Im Zeichen des Rosenmonds

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Im fahlen Licht der Hotelzufahrt betrachtete Yusuf das Taxi, indem er es einmal umrundete. Dann setzte er sich in den Wagen, ließ den Motor an und schaltete das Licht ein. Sein Blick hing prüfend an den Anzeigen der Armaturen. Als er wieder ausgestiegen war, schaute er noch einmal durch die geöffnete Tür in das Wageninnere. Er kannte diesen Typ, er hatte ihn früher selbst lange gefahren und wusste, dass es ein sehr robustes Fahrzeug war, bei seinen Kollegen sehr beliebt.

„Ich darf annehmen, dass Sie sich ausgeschlafen haben und ausgeruht sind?“ Blohm, der neben seinen Koffern stand, sah auf Yusuf, der sich zu den Reifen bückte und sie inspizierte.

„Ich bin es gewohnt, nachts zu fahren.“ Yusuf ging nach hinten an den Wagen, öffnete den Kofferraum, schwang das Gepäck hinein und wunderte sich, dass Blohm es zuließ, dass er den kleinen Koffer, den er sofort wiedererkannte, anfassen und dazulegen durfte. Seine eigene, eine nicht allzu große Reisetasche, packte er zuletzt hinein.

„Wir werden kaum halten, höchstens zum Tanken“, sagte Blohm.

„In Ordnung, wenn es Ihnen nichts ausmacht?“, brummelte Yusuf.

„Ich werde das Vergnügen haben, die meiste Zeit schlafen zu können.“ Blohm lachte leise und stieg auf der Beifahrerseite ins Taxi.

„Was haben Sie für den Wagen bezahlt?“, fragte Yusuf, als er sich ans Steuer setzte.

„Wie ich Ihnen schon sagte, konnte ich mit dem Verkäufer handeln. Zwölftausend habe ich gegeben, nun liegt’s an Ihnen, in Istanbul mehr rauszuschlagen.“

Yusuf lenkte den Wagen langsam aus der Zufahrt in den zu dieser späten Stunde ruhig fließenden Verkehr und steuerte die Autobahn an. Blohm neben ihm stellte seinen Sitz in eine andere Position. Yusuf war es nicht gewohnt, dass seine Fahrgäste neben ihm Platz nahmen, er sah sie lieber hinten sitzen, wo er sie im Rückspiegel beobachten konnte.

Blohm war eingeschlafen, bevor sie auch nur eine Stunde auf der Autobahn unterwegs waren. Ab und zu blickte Yusuf auf den Schlafenden, der seinen Kopf zur Seite an das Fenster der Beifahrertür gelehnt hatte. Der Tempomat war eingeschaltet und sie fuhren mit gleich bleibender, aber hoher Geschwindigkeit. Mit ihnen waren wenige Autos unterwegs und entspannt lenkte er den Wagen durch die Nacht in Richtung Süden.

Er überlegte, ob er das Radio einschalten sollte, aber er zögerte, er wollte nicht, dass Blohm vielleicht dadurch geweckt wurde. Sein Blick ging zur Uhr, es war kurz nach Mitternacht. Würde er durchfahren, dachte er, wäre er am übernächsten Tag in den Morgenstunden in Istanbul. Er kannte den Reiseverlauf genau, Blohm war mit ihm die Route durchgegangen, und zu Hause hatte er noch mal einen Blick auf die Landkarten geworfen. Jetzt war sie in seinem Kopf gespeichert, er brauchte kein Navigationsgerät. Tschechien, Ungarn, an Budapest vorbei auf die E 75 und später auf die M 5, dann in Rumänien über Sibiu und an Bukarest vorbei nach Ruse in Bulgarien und danach auf die E 80 Richtung Edirne, wo sie die bulgarisch-türkische Grenze passieren sollten. Yusuf berichtigte sich, er allein sollte die Grenze passieren. Er schaute auf seinen schlafenden Fahrgast. Schon ein merkwürdiger Kerl, dachte er, aber einer mit viel Geld.

