Vater ist jetzt Obersteuermann auf dem berühmten Kriegsschiffe »Tiger«. Ich habe einen Bruder, der auf demselben Schiffe Hochbootsmann ist.«

»O welch ein Glück; wie wird Mutter sich freuen. Komm, wir wollen schneller reiten!«

»Die Zigeuner sind wirklich klüger als wir,« meinte Magda nachdenklich. »Wie heißt Du denn eigentlich? Du mußt doch auch einen Namen haben.«