Geschichte der Demokratischen Schule

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»Das Reformmodell entspannte die Atmosphäre im Gefängnis auch zwischen Personal und Gefangenen. Gewaltanwendung, Verletzungen, Rückfälle und Fluchtversuche nahmen deutlich ab. Auswärtige und ehemalige Gefängnisbedienstete waren allerdings entsetzt, vor allem von der Vorstellung der 1400 ungeregelt im Hof spazierenden Zuchthäusler. Die konservative politische Opposition bekämpfte die Reform.

Das System funktionierte über ein Jahr in Sing Sing. Dann wurde Osborne Ende 1915 wegen schlechter Leitung, Favoritismus und Homosexualität beschuldigt, angeklagt und aus seinen Ämtern entfernt. Acht Monate später wurde er freigesprochen und wieder in die Ämter eingeführt. Doch die Tatsache des Prozesses hatte ihm die Arbeit faktisch unmöglich gemacht, er trat nach kurzer Zeit zurück.«

127Auch das erste flächendeckende Modell einer Schülermitverwaltung (in der US-Kolonie Kuba) geht auf den Einfluss Georges zurück.

128Insgesamt sind dutzende (vielleicht hunderte) Junior Republics (mehr oder weniger originalgetreu) als Nachfolger entstanden. Die vier noch bestehenden George Junior Republics in den USA haben die Selbstregierung abgeschafft.

Die Gründe für das Scheitern sind laut Kamp (1994) unbekannt und vermutlich vielfältig. Kamp kritisierte in diesem Zusammenhang vor allem theoretische Lücken im Konzept der Republik:

129Neben der mangelhaften theoretischen Untermauerung des Konzepts und der schwierigen Sozialisation der Kinder, kritisiert Kamp vor allem die strikte Nicht-Einmischungspolitik von George, selbst bei Krisen, als verantwortlich.

Angelehnt an die Überlegungen von Janusz Korczak und Yaacov Hecht (vgl. Kapitel 2.3 & Kapitel 3.1) scheint aber auch die, sowohl schriftlich als auch diskursive Abwesenheit verfasster Kinderrechte/Menschenrechte, die über den Entscheidungen der Versammlung stehen, ein Grund zu sein.

130George selber schrieb einmal: »It is easy to find boys and girls capable of governing themselves. It is difficult to find adults who have the requisite faith and breadth of vision to allow them to do so in fact as well as in name.«

Übersetzung: »Es ist einfach Jungen und Mädchen zu finden, die in der Lage sind sich selbst zu regieren. Es ist schwierig Erwachsene zu finden, die das nötige Vertrauen und die umfassende Weitsicht besitzen, ihnen dies auch zu erlauben und das auch so zu formulieren.«

Das scheint glaubwürdig, denn es deckt sich auch mit der Erfahrung aus Summerhill (vgl. Kapitel 2.2.1.3) und dem Werkplaats Kindergemeenschap (vgl. Kapitel 2.4.2), welche ebenfalls sehr große Probleme hatten/haben passendes Lehrpersonal zu finden.

131Wenngleich schon zuvor Bourdon und Stephani sich einem demokratischen Staatsmodell in ihrer Kinderrepublik genähert haben, so ist der Anfang der reformpädagogischen Kinderrepublikbewegung bei der George Junior Republic in Freeville 132 (1895–heute) zu suchen. Ihr folgten die übrigen George Junior Republics. Diese Republikbewegung in den USA und darüber hinaus war vor dem Ersten Weltkrieg eng mit der ebenfalls internationalen Jugendgerichtsbewegung um Benjamin Lindsey und der allgemeinen reformpädagogischen Bewegung verflochten. (Richter Lindsey praktizierte ein stark auf Resozialisierung ausgerichtetes Strafvollzugssystem für Jugendliche und wand sich gegen die Gleichstellung von Erwachsenen und Jugendlichen vor Gericht.)

