Revolution und Kontre-Revolution in Deutschland

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Aber wie wir wissen, blieb die erwartete Erhebung aus. Die liberale Bourgeoisie hatte als revolutionäre Klasse abgedankt; die unter ihr stehenden Klassen aber waren zu erschöpft und entmuthigt, um sich so bald wieder erheben zu können.

Dazu kam, daß die Besieger der Revolution durch die Logik der Thatsachen getrieben wurden, selbst revolutionär aufzutreten und das Werk der Revolution von 1848 fortzusetzen. Um von Frankreich die Revolution fernzuhalten, war der dritte Napoleon genöthigt, das alte Rußland umzuwerfen und dessen Beherrscher zu zwingen, die Leibeigenschaft aufzuheben; er war genöthigt, Italien zu einigen und den österreichischen Absolutismus ins Wanken zu bringen. Bismarck vollendete den Umsturz des österreichischen Absolutismus, entthronte einige deutsche Herrscher, brachte Frankreich die Republik und Deutschland das allgemeine Stimmrecht und, bis zu einem gewissen Grade, die Einheit.

Durch die Revolutionen von oben wurde der Revolution von unten vorgebeugt. Als aber diese revolutionäre Aera vorbei war, die von 1853-71 dauerte, da waren, wie Engels in der erwähnten Vorrede bereits bemerkt, auch die Bedingungen für eine andere revolutionäre Taktik gegeben, als sie bis 1848 möglich und geboten gewesen. Aber auch die Existenzbedingungen für die Slaven Oesterreichs waren inzwischen ganz andere geworden.

In die Augen springend ist Folgendes. 1851, als Marx die vorliegende Arbeit schrieb, gehörten Böhmen, Mähren und Schlesien noch zum deutschen Bunde, nicht aber die anderen von Slaven bewohnten Provinzen Oesterreichs – von den damals noch wenig bedeutenden Slovenen einiger südlichen Provinzen abgesehen. Es standen 3, höchstens 4 Millionen Tschechen ungefähr 40 Millionen Deutschen gegenüber, ein Mißverhältniß, das allein genügte, die Zukunft des Tschechenthums als eine hoffnungslose erscheinen zu lassen. Aber 1866 wurde Oesterreich aus dem deutschen Bunde gedrängt. Dies bewirkte auf der einen Seite die Vereinigung der Tschechen mit dem größten Theil der anderen Slaven Oesterreichs, auf der anderen die Loslösung der Deutschösterreicher von Deutschland. Nun standen in Cisleithanien etwa 11 Millionen Slaven 7 Millionen Deutschen gegenüber. Das Blättchen hatte sich gewendet.

Aber zur selben Zeit ging auch eine völlige Veränderung in der politischen und sozialen Bedeutung der einzelnen Klassen vor sich, eine Veränderung, die sich seit jener Periode der Revolution von oben in derselben Richtung fortgesetzt und vertieft hat.

1848 war die Bourgeoisie noch die nationalste aller Klassen, sowohl in dem Sinne, daß ihre Bedürfnisse den Gesammtbedürfnissen der Nation am nächsten kamen, als auch in dem Sinne, daß ihre Interessen die Kraft und Einheit der Nation am dringendsten erforderten. Der Adel war antinational, seine Interessen liefen den Gesammtinteressen der Nation schnurstracks zuwider, die große Mehrheit der unter der Bourgeoisie stehenden Klassen kannte vorwiegend nur Kirchthurmsinteressen und entbehrte jeder politischen Selbständigkeit. Nur die Kleinbürger und die meist von ihnen beeinflußten, noch wenig selbständigen Proletarier der Großstädte machten eine Ausnahme – wir haben hier Deutschland und namentlich Oesterreich, nicht etwa Frankreich im Auge. Neben der Bourgeoisie gelangten sie mitunter zur politischen Führung in den Kämpfen gegen den Feudalabsolutismus. Aber sie konnten sich mit der Bourgeoisie an politischem Wissen und an Einfluß auf die »Intelligenz« im Entferntesten nicht messen, ihre ökonomischen Interessen standen oft im Widerspruch mit den Tendenzen der ökonomischen Entwicklung, ihre Bestrebungen waren daher widerspruchsvoll und unklar, ihr ökonomischer Rückhalt und damit ihre Kraft zu selbständiger, ausdauernder Opposition gering. Da überdies in einer Reihe der wichtigsten Fragen die nächsten Interessen von Bourgeoisie und Kleinbürgerthum übereinstimmten, liebte es das oppositionelle Kleinbürgerthum, sich an die oppositionelle Bourgeoisie anzulehnen. Aus dieser Anlehnung zog die bürgerliche Demokratie ihre Kraft.