Blohm hatte diese Route bestimmt, ihm schien wichtig, dass sie nur EU-Länder passierten. Keine Kontrollen an den Grenzen, wie er sich ausdrückte. Mit Rumänien war Yusuf sich nicht im Klaren. War Rumänien überhaupt an diesem Schengener Abkommen beteiligt, von dem er gehört hatte? Und Bulgarien? Er wusste es nicht genau, aber es waren Mitgliedsstaaten der EU, das war ihm bekannt. Möglicherweise gab es also doch ein Risiko, wenn sie an diese Grenzen kamen. Auf der Hinfahrt würde es keine Probleme geben, da hatten sie nichts zu verbergen, dachte er. Und zurück? Blohm war sich hier sehr sicher, so wie er es erklärt hatte. Vielleicht würde nicht kontrolliert. Yusuf wollte nicht weiter darüber spekulieren und über etwas anderes nachdenken.

Ihm fiel wieder Istanbul ein. Einmal war er dort als Junge gewesen, und er erinnerte sich, wie er diese Stadt kennen gelernt hatte und wie gerne er dort gewesen war. Der Lärm in den Straßen, die hupenden Autos, es drang im Moment noch genau so an sein Ohr, als habe er es gestern erst erlebt. Die bunten Lichter, die ihn verzaubert hatten. Trotz aller Hektik ging damals für ihn, auf dem Land geboren und aufgewachsen, von dieser Stadt eine Faszination aus, die er jetzt plötzlich wieder verspürte. Alles tauchte in seiner Erinnerung erneut auf, selbst die Gerüche der pulsierenden Großstadt stiegen in seine Nase und er erinnerte sich gerne, und mit einem Mal überkam ihn ein Glücksgefühl, als er sich klar machte, dass diese Stadt schließlich das Ziel dieser Reise war.

Ihm fiel ein, wie er seiner Frau hatte beibringen wollen, dass er für einige Zeit verreisen würde. Wie versteinert hatte sie dagesessen und ihm nur still zugehört. Er hatte ihr nicht gesagt, dass der Lohn für diese Fahrt ein eigenes Taxiunternehmen sein würde. Er hatte nur gesagt, dass sein Fahrgast überaus gut bezahle und dass im Übrigen die Tour von seinem Chef abgesegnet worden sei. Sie wäre nur ein paar Tage alleine zu Hause, was sei schon dabei? Ob noch genügend Geld im Hause wäre, hatte er gefragt. Mit ihren großen, schwarzen Augen hatte sie ihn angeschaut, und Yusuf erinnerte sich an die Tränen, wie sie langsam an ihren Wangen hinuntergerollt waren. Er war noch nie lange von zu Hause fort gewesen und er fand es dumm, dass er es so gesagt hatte. Wie sonst so oft hatte er ihren Protest erwartet, wenn er etwas machte, was ihr nicht gefiel, aber sie hatte weiter geschwiegen. Später, als er in der Nacht aufbrechen wollte, war sie ins Schlafzimmer gegangen ohne ein Wort des Abschieds, und er hatte vor der Tür gestanden und ihm war nichts eingefallen, wie er sich hätte verabschieden sollen.

Yusuf schob seine Gedanken beiseite und schaltete doch das Radio ein, ganz leise. Er schaute weit nach vorne und sah die Rücklichter der Fahrzeuge, wie sie vor ihm auf dem Weg durch die Nacht ihre roten Spuren hinterließen.

*

Blohm erwachte. Er reckte sich und verzog sein Gesicht, als hätte er sich verrenkt. Langsam richtete er sich auf.

„Sie können die Rückenlehne auch ganz runterstellen, dann können Sie bequemer schlafen“, riet Yusuf ihm.

Blohm sah durchs Fenster, offensichtlich spähte er nach Hinweisschildern.

„Wie weit sind wir?“, fragte er.

„Hinter Dresden.“

„Wie lange brauchen wir bis Prag?“

„Schätze anderthalb Stunden, wenn wir weiter so gut durchkommen.“

„Fahren Sie dort einen Rastplatz an“, sagte Blohm nach einer Weile, „ich denke, wir sollten eine Pause machen.“

Yusuf nickte. Und getankt werden muss auch, sagte er sich, als sein Blick zur Benzinuhr ging.