133Das 1913 in England gegründete Little Commonwealth war als George Junior Republic geplant und angekündigt worden. Der, aus den USA kommende, Leiter Homer Lane versah das sehr dogmatisch-politisch orientierte Republik-Konzept mit einem psychoanalytischen Unterbau und schuf so ein pädagogisch und therapeutisch fundiertes, und laut Martin Kamp (1994) erstmals wirklich praktikables theoretisches Konzept. Er begründet dadurch die britische Traditionslinie der vom Kinde ausgehenden, freiheitlichen, psychoanalytischen Heimerziehung. Weitere selbstregierte Schulen und Heime von Lane-Nachfolgern, Lane-Nachfolger-Nachfolger und Kollegen in Großbritannien sind:

Beacon Hill (B. u. D. Russell), Red Hill (O. L.Shaw), Kilquhanity House (J. M. Aitkenhead), Dartington Hall (B. Curry), Childscourt (J. Coleman), Summerhill (Neill), Kingsmuir (L. Francis)

In Deutschland entstand gleichzeitig in der Jugendbewegung und in Landerziehungsheimen ein radikaler linker Flügel als eigene Traditionslinie. Dazu zählten die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Wyneken, Paul Geheeb und vor allem die Odenwaldschule. In Deutschland bezog sich aber nur Wynekens Weggefährte Wilker im Lindenhof auf George und Lane.

Infolge der engen Zusammenarbeit mit dem US-Militär wurde der Junior Republic Nachfolger Boys Town nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa sehr bekannt und zum Vorbild mehrerer neu gegründeter Republiken für kriegsverwahrloste Kinder in Europa. Zu den bekanntesten zählen die Jungenstadt Buchhof am Starnberger See, Bemposta in Spanien und Civitaveccia in Italien.

Kamp (1994) berichtet außerdem: 134»In Rußland und der Ukraine wurden in der relativ freiheitlichen frühsowjetischen Zeit reformpädagogische Modelle (z. B. Selbstregierung) der westlichen Welt per Dekret übernommen (wenn auch nicht unbedingt praktiziert).«

Er vermutet hunderte selbstverwaltete Kolonien und Kommunen in der Zarenzeit und vor allem in den 20er Jahren. So bezog sich der sowjetische Reformer Makarenko auf selbstregierte US-Kinderrepubliken. 135Sehr wahrscheinlich sind damit die George Junior Republics gemeint. Wie demokratisch diese Kinderrepubliken waren, ist auf Grund der, vermutlich wegen der politischen Verhältnisse, häufigen Tatsachenverdrehung Makarenkos und der Sowjet-Propaganda, die ihn als Vorzeigepädagogen hochstilisierte, unklar.

136Lanes bedeutendster Nachfolger ist A. S. Neill, dessen Internat Summerhill weltbekannt wurde (vgl. Kapitel 2.2.1.3). Sehr ähnlich ist die Arbeit des Lane-Nachfolgers und Biographen W. D. Wills im Q-Camp für delinquente junge Männer und in mehreren selbstregierten Heimen für Kinder, darunter Barns House.

2.2.1.3 Summerhill – Die vielleicht berühmteste Schule der Welt

137Alexander Sutherland Neill besser bekannt als A. S. Neill, ist der mit Abstand berühmteste Vertreter Demokratischer Schulen.

138Er gelangte sowohl als Schriftsteller, wie auch als »Gesicht Summerhills« zu Ruhm und großer Bedeutung und war mit berühmten Pädagogen und Psychologen seiner Zeit befreundet (Wilhelm Reich) und in Kontakt (Sigmund Freud, Mario Montessori (der Sohn von Maria Montessori), Paul Geheeb, …).

139Seine Bücher erreichten Millionenauflagen und beeinflussten die Alternativschulbewegung so stark, dass der Deutschlandkorrespondent der Times 1971 quasi religiöse Anbetung in Deutschland erkennen konnte. Summerhill sei laut ihm in Deutschland ein »holy place«.

140Diese Verehrung für Summerhill galt nicht nur für Deutschland. Um es mit den Worten des ehemaligen Schülers Joshua Popenoe zu sagen: »Einige Besucher sind so in diesen Ort vernarrt, daß ich überzeugt bin, wir könnten ihnen ohne weiteres sogar ein Päckchen mit echtem Summerhill-Dreck verkaufen.«

141 142Summerhill ist die älteste, noch existierende Demokratische Schule (nach der Stufen-Definition vgl. Kapitel 1.4) der Welt und die vielleicht berühmteste Schule der Welt überhaupt. 143Auf Grund der herausragenden Bedeutung von Neill und Summerhill für die Demokratischen Schulen wird hier intensiv auf Neill und Summerhill eingegangen. Was durch die 19 Bücher Neills, zahlreiche Publikationen, Artikel, Fernsehbeiträge, Filme, etc. über ihn und seine Schule, wie für keine andere Demokratische Schule möglich ist.