Man erwäge, wie haltlos unter diesen Umständen eine von allen Seiten bedrängte Nation sein mußte, die keine Bourgeoisie besaß, und die als Führer im Kampf um ihre Selbständigkeit blos einige Ideologen und einen Theil des Kleinbürgerthums einer national gespaltenen Stadt (Prag) aufweisen konnte. Neben ihrer geographischen Lage und ihrer geringen Volkszahl war es diese Klassentheilung, die der tschechischen Nation jede Aussicht auf Fortbestand raubte. Sie schien rettungslos verloren, sobald Deutschland (mit Deutschösterreich) ein moderner Staat wurde. So wurde die tschechische nationale Bewegung naturgemäß dahin gedrängt, die Reaktion zu unterstützen, so entstand der tiefe Gegensatz zwischen der tschechischen Nation und der deutschen Revolution, der jeden Revolutionär Deutschlands, wie international er auch gesinnt sein mochte, zum Gegner dieser Nation machen mußte. Das galt aber nur so lange, als die Bourgeoisie eine revolutionäre Klasse war, deren Sonderinteressen den Gesammtinteressen der Gesellschaft am nächsten kamen, und die allein unter den oppositionellen Klassen ein größeres Maß politischer Reife besaß.

Aus einer oppositionellen Klasse ist die Bourgeoisie eine herrschende Klasse geworden; aus einer revolutionären eine konservative. Ihre Interessen entfernen sich immer mehr von denen der Gesellschaft; die ökonomische und politische Entwicklung drängt auf ihren Umsturz hin und ihr Niedergang hat bereits begonnen. Auf der einen Seite wächst das Proletariat an Zahl, Macht, Einsicht und Kraft und entreißt der Bourgeoisie eine Position nach der anderen. Auf der anderen Seite finden wir aber auch eine anwachsende Rebellion der Kleinbürger und Bauern gegen die Bourgeoisie. Wohl sind diese Klassen ökonomisch dem Untergange geweiht, aber das führt nicht nothwendigerweise überall zu einer raschen Abnahme ihrer Zahl. In manchen Gebieten werden sie von dem fortschreitenden Kapital verdrängt, in anderen häufen sie sich dafür um so mehr an. Dort vermindert sich nicht ihre Zahl, sie kann wachsen, und damit die Konkurrenz, die sie sich machen, und das Elend, das daraus folgt. Und überall, mag die Zahl der Betriebe der Kleinhandwerker, Kleinhändler, Kleinbauern abnehmen oder nicht, ändert sich der Charakter dieser Betriebe unter dem Einfluß der kapitalistischen Entwicklung. Die Selbständigkeit und Sicherheit, die sie ihren Besitzern boten, hört auf. Aus dem Handwerker wird ein Sweater, ein Flicker, ein Händler mit Fabrikwaare. Der Kleinhändler wird ein Parasit, der aus verkommenden Existenzen seine Nahrung zieht, der von seinen Schulden und denen Anderer lebt, davon, daß es viele Fabrikanten und Großhändler giebt, die, um nur ihre Lager zu räumen, auch dem unsichersten Kunden Kredit geben, und davon, daß es so viele kleine Leute giebt, die unfähig sind, baar zu bezahlen, und daher schlecht und theuer beim Kleinhändler auf Kredit kaufen. Und der Bauer, der von dem Körnerbau nicht mehr leben kann, wird der Sklave einer Zuckerfabrik oder Molkerei, er wird Hausindustrieller, oder sein Betrieb sinkt zur Versorgungsanstalt für die nicht voll arbeitsfähigen Mitglieder seiner Familie herab; die Kinder, Greise und Krüppel betreiben die Wirthschaft, die kräftigen jungen Leute ziehen in die Stadt, und von ihren Spargroschen lebt oft der »Bauer«.

Die Statistik mag mitunter nachweisen, daß die Zahl dieser Kleinbetriebe in Industrie, Handel und Landwirthschaft nicht zurückgeht, aber der Nachweis, daß Kleinbürgerthum und Bauernschaft nicht im Verkommen sind, daß die Unsicherheit, das Elend ihrer Existenz nicht beständig wächst, wird ihr nicht gelingen.