Blohm lehnte sich wieder zurück, ohne die Rückenlehne verstellt zu haben, so wie Yusuf es vorgeschlagen hatte, und war kurze Zeit später trotz seiner unbequemen Position wieder eingeschlafen. Er wachte erst auf, als Yusuf das Taxi auf einen Rastplatz in der Ortschaft Jihlava lenkte und eine Tankstelle ansteuerte. Während der Diesel in den Tank floss, übte Yusuf sich hinter der Zapfsäule in zaghaften Dehn- und Streckübungen.

„Ich brauche Geld für die Tankfüllung“, rief er über das Autodach hinweg zu Blohm, der gerade ausstieg.

Blohm kam herum und gab ihm zweihundert Euro. „Gleich für das nächste Mal mit“, sagte er brummig, offensichtlich war er noch verschlafen.

Als Yusuf von der Kasse zurückkam, entdeckte er Blohm vor dem Motel, das gleich hinter der Tankstelle lag, und verstand dessen Winken so, dass er mit dem Taxi nachkommen sollte. Er musste einmal um die Tankstelle herum fahren, und als er den Parkplatz vor dem Motel erreichte, war Blohm bereits in das Gebäude gegangen. Yusuf blieb im Taxi. Er spürte jetzt, dass er müde wurde, und fuhr seine Rückenlehne etwas runter, aber gleich wieder hoch, als Blohm wieder aus dem Motel herauskam.

„Wir sollten hier etwas frühstücken. Ich warte im Restaurant auf Sie, bis Sie sich frisch gemacht haben. Die Waschräume sind so früh am Morgen noch angenehm leer“, sagte Blohm, als er am Auto angekommen war.

Er nahm einen seiner beiden größeren Koffer aus dem Kofferraum und ging ins Motel zurück. Yusuf nahm den Waschbeutel aus seiner Gepäcktasche. Etwas später setzte er sich zu Blohm an den Tisch. Außer ihnen waren keine Gäste im Restaurant. Er hatte sich nach dem Waschen rasiert, was dazu beitrug, dass er sich etwas frischer fühlte. Der Kellner brachte Kaffee und Yusuf genoss den Duft, als er seine Tasse füllte. Danach stellte der Kellner Toast und dunkles Brot sowie eine Platte mit Wurst und Käse auf den Tisch.

„Ich bestelle uns noch Spiegeleier, oder mögen Sie lieber ein gekochtes Ei oder Rührei?“, fragte Blohm kauend.

„Spiegelei, und etwas Marmelade für mich.“

„Sie hatten das Taxi so schnell aufgetrieben“, fragte Yusuf später, als sie schon fast mit dem Frühstück fertig waren und nur noch den Kaffee vor sich stehen hatten. „Kannten Sie den Händler schon vorher?“

„Durch meine Geschäfte habe ich viele Kontakte.“

„Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich beim Kauf dabei gewesen wäre. Ich hätte mir den Wagen genauer angesehen. Irgendwie fehlt es ihm an Leistung.“

„Wie kommen Sie denn darauf?“, Blohm schaute lauernd auf.

„Heute früh, bei den Steigungen, zog er nicht richtig durch. Und in den scharfen Kurven hatte ich das Gefühl, dass er etwas schwimmt.“

„Was erwarten Sie, der Wagen hat schon einige Kilometer auf der Uhr.“

„Ich hab diesen Typ jahrelang als Taxi gefahren, war immer zuverlässig, bis zuletzt. Wir sollten den Wagen in einer Werkstatt checken lassen.“

 

„Dazu haben wir nicht die Zeit“, entgegnete Blohm.

„Wir können auch eine Tankstelle anfahren, den Wagen aufbocken, und ich seh mir das Fahrwerk selbst an.“

Blohm schüttelte unwirsch mit dem Kopf. „Nein, kommt nicht in Frage, wir sollten die Zeit lieber nutzen, um uns auszuruhen, die Fahrt ist noch lang genug und der Wagen wird es schon schaffen. Sie sagten doch selbst, dass es ein zuverlässiges Auto ist.“

„Ich wollte nur darauf hinweisen. Aber Sie müssen es wissen, Sie sind der Chef.“ Yusuf tat gleichgültig, aber er machte sich doch Gedanken um das Taxi, schließlich sollte beim Verkauf in Istanbul der Preis nicht durch irgendeinen Mangel am Fahrzeug geschmälert werden.