Zudem erschließt sich dadurch der Kontext der Gründung und der Alltag an einer Demokratischen Schule, was beispielhaft auch für andere Schulen gelten dürfte.

Etliche Schulgründer Demokratischer Schulen waren vor der Gründung ihrer Schulen mit Summerhill in Kontakt (vgl. Kapitel 4 – Abbildung 6).

Seine Wirkung reicht jedoch weit über die der Demokratischen Schulen hinaus.

144»Pointiert kann behauptet werden, daß Alexander Neill der letzte internationale pädagogische ›Superstar‹ war. Seit seinem Tod (und auch lange Zeit davor) gab es keinen bedeutenden Pädagogen, der die öffentliche Diskussion über Erziehung in dem Maß beeinflusst hat, wie Neill es tat.«

2.2.1.3.1 A. S. Neill

145»Summerhill is Neill. It is the direct expression of his personality.« so beschrieb die Schriftstellerin Ethel Mannin, die Lyme-Regis Mitte der zwanziger Jahre besuchte und ihre Tochter Jean bei Neill zur Schule schickte.

146Neill wurde am 17. Oktober 1883 in Forfare im schottischen Dundee geboren. Sein Vater war Schulleiter, seine Mutter Hausfrau. Als Lehrerfamilie hatte die Familie ständig Geldsorgen, gleichzeitig fühlten sie sich aber den gehobeneren Kreisen zugehörig. Über seine Mutter schrieb Neill in seiner Biographie: »Sie war ein Snob, und sie machte Snobs aus uns.« Über seinen Vater schrieb er: »Mein Vater machte sich nichts aus mir, als ich ein Kind war. Er war oft grausam zu mir, und ich entwickelte eine ausgesprochene Angst vor ihm, eine Angst, die ich auch als Mann nie ganz überwand.« Der Unterricht an einer schottischen Dorfschule war geprägt von Zwang und Disziplin. Die Einkünfte des Schulmeisters orientierten sich am Schulerfolg seiner Zöglinge, den der Schulrat in regelmäßigen Inspektionen ermittelte. Die daraus resultierende Furcht des Vaters vor dem Urteil des Schulrats übertrug sich auf die Kinder.

Häufig wurde von der Peitsche Gebrauch gemacht. Neill war ein eher schlechter Schüler, weswegen er als einziges Kind der Familie keine weiterführende Schule besuchen durfte. Er arbeitete als Schreibkraft und Paketzusteller bevor er sich zum Lehrer ausbilden ließ. Dies war der erste Beruf, der ihm verhaltene Freude bereitete und sein Interesse an schulischen Fächern aufkommen ließ. Als er sich aber für einen Platz an der Lehrerakademie zur weiteren Ausbildung bewarb, errang er den 103ten von 104 Plätzen und wurde nicht zugelassen. Er arbeite als Hilfslehrer an verschiedenen Dorfschulen, in denen ständig zugeschlagen wurde und ein militärischer Drill herrschte.

 

147In Rückerinnerung an diese Zeit schrieb er: »Es muß in jenen Jahren Zeiten gegeben haben, in denen ich fröhlich war, aber hauptsächlich erinnere ich mich an Angst.«

148Bevor er an die Universität wechselte, arbeitete er an einer immer noch strengen Schule. Hier war es ihm jedoch zumindest möglich, Exkursionen zu machen und verschiedene seiner Ideen auszuprobieren. Die Zeit an der Universität ließ ihn vom Konservativismus Abstand nehmen und er wand sich sozialistischen Ideen zu und schrieb an der studentischen Zeitung der Universität Edinburgh mit. Viele seiner Artikel drehten sich um Pädagogik und er fing an, harte Kritik am Universitätslehrsystem zu äußern. Nach der Universität wurde er Journalist und wand sich endgültig dem Sozialismus zu.

Er wurde Mitglied in der sozialdemokratischen/sozialistischen Westminster Labour Party, 149 150 151die damals wie heute in etwa mit der SPD vergleichbar ist.