Und zu alledem kommt noch die starke Zunahme der »liberalen Berufe«, die bereits zu einem starken und rasch wachsenden »Proletariat der Intelligenz« geführt hat.

Alle diese Klassen, die 1848 noch sich an die Bourgeoisie anlehnten, zahlreiche Interessen mit ihr gemein hatten, den Aufstieg zu ihr noch relativ leicht fanden, sich selbst also als embryonische Bourgeois fühlten, sie werden in den letzten Jahrzehnten durch eine mehr und mehr sich vertiefende Kluft von ihr getrennt, mit Haß und Empörung gegen sie erfüllt und gedrängt, ihr feindlich gegenüberzutreten. Und ihre Verzweiflung treibt sie immer mehr, ihren letzten Rettungsanker in der Staatsgewalt zu sehen, in der Betheiligung an der staatlichen Politik eine dringende Nothwendigkeit zu erkennen.

Inzwischen ist aber auch die Schulbildung gewachsen und der Verkehr hat sich entwickelt. Jedes Landstädtchen, jedes Dorf steht in regelmäßigem Verkehr mit den Zentren der politischen und ökonomischen Bewegung; der Dorfhandwerker und der Bauer, 1848 noch politisch völlig unwissend und in Friedenszeiten auch gleichgiltig, liest jetzt seine Zeitung. Er hat das Wahlrecht bekommen, er kann mit seinen Genossen in Versammlungen und Vereinen zusammentreten, er hat politische Macht und das Bewußtsein erlangt, daß seine politischen Ansichten für den Staat und dessen Wirthschaftspolitik nicht ohne Einfluß sind.

Alles das bewirkt, trotz des ökonomischen Verkommens des Kleinbürgerthums und Bauernthums, ja gerade in Folge desselben, ein gewaltiges Anschwellen seiner oppositionellen Bewegung im ganzen Lande, aber gleichzeitig auch den Niedergang jener politischen Richtung, die auf dem Zusammengehen des Kleinbürgerthums mit der radikaleren Bourgeoisie beruhte, der bürgerlichen Demokratie. Das führte in den deutschen Ländern zum Aufkommen einer neuen Art Demokratie, die der Bourgeoisie feindlich gegenüber steht und ökonomisch reaktionär auftritt. Der Ultramontanismus, bis dahin der getreueste Verfechter des Feudalabsolutismus, erhält nun zum Theil einen neuen Inhalt, er wird demokratisch, oppositionell, ja er erhebt mitunter sogar den Anspruch, sozialistisch zu sein.

Dem wachsenden Ansturm dieser reaktionären Demokratie, der zusammenfällt mit dem wachsenden Ansturm der revolutionären Sozialdemokratie und vielfach in diesem äußerlich sein Muster findet, ist der Bourgeoisliberalismus nicht gewachsen. Kaum hatten die Revolutionen von 1866 und 1870, welche die dem Jahre 1848 folgende Aera der Revolutionen von oben abschlossen, ihm die Hindernisse aus dem Wege geräumt, die seiner Herrschaft in Deutschland und Oesterreich im Wege standen, da begann auch schon sein Verfall. Nirgends hat der Bourgeoisliberalismus sich so rasch abgenützt, wie in Deutschland und Oesterreich.

 

Es ist leicht zu verstehen, wie dieselbe Entwicklung, die in den deutschen Ländern den Ultramontanismus und Antisemitismus, kurz, die reaktionäre Demokratie, groß zog und den bürgerlichen Liberalismus zurückdrängte, in jenen Gegenden wirken mußte, in denen Deutsche und Slaven gemischt wohnen und erstere die Bourgeoisie, letztere die unter ihr stehenden Klassen bilden. Das Deutschthum hört auf, die führende und entscheidende Macht zu sein und der Prozeß der fortschreitenden Germanisirung kommt zum Stillstand. Die Klassen, die in den deutschen Ländern sich dem Banne der liberalen Bourgeoisie entwinden, um der reaktionären Demokratie zuzuströmen, werden in den gemischtsprachigen Gegenden zu Trägern der nationalen Bewegung. Diese erfaßt die Landstädte, die Bauern und immer weitere Schichten der »Intelligenz«. Das numerische Wachsthum der »Intelligenz« sowie die Zunahme der Bildung, des Verkehrs und des politischen Interesses in den unteren Klassen schafft der Zeitungsliteratur, dann aber auch der Belletristik eine breitere Grundlage. Diese modernen Erscheinungen haben eine ganze Anzahl kleinerer Nationen literaturfähig gemacht, sie haben eine vlämische und norwegische Literatur ebenso geschaffen, wie eine tschechische. Dieselbe moderne Entwicklung, die in ökonomischer und wissenschaftlicher Beziehung die nationalen Schranken immer mehr niederreißt und den kleineren Nationen den Gebrauch der Weltsprachen aufdrängt, erzeugt neue nationale Literaturen.