„Gönnen Sie sich eine Schlafpause“, sagte Blohm. „Reicht Ihnen dafür die Zeit bis, sagen wir, zwölf Uhr?“

„Sie meinen ich soll im Auto schlafen?“

„Es macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus? Für die paar Stunden lohnt sich doch kein Zimmer mehr.“

Yusuf war es egal. Das Frühstück hatte ihn noch müder gemacht. Hauptsache, er konnte schlafen. Er rechnete sich aus, dass er fast fünf Stunden schlafen konnte.

„Von mir aus, es wird schon gehen.“

„Ich bleibe hier“, sagte Blohm, „ich werde etwas lesen und ich muss noch ein paar Telefonate erledigen.“

„Geschäftlich, nehme ich an.“

Blohm nickte.

Yusuf fuhr das Taxi um das Motel herum in eine abgelegene Ecke des Geländes. Es gab keinen Betrieb und keinen Verkehr, trotzdem wollte er sichergehen und die wenigen Stunden ungestört bleiben. Die Rückenlehne ließ er ganz runter, fast in die Waagerechte, und da er nicht annahm, im Kofferraum eine Decke zu finden, und auch gar nicht erst danach suchen wollte, rollte er seine Jacke zusammen und legte sie unter den Kopf. Während seiner Arbeit als Taxifahrer war er es gewohnt, in den Wartezeiten mal kurz zu nicken, und er hatte gelernt, wie man im Fahrersitz entspannen konnte.

*

Um die Mittagszeit steuerte er das Taxi auf die Autobahn Richtung Budapest, fünfhundert Kilometer waren es bis dahin, wusste er. Blohm hatte nichts erwähnt, ob sie dort übernachten würden. Yusuf fühlte sich ausgeruht; angesichts der sechs Stunden Fahrzeit, die vor ihnen lagen, wünschte er sich aber am Abend ein Bett für die Nacht.

Das wird anstrengend, dachte er. Anstrengender, als er es sich vorgestellt hatte. Er versuchte sich zu erinnern, ob es anstrengend gewesen war, damals vor dreißig Jahren, als er in die Türkei gefahren war. Ihm fiel nur ein, wie gerne er damals gefahren war, und er glaubte, sich zu erinnern, dass sie immer nur einmal auf der weiten Reise übernachtet hatten, er und seine Familie, und gestoppt hatten sie auch nur zum Tanken. Heute Abend würde er auch wieder nachtanken müssen und spekulierte auf eine längere Pause.

„Wie hat es Ihre Frau eigentlich aufgefasst, dass Sie so schnell wegmussten und sie einige Zeit alleine bleiben muss?“, fragte Blohm.

Yusuf war wieder einmal erstaunt. Wieso machte Blohm sich Gedanken über seine Frau? Er suchte nach einer Antwort.

„Was soll sie schon gesagt haben? Es kann ja mal vorkommen, dass ich eine längere Tour übernehme.“

„So lange waren Sie aber wahrscheinlich noch nie weg, das wird ihr sicher nicht gefallen haben.“

„Es wird ihr schon nichts ausmachen.“

„Haben Sie ihr von dem Geld erzählt, das Sie bekommen?“

„Nein, ich will sie damit überraschen.“

„Na, das ist doch auch was.“ Blohm sagte es affektiert.

Zwei Stunden später ließ er anhalten und sie vertraten sich für eine halbe Stunde die Beine. Yusuf merkte, wie ihm die frische Luft guttat, aber nachdem sie wieder unterwegs waren, überfiel ihn umso mehr die Müdigkeit. Mit einem Blick auf Blohm schaltete er die Klimaanlage zwei Grad runter, um sich wach zu halten, aber der tat so, als sei ihm dies egal.

Ob er im Hotel geschlafen hatte? Vielleicht hatte er sich doch ein Zimmer gegönnt. Yusuf schielte hinüber. Einen ausgeruhten Eindruck machte er ihm allerdings nicht. Blohm döste vor sich hin und ab und zu schloss er die Augen. Die Rückenlehne war auch jetzt noch immer aufrecht eingestellt und sein Kopf fiel irgendwann gegen das Seitenfenster.