Neill hielt in der berühmten Speakers Corner im Hyde Park Reden: 152»Bei einer Gelegenheit erwähnte ich törichterweise das Hauptpostamt als leuchtendes Beispiel für den Sozialismus. Daraufhin wurde ich von einem Briefträger niedergeschlagen.«

153»Später sollte Neill häufig öffentliche Vorträge halten – sie sind ein nicht zu unterschätzender Anteil an seinem publizistischen Schaffen und seine rhetorischen Kompetenzen müssen beachtlich gewesen sein.« Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erhielt er eine Stelle als Schulleiter, wodurch sich an der vormals strengen Schule einiges änderte. Kinder durften das Klassenzimmer verlassen, wenn sie wollten. Es gab Freiarbeit und Exkursionen. Eine Schülerzeitung wurde gegründet und politische Themen, wie der Weltkrieg oder die Frauenrechtsbewegung, wurden diskutiert. Das traf nicht immer auf Begeisterung bei Eltern und dem Schulrat.

Die Beschreibung seines Schulalltags mit Projektunterricht, Exkursionen und Diskussionen erinnert an die Berichte aus Tolstois Schule Jasnaja Poljana (vgl. Kapitel 2.1.1).

Neill veröffentlichte zu dieser Zeit und später in London seine ersten Bücher »A Dominie Dismissed« und »A Dominie’s Log«. In humoristischer Schreibweise erzählt er vom pädagogischen Alltag als Schulleiter und macht sich über das schottische Schulsystem lustig. Beide Werke wurden ein Verkaufsschlager und regten eine Diskussion über das Schulsystem in England an. Nach seiner kurzen, nicht aktiven Militärzeit auf Grund einer Erkrankung, kam er in Kontakt mit Homer Lane und seinem »Little Commonwealth«. Einer Jugendbesserungsanstalt nach dem Vorbild von Georges Junior Republic (vgl. Kapitel 2.2.1.2) mit psychoanalytischem Unterbau. Lane baute anders als George mehr auf Verzeihen, Anerkennung und Verständnis als George, der viel mit harter Hand erzieherisch tätigt war. Hier kam Neill zum ersten Mal mit organisierter Selbstverwaltung und der Psychoanalyse in Kontakt, was seinen weiteren pädagogischen Werdegang maßgeblich prägen sollte. Lane griff selten pädagogisch oder organisatorisch ein. Wenn jedoch, dann in Form psychoanalytisch motivierter »paradoxer Sanktionen«.


A Dominie’s Log – Coverbild

154 »So ›bestrafte‹ das self-government beispielsweise Gesetzesbrecher mit Urlaub, für dessen Kosten die Gemeinschaft aufkam oder Lane forderte einen Jungen, der das ganze Geschirr zertrümmert hatte, auf, nun auch noch Lanes Uhr zu zerschlagen.«

155 »Neill sollte später Kinder zum Einwerfen von Fensterscheiben ermutigen. Er hatte sich allerdings bereits, bevor er Lane kennenlernte, Gedanken über die Anwendung ähnlicher ›paradoxer Strafen‹ gemacht.«

156Das Little Commonwealth und seine große Freiheit für Jugendliche auf Bewährung war den zuständigen Behörden nicht geheuer. Sie veranlassten die Schließung bevor Neill dort arbeiten konnte, weswegen Neill die Arbeit in der progressiven und koedukativen King Alfred School aufnahm. In seinem Unterricht probierte er das »self government« Prinzip Homer Lanes aus, was jedoch in seinen Augen auf Grund der Umstände scheiterte. 157»Und natürlich sahen sie in der ›Selbstverwaltung‹ eine Möglichkeit, eine Stunde lang in meiner Klasse Dampf abzulassen.« Gleichwohl muss es die eine oder andere Sitzung gegeben haben, in der die Selbstverwaltung in Neills Augen zu Ergebnissen geführt hat. Jahre später formulierte Neill seine Lehre aus dieser Erfahrung: 158»You can have true self government only when living in a community all the time.«

159Dieses Prinzip der Stimmigkeit innerer und äußerer Organisation erwähnte er immer wieder und abstrahierte es auf andere Situationen. So riet er Eltern, die ihre Kinder nach Summerhill schicken wollten, aber nicht voll hinter dem Konzept standen, ihre Kinder wieder mit nach Hause zu nehmen.