Alles das begünstigt die Lebensfähigkeit und Widerstandskraft der tschechischen Nationalität gegenüber der deutschen. Weit entfernt, von dieser noch zurückgedrängt zu werden, beginnt sie vielmehr bereits, ihr neuen Boden abzugewinnen. Namentlich geschieht dies durch das Mittel der inneren Wanderungen. Wie überall in modernen Staaten erzeugt auch in den slavischen Ländern die Bauernschaft einen starken Bevölkerungsüberschuß, den das flache Land nicht ernähren kann, der in die Städte und Industriegegenden zieht, das heißt in unserem Fall, in ehedem ganz oder halbdeutsche Gegenden. Kommt der slavische Proletarier oder Kleinbürger in eine ganz deutsche Stadt, so wird er bald germanisirt. In Wien ist vielleicht mehr als die Hälfte der Bevölkerung slavischen Ursprungs, und doch ist Wien eine deutsche Stadt. Kommt er aber in gemischtsprachige Städte, so verstärkt er dort das slavische Element, und die Stadt wird in dem Maße slavisirt, in dem sie wächst und ihre Industrie sich entwickelt. Marx konnte in vorliegender Schrift Prag noch eine halbdeutsche Stadt nennen. Heute ist sie fast ganz tschechisch; ebenso Pilsen. Und Brünn ist kaum noch deutsch zu nennen. Aber auch in reindeutschen Industriegegenden, in denen die slavischen Arbeiter in Kolonien, isolirt von ihrer Umgebung leben, widerstehen sie der Germanisirung und tragen zur Slavisirung der Gegend bei; so in den Industriedörfern Nordböhmens und Niederösterreichs und in den Bergwerksdistrikten. Etwas Aehnliches zeigt sich in Deutschland in Westfalen, dessen polnische Bergarbeiter ihre Nationalität bewahren, trotzdem sie in einer völlig deutschen Gegend leben.

Die tschechische Nation ist aber nicht blos die Mutter eines zahlreichen und energischen Proletariats, sie kommt jetzt auch in die glückliche Lage, eine eigene Bourgeoisie aufweisen zu können; und auch ein Theil des Adels hat sich dieser Nation trotz seines deutschen Ursprungs angeschlossen, Dank der gemeinsamen Feindschaft, die beide gegen die liberale deutsche Bourgeoisie hegten.

Die tschechische Nation besitzt also heute alle Ingredienzien eines modernen Kulturvolks. Das besagt aber, daß die Wiederkehr einer Haltung, wie sie die Tschechen 1848 und 1849 einnahmen, und wie sie Marx für die Zukunft befürchtete, unmöglich, daß alles, was er damals darüber sagte, heute gegenstandslos, nur noch eine Sache historischer Erinnerung ist. 1848 war die nationale Bewegung der Böhmen ein Klassenkampf, von einer Klasse, dem Kleinbürgerthum, geführt. Das ermöglichte es, daß die gesammte Nation zeitweilig als Feindin der Revolution auftreten konnte, und daß die nationale Bewegung eine einheitliche war. Heute ist die tschechische Nation von denselben tiefen Klassengegensätzen zerrissen, wie jede andere moderne Nation, und dies macht es unmöglich, daß sie je wieder einheitlich einer revolutionären Bewegung entgegenträte und sie verriethe.

Gleichzeitig hat aber auch der nationale Kampf in Böhmen viel von seiner Bedeutung eingebüßt. 1848 war er ein Klassenkampf, ein Kampf zwischen Reaktion und Revolution, ein Kampf auf Leben und Tod, dessen Größe man an der Größe des Ingrimms messen kann, mit dem er Marx erfüllte. Heute herrschen unter den Tschechen dieselben Klassenunterschiede, wie unter den Deutschen, die Gleichheit der Klasseninteressen beginnt die nationalen Gegensätze zu überbrücken, der Gegensatz der Klassen innerhalb jeder Nation beginnt die starre nationale Geschlossenheit aufzulösen. Die nationalen Kämpfe in Oesterreich hören auf, entscheidende Bedeutung für die Geschicke der Völker zu haben; sie werden Katzbalgereien einzelner Kliquen, hinter denen theils verständnißloses Nachäffen der Tradition, theils bloße Eifersüchtelei oder gar nur das Bedürfniß steckt, schmutzige Machenschaften mit der nationalen Phrase zu decken. Eine nationale Bewegung, deren wichtigstes Kampfobjekt die Ein- oder Zweisprachigkeit von Straßentafeln oder der Sitz eines Gymnasiums ist, braucht eine wirklich revolutionäre Partei nicht zu beunruhigen.