Am späten Nachmittag verspürte Yusuf Hunger und er stellte sich vor, wie er und Blohm zu Abend speisten. Budapest war jetzt nicht mehr weit und er war gespannt darauf, ob Blohm einen Schnellimbiss an der Autobahn anfahren wollte oder ob er ein Restaurant vorziehen würde. Die Vorstellung von einem guten Essen vergnügte ihn und hielt ihn weiterhin wach. Er freute sich darauf, bald endlich eine Pause machen zu können.

Es war achtzehn Uhr, als er auf die Armaturen schaute, und sie hatten Budapest fast umrundet, aber Blohm döste immer noch vor sich hin.

Yusuf räusperte sich. „Soll ich den nächsten Rastplatz anfahren, einen mit Hotel?“

Blohm schreckte hoch. „Was? Nein, egal, sehen Sie nur zu, dass wir tanken und eine Kleinigkeit essen können.“

Yusufs Hoffnung auf ein gutes Abendessen schwand dahin.

„Und wie ist es mit Übernachten? Ich bin jetzt sechs Stunden gefahren.“

„Wir halten eine Stunde. Danach fahren wir gleich weiter bis Arad. Das sind noch ungefähr vier bis fünf Stunden. Dann sind wir auch schon in Rumänien. Dort schlafen Sie sich bis zum Morgen richtig aus.“

Was aufmunternd klingen sollte, empfand Yusuf als Zumutung. Als sie sich kurze Zeit später auf einem Autobahnrasthof gegenübersaßen, sprachen sie nicht viel miteinander. Er aß wieder Spiegelei mit Brot und trank eine Flasche Wasser in kurzer Zeit leer. Warum wollte Blohm noch in der Nacht die rumänische Grenze passieren? Und warum ließ er ihn die vielen Stunden durchfahren, abgesehen von dieser kurzen Pause? Er wollte ihn nach dem Grund fragen, ließ aber davon ab. Vielleicht wird nachts an der Grenze weniger streng kontrolliert? Dann müsste Rumänien tatsächlich vom Schengener Abkommen ausgenommen sein. Er sah nachdenklich auf Blohm, der seinen letzten Bissen des schnellen Abendessens nahm.

*

Sie verließen die Autobahn E 75, bogen bei der Stadt Szeged auf die Straße nach Arad ab und fuhren dem Ort Nagylac entgegen. Yusuf wusste, dass sie dort auf den Grenzübergang zwischen Ungarn und Rumänien treffen würden. Er sah hinüber zu seinem Fahrgast. Der schlief jetzt nicht mehr und döste auch nicht, saß ruhig in seinem Sitz und schien entspannt.

Nicht so er selbst. Ihn befielen unruhige Gedanken, er chauffierte immerhin jemanden, der ihm undurchsichtig genug vorkam. Es gefiel ihm nicht. Wie schnell hatte er zugesagt, ohne große Überlegung. Leicht verdientes Geld? Gefährlich konnte es werden, verdammt gefährlich. Und verrückt kam es ihm vor, als er sich zum ersten Mal bewusst vorstellte, wie er auf dem Rückweg die Diamanten durch unbekanntes Gelände schmuggeln sollte. Einfach nicht mehr mitmachen und umkehren? Wie würde Blohm reagieren, wenn er nicht mehr weiterführe? Nochmals warf er einen unauffälligen Blick auf ihn. Von wegen Geschäftsmann. Einen Kriminellen, der ihn nicht schlafen ließ, fuhr er durch die Gegend. Ein abgebrühter Kerl saß da, den die bevorstehende Grenzüberfahrt nicht zu bekümmern schien. Jetzt einfach aufhören und umkehren! Yusuf dachte wieder an die Summe von fünfzigtausend Euro und er dachte an seine Frau.

Kurz vor dem Grenzübergang wurde er ruhiger, seine düsteren Gedanken verflogen und er konzentrierte sich darauf, die Grenze zu passieren.