A. S. Neill als Journalist 1912–1914

160Neill war ab 1920 bei der reformpädagogischen Zeitung »New Era« angestellt und reiste für sie durch Europa, um neue Schulkonzepte zu beschreiben. 161 »Überall in Europa entstanden damals Reformschulen, die ihren Ursprung in der Kritik an den veralteten Erziehungsidealen des etablierten Bildungswesens hatten. Überwiegend handelte es sich hierbei um private Internatsschulen oder Schulen in sozialen Brennpunkten der Städte. In das staatliche Bildungssystem drangen die Reformbestrebungen nicht oder nur sehr allmählich ein. Merkmale dieser neuen Schulen waren beispielsweise die Einführung von Koedukation, Loslösung von festen Stunden- und Fachschemata, Auflösung von Klassen- und Jahrgangsverbänden, Ersetzen von Lehrbüchern durch teilweise selbst erstellte Nachschlagewerke, Schuldruckereien, Schulgärten, … – also die experimentelle Erprobung unterschiedlichster neuer pädagogischer und auch psychologischer Erkenntnisse. Nur wenige der Schulreformer entwickelten einen festen Systemrahmen für ihr Bildungskonzept. Meist experimentierten sie mit wechselnden Elementen. Wenigen von ihnen gelang es, aus diesen Experimenten heraus eine eigene Reformschulidee zu formulieren und eine anhaltende Schultradition zu begründen.«

Er sympathisierte mit manchen Ideen Maria Montessoris, spricht ihnen aber eine gewisse Natürlichkeit ab: 162»Das Montessori-System, so wundervoll es ist, ist eine künstliche Art das Kind zum Lernen durch Tätigkeit zu bringen. Da ist nichts Kreatives dabei.«; denn das kindliche Spiel werde nicht als Lernen und Selbstzweck angesehen, sondern müsse immer zu einem Lernerfolg führen:

163»Meine Kritik […] ist, dass es das Spiel immer mit einem Ziel verbindet … nämlich lernen; aber für mich hat Spiel kein finales Motiv, außer Spaß zu haben.«

164Dies ist eine absolut zentrale Aussage, denn die Haltung zum »Spiel« unterscheidet die Demokratischen Schulen nicht nur vom Montessori-Konzept, sondern von allen bedeutenden reformpädagogischen Modellen.

In vielen Situationen seines Lebens zeigt sich Neills charismatischer Charakter. 165So wurde an der Wychwood-School in Oxford innerhalb einer halben Stunde nach Neills Ankommen ein self-government eingeführt, das längere Zeit Bestand hatte. 166Auf Grund dieses Ereignisses wurde Neill an die St Christopher’s School in Letchwood Garden City, eingeladen, damit er auch hier dasselbe tun sollte. 167Die Rolle des »Missionar« der Selbstregierung entsprach eigentlich nicht Neills Selbstauffassung, aber die Gründung einer eigenen Schule im Raum London scheiterte an zu hohen Mieten.


Dresden-Hellerau: Blick (vom Schulgebäude) über Schulhof und Wohnhäuser des Schulheims (1912)

168Jedoch sollte ihm 1921 in Hellerau bei Dresden eine Stelle als Abteilungsleiter der Neuen Deutschen Schule, die für die Rhythmuspädagogik des Schweizer Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze gebaut wurde, angeboten werden und den Wunsch nach einer eigenen Schule vervollständigen. Er sollte eine internationale Schule nach seinen Vorstellungen betreiben. Neill ergriff diese Gelegenheit und investierte sein ganzes Vermögen von £400 in die Schule. Durch den enorm günstigen Wechselkurs zwischen deutscher Mark und englischem Pfund war er damit verhältnismäßig reich in Deutschland. Zudem konnte Neill mit seinen anfangs 13 Schülern durch ausländisches Schulgeld 20 % mehr Einnahmen erzielen, als die deutsche Schule mit 100 Schülern. Die Gegensätze zwischen Neills radikal freiheitlichen, hedonistischen Positionen und den eher ästhetischen jugendbewegt-asketischen, stärker moralistischen Positionen der deutschen Lehrer führten rasch zu Streitigkeiten, z. B. darum, ob Neill öffentlich Bier trinken und Pfeife rauchen darf.