In demselben Maße aber, in dem die Bedeutung der nationalen Kämpfe in Oesterreich abnimmt, wächst die Bedeutung des Proletariats unter den Slaven dieses Landes. Und welche reaktionären Ueberraschungen Bauern und Kleinbürger noch in petto haben mögen, diese Proletarier haben bewiesen, daß sie zum Bewußtsein ihrer Aufgaben erwacht sind, und sie allein bieten bereits, abgesehen von allem Anderen, die hinreichende Garantie, daß die österreichischen Slaven als Nationalität nie wieder die Rolle spielen werden, die sie 1848 gespielt.

Stuttgart, Mai 1896.

K. Kautsky.

Revolution und Kontre-Revolution in Deutschland
I. Deutschland am Vorabend der Revolution

London, September 1851.

Der erste Akt des Revolutionsdramas auf dem Kontinent von Europa ist zu Ende. Die »Mächte der Vergangenheit« vor dem Sturm von 1848 sind wieder die »Mächte der Gegenwart«, und die mehr oder weniger populären Eintagsherrscher, provisorische Regenten, Triumvirn, Diktatoren, mit ihrem Schwanz von Abgeordneten, Zivilkommissären, Kriegskommissären, Präfekten, Richtern, Generälen und Soldaten, sind an fremde Küsten geworfen und »über die See verschickt« nach England oder Amerika, um dort neue Regierungen » in partibus infidelium« zu bilden, Europäische Komites, Zentralkomites, Nationalkomites, und ihr Kommen in Proklamationen zu verkünden, die ebenso feierlich sind wie die weniger imaginärer Potentaten.

Man kann sich keine entschiedenere Niederlage denken als die, welche die Revolutionspartei – oder vielmehr Parteien – des Kontinents auf allen Punkten der Schlachtlinie erlitten. Aber was hat das zu bedeuten! Hat nicht das Ringen des britischen Bürgerthums um seine gesellschaftliche und politische Herrschaft achtundvierzig Jahre, das des französischen Bürgerthums vierzig Jahre unerhörter Kämpfe umfaßt? Und war sein Triumph nicht gerade dann am nächsten, als die wiederhergestellte Monarchie sich fester im Sattel fühlte denn je? Die Zeit jenes Aberglaubens, der Revolutionen der Böswilligkeit einiger Agitatoren zuschrieb, ist längst vorbei. Heutzutage weiß Jedermann, daß überall, wo revolutionäre Erschütterungen eintreten, ein gesellschaftliches Bedürfniß dahinter sein muß, dessen Befriedigung durch überlebte Einrichtungen gehindert wird. Das Bedürfniß mag noch nicht so dringend, so allgemein empfunden werden, daß es unmittelbaren Erfolg sichert, aber jeder Versuch, es gewaltsam zu unterdrücken, muß es mit verstärkter Gewalt wieder hervortreten lassen, bis es seine Fesseln bricht.

Wenn wir also geschlagen sind, so haben wir nichts Anderes zu thun, als wieder von vorne anzufangen. Und die wahrscheinlich sehr kurze Ruhepause, die uns zwischen dem Schluß des ersten und dem Beginn des zweiten Aktes der Bewegung gegönnt ist, giebt uns glücklicherweise Zeit zu einem höchst nothwendigen Stück Arbeit: der Untersuchung der Ursachen, die sowohl die letzte Erhebung wie auch deren Niederlage mit Nothwendigkeit herbeiführten; Ursachen, die nicht in den zufälligen Bestrebungen, Talenten, Fehlern, Irrthümern oder Verräthereien einiger Führer zu suchen sind, sondern in dem allgemeinen gesellschaftlichen Zustand und den Lebensbedingungen jeder der von der Erschütterung betroffenen Nationen. Daß die plötzlichen Bewegungen des Februar und März 1848 nicht das Werk einzelner Individuen waren, sondern spontane unwiderstehliche Aeußerungen von Bedürfnissen der Völker, die mehr oder weniger deutlich begriffen, aber von großen Klassen in jedem Lande sehr deutlich empfunden wurden, ist eine allgemein anerkannte Thatsache; wenn man aber nach den Ursachen des Erfolgs der Kontrerevolution forscht, erhält man von allen Seiten die bequeme Antwort, daß es der Herr A. oder der Bürger B. gewesen sei, der das Volk »verrieth«. Diese Antwort kann je nach den Umständen wahr sein oder nicht, sie kann aber unter keinen Umständen irgend etwas erklären, nicht einmal zeigen, wieso es kam, daß das »Volk« sich so verrathen ließ. Und wie kläglich sind die Aussichten einer politischen Partei, deren ganzes politisches Inventar in der Kenntniß der einzigen Thatsache besteht, daß der Bürger Soundso kein Vertrauen verdient.