Noch auf ungarischem Boden fuhren sie ohne anhalten zu müssen an geschlossenen Schaltern vorbei. Auf der rumänischen Seite lag die Grenzstation in grellem Licht. An allen Durchlässen standen Beamte, stoppten jedes Auto und schauten ins Innere der Fahrzeuge. Yusuf sah ihre Taschenlampen aufblitzen. Ein Beamter winkte sie als nächste heran, langsam ließ Yusuf den Wagen rollen und stoppte ihn genau bei dem Grenzpolizisten. Er öffnete das Seitenfenster und reichte seinen Pass hinaus. Blohm tat es ihm nach, indem er sich über ihn hinweg zum Fenster beugte. Yusuf spürte seinen eigenen Arm zittern und auch seinen Atem, ganz leicht; bei Blohm bemerkte er nicht die Spur einer Regung, nur dessen Gesicht sah im Licht der Taschenlampe fratzenhaft aus, als ihr Schein ins Auto fiel. Dann verlangte der Beamte nach den Fahrzeugpapieren. Yusuf war erstaunt, denn der Beamte sagte es auf Deutsch. Ein zweiter Grenzpolizist kam hinzu und sie hielten die Papiere ins Licht. Blohm sah mit starrem Blick geradeaus durch die Frontscheibe. Es schien so, als sähe er durch den Beamten hindurch, der gerade das Nummernschild vorne am Auto überprüfte.

Der Grenzbeamte gab seinem Kollegen einen Wink und der gab die Papiere zurück. Auf Deutsch wünschte er gute Fahrt. Langsam fuhr Yusuf das Taxi durch die Station.

„Zeigten Sie vorhin Ihren richtigen oder Ihren falschen Pass?“, fragte er, als er kurz darauf wieder Fahrt aufgenommen hatte.

Blohm erwiderte nichts.

Um Mitternacht erreichten sie die Stadt Arad. Blohm, der vorher in seinen Papieren geblättert hatte, offensichtlich um nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu suchen, wies ihn an, die Autobahn zu verlassen, und nannte ihm den Namen eines Hotels, das er wohl in seinen Unterlagen gefunden hatte. Wenig später fiel Yusuf vor Übermüdung ins Bett. Blohm hatte für sie zwei Zimmer gebucht.

*

Yusuf sah in den Außenspiegel. In der weiten Ebene fiel Arad immer weiter zurück. Vor ihnen türmten sich die bewaldeten Hänge der Südkarpaten auf. Blohm hatte ihm beim Frühstück Ruse als Ziel genannt, die Stadt gleich hinter der bulgarischen Grenze, und eine weitere Übernachtung in Aussicht gestellt. Das behagte ihm, denn nachts zu fahren war keine angenehme Angelegenheit auf den osteuropäischen Straßen; oft waren es die Fernfahrer, die mit ihren Lkws rücksichtslose und riskante Manöver fuhren.

Er fühlte sich ausgeschlafen und bekam eine spürbar bessere Laune, wozu die Aussicht beitrug, nach acht Stunden Fahrt wieder anständig übernachten zu können. Er streifte noch einmal seine trüben Gedanken der letzten Nacht, bevor er sie beiseite wischte. Die Bilder Istanbuls, fern und verschwommen, führte er lieber herbei, und sie wurden ihm immer deutlicher, und über diesen Bildern, am Ende dieser Reise, sah er die Summe von fünfzigtausend Euro.

Auch Blohm schien guter Dinge, er drückte die Knöpfe am Radio, das ihn bisher nicht interessiert hatte. Er blieb bei einem Sender mit orientalischer Musik hängen, und Yusuf wunderte sich, dass diese ihm wohl gefiel, denn er sah, wie Blohm mit den Fingern auf seinem Oberschenkel den für an westliche Klänge gewohnte Ohren ungewöhnlichen Takt schlug.

Yusuf wollte wieder über Blohm nachdenken, doch er führte sich stattdessen einmal mehr die gewaltige Summe von fünfzigtausend Euro vor Augen, die er bekommen würde und was dies für ihn bedeutete. Ein eigenes Taxi wäre, als er es genauer betrachtete, nicht unbedingt sein größter Wunsch. Er war schon so lange im Geschäft und er konnte sich keine Klarheit verschaffen, ob er wirklich noch mal neu anfangen wollte, selbst wenn er dann einen eigenen Betrieb besitzen würde.