169»The Neue Schule was run by idealists, most of them belonging to the Jugend movement of Germany. They disapproved of tobacco, alcohol, fox-trots, cinemas; they wore Wandervogel clothes. We on the other hand, had other ideals; we were ordinary folk who drank beer and smoked and danced fox-trots […]. Our intention was to live our own lives while we allowed children to live their own lives. We intended that children would form their own ideals,«


Neills erster Schulprospekt, Weihnachten 1921

170Neill lehnte jede Form »brillanter Unterrichtsideen« ab. »The interest should come from within the child, and this making things too attractive is wrong.« Neill stellte das Tun über das Lesen, folglich statte er die Schule mit einer Holz- und Metallwerkstatt aus.

171Neill berichtete von Abenden, an denen er im oberen Stockwerk mit seinen Schülern nach Grammophonplatten tanzte (eine Tradition, die sich noch in Summerhill nach 1721999 bei Appleton findet, wenngleich die Musik während der »Gram-Time« nicht mehr aus Grammophonen abgespielt wird). Während im unteren Stockwerk des Schulheims vom Leiter der deutschen Abteilung Goethe und Nietzsche vorgelesen wurden. 173»Etliche seiner Schüler schlichen nacheinander die Hintertreppe hinauf, um mit zu tanzen. Das führte zu Verstimmungen.«

174Als schließlich der deutsche Teil unmittelbar vor der Pleite stand, übernahmen Neill und die internationale Schule im April 1922 die Schule (einschließlich der wichtigen Schul-Konzessionen) als »Neue Schule Aktiengesellschaft«. Als Leiter der deutschen Abteilung holten sie Hermann Harless von der Odenwaldschule hinzu.

175Harless schrieb über seine Zeit in Hellerau: »Viel war zu lernen in diesen zwei Jahren des Chaos, und alle Formen der Menschlichkeit kamen beglückend und erbärmlich an uns heran. Wider alles Erwarten war die pädagogische Ausbeute erfolgreich: Die Jugend gedieh trotz des Durcheinanders der Erwachsenen.«

Bereits ab 1922 schrieb Neill über ein Problem, das ihn zeitlebens begleiten wird: Die große Schwierigkeit geeignete Lehrer zu finden. Über sein Lehrerkollegium, das er durchaus achtete, schrieb er: 176»Sozialist mit Neigung zum Bolschewismus, römisch-katholisch, Asket mit einem Hass auf Tabak, [alkoholischen] Getränken, Fox-Trot und Charlie Chaplin; Gentleman, der denkt Psychologie [ist] eine Krankheit; und Lady die an die Erbsünde glaubt.«

177Interessanterweise ist die hohe Zahl ungeeigneter Lehrer auch der häufigste Kritikpunkt von Bernsteins (1968) und Zellingers (1996) Summerhill-Alumni Befragungen.

178Lilian Neustätter, Neills Gastgeberin in Hellerau, übernahm die Organisation des Schulheims, in dem sowohl Lehrerinnen und Lehrer, als auch Schülerinnen und Schüler untergebracht waren. Sie sollte später seine erste Frau werden.

179Nachdem Neill und seine Schule über Österreich und Lyme-Regis am heutigen Standort in Leiston/Suffolk angekommen ist, zieht es ihn (auch auf Grund von Schülermangel) immer wieder zu Vortragsreisen in die westliche Welt. Besonders in Skandinavien stießen seine Ideen auf Resonanz. Hier traf er auch seinen später engen Freund, den Therapeuten Wilhelm Reich, ein bekannter Schüler Sigmund Freuds. Reich beeindruckte Neill insbesondere mit seinem ganzheitlichen Fokus auf die Unterdrückung kindlicher Interessen (vor allem an der Sexualität) die in ihrer Folge zu körperlichen Verspannungen, Angst, Problemen in der Beziehung und (gesellschaftlich aufsummiert) zu Krieg und Diktatur in Verbindung führen kann. Reich bestätigte ihn theoretisch in der freien Ausübung von Sexualität und Nacktheit, die zu den Merkmalen Summerhills zählten. Die beiden Männer verband eine tiefe Freundschaft voller Respekt, festgehalten in unzähligen Briefwechseln.