Die Erforschung und Darstellung der Ursachen sowohl der revolutionären Erschütterung wie ihrer Unterdrückung sind überdies höchst wichtig von einem historischen Standpunkte aus. Alle diese kleinlichen persönlichen Zänkereien und Rekriminationen, alle diese einander widersprechenden Behauptungen – Marrast oder Ledru Rollin oder Louis Blanc oder irgend ein anderes Mitglied der provisorischen Regierung oder diese insgesammt sei der Steuermann gewesen, der die Revolution mitten unter die Klippen hineinsteuerte, an denen sie scheiterte –, von welchem Interesse können sie sein und welche Aufklärung können sie bringen für den Amerikaner oder Engländer, der alle diese verschiedenen Bewegungen aus einer Entfernung verfolgt hat, die zu groß ist, um ihn die Details der Vorgänge erkennen zu lassen? Kein vernünftiger Mensch wird jemals glauben, daß elf Männer, von zumeist höchst mittelmäßiger Begabung, sowohl im Guten wie im Bösen, im Stande gewesen wären, binnen drei Monaten eine Nation von sechsunddreißig Millionen zu Grunde zu richten, wenn nicht diese sechsunddreißig Millionen ebensowenig klar sahen wie die elf. Aber wie es kam, daß diese sechsunddreißig Millionen mit einem Male berufen wurden, selbst den Weg zu bestimmen, der einzuschlagen war, obwohl sie zum Theil in arger Dämmerung tappten; wie es kam, daß sie den Weg verfehlten und ihre früheren Lenker wieder für einen Augenblick in ihre Führerstellung zurückkehren durften, das ist gerade die Frage.

Wenn wir also versuchen, den Lesern der »Tribune« die Ursachen auseinanderzusetzen, die nicht nur die deutsche Revolution von 1848 zur Nothwendigkeit machten, sondern auch deren zeitweilige Unterdrückung 1849 und 1850 ebenso unvermeidlich herbeiführten, so darf man nicht erwarten, daß wir eine vollständige Geschichte der Ereignisse geben werden, die sich in Deutschland abgespielt haben. Spätere Ereignisse und das Urtheil der kommenden Generationen werden entscheiden, welcher Theil jener wirren Masse anscheinend zufälliger, unzusammenhängender und miteinander unvereinbarer Thatsachen ein Stück der Weltgeschichte zu bilden hat. Die Zeit für diese Aufgabe ist noch nicht gekommen; wir müssen uns innerhalb der Grenzen des Möglichen halten und zufrieden sein, wenn es uns gelingt, rationelle, auf unleugbaren Thatsachen beruhende Ursachen aufzufinden, welche die wichtigsten Ereignisse, die entscheidenden Wendungen jener Bewegung erklären und uns einen Schlüssel über die Richtung geben, die der nächste und vielleicht nicht sehr ferne Ausbruch dem deutschen Volke ertheilen wird.

Zunächst, welches war der Zustand Deutschlands beim Ausbruch der Revolution?