Er dachte darüber nach, was er mit fünfzigtausend Euro anstellen konnte, wenn er zurück in die Türkei ginge. Immerhin, mit der Rente aus Deutschland später und dem Geld von Blohm käme er in der Türkei gut zurecht. Ein kleines Haus auf dem Land, vielleicht als Hobby ein wenig Viehzucht, obwohl er keine Kenntnisse darüber besaß. Auf jeden Fall ließe es sich gut leben, ohne arbeiten zu müssen.

Bisher hatte er keine Vorstellung davon gehabt, wie das Leben als Rentner sein würde, ob in Deutschland oder in der alten Heimat. Er fühlte sich mehr als Deutscher, tief im Herzen aber war er ein Türke, und er wusste, dass er immer ein Türke bleiben würde. Und von seiner Frau dachte er es genauso. Sie hatten noch nie darüber gesprochen, er und seine Frau, ob sie jemals wieder in die Türkei zurückgehen wollten. Die Vorstellung davon gefiel ihm plötzlich, vielleicht, weil er nach so langer Zeit wieder auf dem Weg dorthin war? Ihn überkam wieder die Vorfreude, bald in der Türkei zu sein, wie am Anfang der Reise.

Auf den Steigungen des engen Gebirges drückte er das Gaspedal ganz durch und obwohl das Automatikgetriebe ständig schaltete, stellte Yusuf wieder mangelnde Durchzugskraft fest. Der Wagen neigte auch dazu, hinten leicht auszubrechen. Er wusste, dass dem Auto die modernste Technik fehlte, und wirkte dem entgegen, indem er die Kurven schnitt, wenn es der Verkehr zuließ. Aber er wunderte sich, denn sie waren nicht übermäßig beladen. Er wollte Blohm wieder darauf aufmerksam machen, offenbar schien der davon nichts zu spüren, aber er wollte ihn schließlich nicht stören, sein Fahrgast neben ihm las in einer Zeitschrift.

 

Bei Sibiu fuhr Yusuf das Taxi an eine Tankstelle und während sie vor der Zapfsäule standen, unternahm er den Versuch, unter das Fahrzeug zu schauen. Es strengte ihn an, denn sein fülliger Körper hinderte ihn beim Bücken und so war es ihm nicht möglich, einen Blick unter das Auto zu werfen.

Blohm, der um den Wagen herumkam, raunzte ihn an. „Was wälzen Sie sich denn da im Dreck herum?“

„Wenn ich doch nur die Achsen kontrollieren könnte, merken Sie denn nicht, wie der Wagen in manchen Kurven schwimmt?“, rechtfertigte Yusuf mit ächzender Stimme seine vergebliche Inspektion, als er wieder hochkam.

„Da ist nichts, ich kenne den Händler, er hat uns keinen Schrott verkauft. Sie werden in Istanbul schon Ihre Fünfzehntausend dafür bekommen.“

„Wir könnten ihn dort auf die Hebebühne stellen.“ Yusuf zeigte auf die offene Halle hinter der Tankstelle. „Das geht ganz schnell.“

Blohm wehrte ab. „Wir fahren weiter. Die Hälfte haben wir ohne Probleme schon hinter uns, die andere schaffen wir genauso.“

„Sie fahren ja nicht“, maulte Yusuf und zerrte an den Reifen, um wenigsten diese zu prüfen. Er war wütend über Blohms Gleichgültigkeit. Während der Weiterfahrt ärgerte er sich immer noch über dessen strikte Weigerung, das Taxi aufzubocken.

Im flachen Gelände um Bukarest herum lief der Wagen ganz normal, wie er auch auf dem größten Teil der Reise gefahren war. Aber schon die leichten Anstiege kurz vor der bulgarischen Grenze, der sie am Nachmittag entgegenfuhren, schaffte das Taxi nicht ohne diese Auffälligkeiten.

Um siebzehn Uhr verminderte Yusuf die Geschwindigkeit, Schilder wiesen auf die nahe Grenze, und kurz darauf sah er die Grenzbeamten vor den Durchlässen und wie einer von ihnen sie heranwinkte. Dann sah er, wie sich die flache Hand des Polizisten hoch erhob und sich ihnen entgegenstreckte, zum Zeichen, dass sie stoppen sollten.