 

180Reich war der Wissenschaftler und Theoretiker und Neill der Praktiker, um es mit Neills eigenen Worten an Reich zu beschreiben: »Aber mit meiner Arbeit scheine ich doch auf deiner Linie zu liegen, was heißt, daß ich zwar als Theoretiker eine Null, als Praktiker aber ziemlich bedeutend bin.«

181Neill erzählte regelmäßig Fantasie-Geschichten in denen die Kinder, die er in die Hauptrollen setzte, wilde, lustvoll-aggressive Abenteuer mit Löwen und Maschinengewehren bestanden. Mit den Geschichten ermutigte und förderte Neill demonstrativ das (sonst oft verpönte) lustvolle Ausagieren von Aggressionen in der Phantasie: In ihren Phantasien (aber nur dort!) durften sie auch hemmungslos, lustvoll und ohne Schuld töten.

Seine Begeisterung für das Theaterspielen übertrug sich von selbst auf viele Kinder.

Er schrieb Theaterstücke und brachte allein dadurch viele Kinder ebenfalls zum Stückeschreiben. Er legte verbindlich fest, dass nur in Summerhill geschriebene Stücke gespielt werden und Stücke von Erwachsenen nur dann, wenn es an von Kindern geschriebenen Theaterstücken mangelt. An den Sonntagabenden fand stets Neills Spontantheater (Neill’s spontaneous acting) statt.

182»Dies Theaterspiel und die von Neill erzählten Abenteuergeschichten trugen auch therapeutische Züge und sollten Mut, Selbstvertrauen und Kreativität der Kinder verbessern. Scheuen Kindern gab er die Rollen mutiger Helden, auch um ihnen Wertschätzung und Zuneigung zu demonstrieren. Die angepassten erhielten Schurkenrollen, Neill selbst glänzte meist durch Feigheit und Faulheit.«


A.S. Neill und sein Freund Wilhelm Reich

183Schon 1938 hatte er mit dem Buch »Die Grüne Wolke«, einer Geschichte in der einige Summerhillschüler durch den Aufenthalt in einem Raumschiff eine Katastrophe über- und Abenteuer erleben, eine Millionenauflage erzielt.

184Nach dem Tod seiner ersten Frau Lilian Neustätter 1851944 heiratete er 1945 seine zweite Frau Ena Wood, die 1946 die gemeinsame Tochter Zoë zur Welt brachte.

186Erst mit der Heirat von Ena begann für Neill ein wirkliches Privatleben innerhalb Summerhills in einer abgetrennten Wohnung.

1871960 erschien eine Sammlung einzelner Textpassagen, die Hart, ein Bewunderer Summerhills, aus Neills bisherigen Veröffentlichungen zusammenstellte. »Summerhill – Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung« (auf Englisch: Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing) sollte Neill weltberühmt machen und vermutlich auch reich.

Wenngleich er seinen Reichtum nicht erkennen ließ, der vielleicht auch nicht von langer 188Dauer war, da er die finanziell klamme Situation der Schule häufig privat aufbesserte.


Monographien und Buchbeiträge über Neill und Summerhill nach Erscheinungsjahr

189Auch wenn er offizielle Ehrungen gern entgegennahm, stand er dem Establishment stets kritisch gegenüber:

Auf einer Südafrikareise mit zahlreichen Passagieren aus der Oberschicht konnte er sich während der langen Schifffahrt mit niemandem in seiner Umgebung anfreunden. Er schrieb: 190»One of my hopes on this voyage to South Africa was that not a soul on board would know my name.«

Am 23. September 1973 starb Alexander Sutherland Neill. Bis zu seinem Lebensende wurden ihm drei Ehrendoktorwürden, sowie unzählige weitere Ehrungen und zahlreiche Preise verliehen. 191»Es sei Neill zu verdanken, wenn Kinder heute in den Schulen glücklicher seien als es ihre älteren Geschwister einmal waren«, stand in einer Würdigung auf der Titelseite der Erziehungsbeilage der TIMES in der Ausgabe vom 18. Oktober 1963. 192Mindestens 173 Biographien und Buchbeiträge wurden über den 193»cragy, loveable Scot« verfasst. (Siehe Diagramm)