Die Zusammensetzung der verschiedenen Klassen des Volkes, welche die Grundlage der politischen Organisationen bilden, war in Deutschland komplizirter als in irgend einem anderen Lande. Während in England und Frankreich eine kräftige und reiche Bourgeoisie, die in großen Städten und namentlich der Hauptstadt konzentrirt war, den Feudalismus gänzlich vernichtet oder wenigstens, wie in dem ersten Lande, auf einige unbedeutende Formen reduzirt hatte, besaß der Feudaladel in Deutschland noch einen großen Theil seiner alten Privilegien. Das System des feudalen Grundbesitzes herrschte fast überall vor. Die Grundherren hatten sogar die Gerichtsbarkeit über ihre Gutsunterthanen behalten. Ihrer politischen Privilegien, des Rechts, die Fürsten zu leiten, beraubt, hatten sie fast ihre ganze mittelalterliche Oberherrlichkeit über die Bauernschaft ihrer Domänen sowie die Steuerfreiheit bewahrt. Der Feudalismus war in manchen Gegenden stärker als in anderen, aber nirgends völlig vernichtet, außer auf dem linken Rheinufer. Dieser Feudaladel, damals außerordentlich zahlreich und zum Theil sehr reich, wurde offiziell als der erste »Stand« im Lande betrachtet. Er lieferte die höheren Regierungsbeamten und war fast ausschließlich im Besitz der Offiziersstellen in der Armee.

 

Die Bourgeoisie Deutschlands war bei Weitem nicht so reich und konzentrirt wie die Frankreichs oder Englands. Die früheren Industrien Deutschlands waren durch das Aufkommen der Dampfkraft und die rasch sich verbreitende Uebermacht der englischen Industrie ruinirt worden. Die moderneren Industrien, die unter dem Kontinentalsystem Napoleons ins Leben gerufen worden, bestanden in anderen Theilen des Landes, bildeten keine Entschädigung für den Verlust der älteren, und genügten nicht, der Industrie eine Bedeutung zu verleihen, die stark genug gewesen wäre, die Beachtung ihrer Bedürfnisse Regierungen aufzuzwingen, die jeder Vermehrung nichtadeligen Reichthums und nichtadeliger Macht mißtrauisch gegenüberstanden. Wenn Frankreich seine Seidenindustrie siegreich durch fünfzig Jahre der Revolutionen und Kriege hindurchführte, so sah Deutschland im gleichen Zeitraum seine alte Leinenindustrie fast ganz zu Grunde gehen. Ueberdies waren die Industriebezirke nur gering an Zahl und weit auseinander gelegen. Sie lagen tief im Lande drin und benutzten zu ihrer Ausfuhr und Einfuhr meist ausländische, holländische oder belgische Häfen, so daß sie nur wenig oder gar keine Interessen mit den großen Hafenstädten an der Nord- und Ostsee gemein hatten; vor Allem aber waren sie unfähig, große Industrie- und Handelszentren zu bilden, wie Paris und Lyon, London und Manchester.

Die Ursachen dieser Rückständigkeit der deutschen Industrie waren mannigfaltig, aber zwei genügen, sie zu erklären: die ungünstige geographische Lage des Landes, seine Entfernung vom atlantischen Ozean, der die große Heerstraße für den Welthandel geworden war, und die steten Kriege, in die Deutschland verwickelt war und die auf seinem Boden ausgefochten wurden vom 16. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag. Es war der Mangel an Massen und besonders an einigermaßen konzentrirten Massen, der das deutsche Bürgerthum verhinderte, jene politische Herrschaft zu erlangen, deren sich der englische Bourgeois seit 1688 stets erfreut und die der französische 1789 erobert hat.

Und doch war in Deutschland der Reichthum und mit dem Reichthum die politische Bedeutung des Bürgerthums seit 1815 in stetem Wachsthum begriffen. Die Regierungen waren, wenn auch widerwillig, gezwungen, wenigstens seinen nächsten materiellen Interessen Rechnung zu tragen. Man darf sogar mit Recht sagen, daß von 1815 bis 1830 und von 1832 bis 1840 jedes Stück politischen Einflusses, das der Bourgeoisie in den Verfassungen der kleineren Staaten eingeräumt worden war und das ihr während der zwei genannten Perioden politischer Reaktion wieder entrissen wurde – daß jedes derartige Stück durch ein praktischeres Zugeständniß aufgewogen wurde. Jede politische Niederlage der Bourgeoisie zog einen Sieg auf dem Gebiet der Handelsgesetzgebung nach sich. Und sicherlich waren der preußische Schutzzolltarif von 1818 und die Bildung des Zollvereins für die Kaufleute und die Industriellen Deutschlands bedeutend mehr werth, als das zweifelhafte Recht, in der Kammer irgend eines Duodezstaates Ministern ihr Mißtrauen auszudrücken, die über derartige Abstimmungen lachten.

Das Wachsthum ihres Reichthums und die Ausdehnung des Handels brachte die Bourgeoisie bald auf eine Höhe, auf der sie die Entwicklung ihrer wichtigsten Interessen durch die politische Verfassung des Landes gehindert sah – durch seine tolle Zersplitterung unter sechsunddreißig Fürsten mit einander widersprechenden Bestrebungen und Launen; durch die feudalen Fesseln, die die Landwirthschaft und den mit ihr verknüpften Handel beengten; durch die zudringliche Ueberwachung, der eine unwissende und anmaßende Bureaukratie alle ihre Geschäfte unterwarf. Gleichzeitig brachten die Ausdehnung und Befestigung des Zollvereins, die Einführung des Dampfes in das Verkehrswesen, die wachsende Konkurrenz auf dem inneren Markt die kommerziellen Klassen der verschiedenen Staaten und Provinzen einander näher; sie machten ihre Interessen gleichförmiger und zentralisirten ihre Kraft. Die natürliche Folge davon war der Uebergang aller dieser Elemente in das Lager der liberalen Opposition und der siegreiche Ausgang des ersten ernsthaften Kampfes der deutschen Bourgeoisie um politische Macht. Diesen Umschwung kann man von 1840 datiren, von dem Zeitpunkt, in dem die preußische Bourgeoisie an die Spitze der Bewegung des deutschen Bürgerthums trat. Wir werden auf diese Bewegung der liberalen Opposition von 1840 bis 1847 später noch zurückkommen.

Die große Masse der Nation, die weder zum Adel noch zur Bourgeoisie gehörte, bestand in den Städten aus der Klasse der Kleinbürger und den Arbeitern, und auf dem Lande aus der Bauernschaft.

Das Kleinbürgerthum ist in Deutschland außerordentlich zahlreich in Folge der kümmerlichen Entwicklung der Klasse der großen Kapitalisten und Industriellen in diesem Lande. In den größeren Städten bildet es fast die Mehrheit der Bevölkerung, in den kleineren überwiegt es vollständig, da reichere Mitbewerber und Einflüsse dort fehlen. Diese Klasse, die in jedem modernen Staate und in jeder modernen Revolution von höchster Bedeutung ist, ist besonders wichtig in Deutschland, wo sie während der jüngsten Kämpfe die entscheidende Rolle spielte. Ihre Zwischenstellung zwischen der Klasse der größeren Kapitalisten, Kaufleute und Industriellen, der eigentlichen Bourgeoisie, und der Klasse des Proletariats bestimmt ihren Charakter. Sie strebt nach der Stellung der ersteren, aber das geringste Mißgeschick schleudert die Individuen dieser Klasse in die Reihen der letzteren. In monarchischen und feudalen Ländern bedarf das Kleinbürgerthum der Kundschaft des Hofs und der Aristokratie zu seiner Existenz; der Verlust dieser Kundschaft kann einen großen Theil desselben ruiniren. In den kleineren Städten bilden sehr häufig eine Garnison, eine Kreisregierung, ein Gerichtshof mit seinem Anhang die Grundlage des Gedeihens der Kleinbürger. Man entziehe ihnen diese Institutionen, und die Kleinhändler, die Schneider, die Schuster, die Schreiner gehen ihrem Ruin entgegen. So schwanken sie beständig zwischen der Hoffnung, in die Reihen der wohlhabenderen Klasse einzutreten, und der Furcht, zu Proletariern oder sogar zu Paupers herabgedrückt zu werden; zwischen der Hoffnung, ihre Interessen durch Eroberung eines Antheils an der Lenkung der öffentlichen Angelegenheiten zu fördern, und der Angst, durch übel angebrachte Opposition den Zorn einer Regierung zu erregen, die über ihre Existenz selbst verfügt, da sie die Macht hat, ihnen ihre besten Kunden zu entziehen; gering sind die Mittel, die sie besitzen, und die Unsicherheit ihres Besitzes steht im umgekehrten Verhältniß zur Größe desselben: diese Klasse ist in ihren Anschauungen höchst wankelmüthig. Demüthig und kriecherisch unterwürfig unter einer starken feudalen oder monarchischen Regierung, wendet sie sich dem Liberalismus zu, wenn die Bourgeoisie im Aufsteigen begriffen ist; sie wird von heftigen demokratischen Paroxysmen ergriffen, sobald die Bourgeoisie für sich die Herrschaft errungen hat, verfällt aber der jämmerlichsten Verzagtheit, wenn die Klasse unter ihr, das Proletariat, eine selbständige Bewegung wagt.

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