194Neill beschäftigte sich zeitlebens mit dem Thema Frieden und Flucht. Seine Schule sollte als Beitrag für eine friedlichere Welt wirken. Summerhill beherbergte daher Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in den 30er Jahren und verhalf Bekannten, darunter Ilse Rolf, durch ein Anstellungsschreiben an seiner Schule zur Flucht. Die Neills spendeten für die Tschechoslowakei-Hilfe, Flüchtlingskinder wurden zeitweise kostenlos aufgenommen und an der Schule fanden Benefizveranstaltungen für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge statt. Noch im Alter von 78 Jahren nahm er an einer friedlichen Straßenblockade in Holy-Loch-Base in Schottland gegen die Stationierung von Polaris-Atomraketen teil, was ihm eine zweitägige Inhaftierung einbrachte.

195Die von ihm verhasste Prügelstrafe sollte ihn überleben. »Erst am 23. Juli 1986 wurden mit der geringstmöglichen Parlamentsmehrheit von einer Stimme und gegen den entschiedenen Widerstand des Erziehungsministers der (bis dahin amtlich gelieferte) Rohrstock und die förmliche Prügelstrafe in öffentlichen Volksschulen Englands abgeschafft. Dieser Beschluss bezieht sich nur auf Rohrstöcke, nicht auf Ohrfeigen […].«

Nochmals 13 Jahre vergingen bis körperliche Züchtigungen jeglicher Art in England verboten wurden. Nordirland folgte erst 2003.

Nach einer 196Meinungsumfrage befürworteten 2011 40 % der britischen Eltern die Wiedereinführung des Rohrstocks in der Schule.

Abschließend sei gesagt:

197Zu einer Zeit, in der Frauen noch nicht wählen durften, diskutierte er die Ideale der Frauenbewegung mit seinen Grundschülern in der schottisch-calvinistischen Provinz, in Südafrika kritisierte er das Apartheid-System und mit der Kirche stand er stets im Konflikt. Neill fühlte sich zeitlebens den Schwachen und Wehrlosen verbunden, allen voran den Kindern.

2.2.1.3.2 Geschichte Summerhills

198Summerhill entstand aus der Internationalen Schule Hellerau bei Dresden 1921. Die Teilnahme am Unterricht war von Anfang an freiwillig und Neill experimentierte von Anfang an mit Selbstverwaltung.

Eine radikalere Schüler-Selbstregierung gab es wohl nirgends in Deutschland, und die Selbstverwaltungs-Vollversammlung hieß bei Neill (auch noch lange in Summerhill in England) »the Schulgemeinde«

199Nach der Entmachtung der sächsischen Landesregierung durch den Reichstag in Berlin, dem Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und den anschließenden Barrikadenkämpfen verließen viele Kinder die Schule und Neill zog mit seiner Schule in den Wallfahrtsort Sonntagberg in Österreich. Hier kam Neill mit seiner auf unter zehn Kinder geschrumpften Schule nicht gut an. Insbesondere die katholischen, konservativen Bewohner des Wallfahrtsortes nahmen an der Schule Anstoß.


Schriftstück aus Sonntagberg (nicht Sonntagsberg) in Österreich

200Während einer Wallfahrt versahen die Schüler mit Hilfe von Spiegeln Steinfiguren mit Heiligenscheinen. Neill schrieb dazu: 201»Als der Trick der Kinder herauskam, wunderte ich mich, daß wir nicht gelyncht wurden, denn die einheimischen Bauern waren die abscheulichsten Menschen, denen ich je begegnet bin.«

202Nachdem sich ein neunjähriges Mädchen im Badeanzug nach dem Baden sonnte, schütteten Dorfbewohner Scherben in den Badeteich.

203Die österreichischen Behörden verboten die Schule im Jahr 1924. Gleichzeitig ging die Bank, an der Neill ein Schulkonto angelegt hatte, pleite.

204Finanziell angeschlagen zog die Schule mit den verbleibenden fünf Kindern nach Lyme-Regis auf den sogenannten Summer-Hill um. Hier erhielt die Schule ihren heutigen Namen. 1927 zog sie nach Leiston um, wo sie noch heute existiert.

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