Geschichte der Demokratischen Schule

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70Dramatische Konflikte werden scheinbar sofort verhandelt. Robert H. Haworth berichtet, dass sofort eine assamblea einberufen wurde, nachdem ein Kind von einem anderen Kind gebissen wurde.

71Paideia funktioniert anders als andere moderne Demokratische Schulen. Paideia ist in vier Altersgruppen im Abstand von zwei bis drei Jahren unterteilt, jede mit einem selbst gewählten Namen und eigenem Klassenzimmer.

72Die Gruppe entscheidet gemeinsam welche Unterrichtsangebote sie wählen, Aufteilung und Freiarbeit sind aber ebenfalls möglich.

73Damit haben Schüler in Paideia ausgesprochen viel Unterricht im Vergleich zu anderen demokratischen Schülern. Zudem wird gefordert, dass sich jeder Schüler bis zum Ende des Jahres einem selbst gewählten Thema verschreibt, das er der Gemeinschaft präsentieren wird.

74Die anstehenden Gemeinschaftsarbeiten, wie Kochen, erfolgen gemeinsam in altersgemischten Gruppen. Bereits die Siebenjährigen sind an diesen Arbeiten beteiligt.75

76In Berichten über die Schule wird eine ausgeprägte Feedbackkultur erwähnt. Sowohl kollektiv, in Vierteljahresversammlung, in denen auf das vergangene Vierteljahr zurückgeblickt wird, als auch in persönlichen Gesprächen, in denen kontrolliert wird, ob selbst gewählte Lern- und Schaffensziele der Schüler eingehalten wurden.

77Die wichtigsten Lernziele, die in den persönlichen Feedback-Gesprächen reflektiert werden, sind die »…seven values derived from anarchist philosophy: equality, justice, solidarity, freedom, nonviolence, culture, and most importantly happiness.«

Fazit zu Paideia

78Das entgegengebrachte Vertrauen gegenüber den Kindern ist enorm. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass fünfjährige mit Messer hantieren, wenn sie gezeigt haben, dass sie damit umgehen können.

79Es kann auch vorkommen, dass alle Lehrer für eine Woche von den Schülern vom Unterricht suspendiert werden und diese selbständig den Unterricht übernehmen.

80Auf der anderen Seite wird Schule hauptsächlich als Lernort mit Unterrichtscharakter verstanden. Spielen wird wenig Raum eingeräumt und die Lehrer sehen es vermutlich nicht gern, wenn Kinder nicht zum Unterricht gehen und sich mit »unterrichtsfernen« Dingen beschäftigen.


Escuela Libre Paideia – Badajoz Spanien

Ich vermute, Paideia ist trotz zahlreicher Schulversammlungen und großer Freiheit ein Ort, der nicht für alle Kinder die Bedingung einer freien Lernkultur erfüllt. Es benötigt weitergehende Recherchen (vor allem in den spanischen 81 82Quellen) um diese Frage zu klären. Auf der anderen Seite ist die Schule einzigartig in ihrer Betonung der freiwillig gewählten, basisdemokratisch handelnden Gemeinschaft.

Wer mit der Freiheit in anderen Demokratischen Schulen, wie Sudbury, überfordert ist und/oder den kollektiven Charakter individualisierten Lernens an Demokratischen Schulen vermisst und/oder sich darüber hinaus gemeinsam mit anderen einer selbstgeplanten Persönlichkeitsentwicklung im Hinblick auf Gruppenwerte wie, Solidarität, Hilfe, Konfliktvermeidung und -lösung unterziehen möchte, der hat mit Paideia unter Umständen eine interessante Alternative.83

2.1.5 Weitere libertäre Schulen

Grundsätzlich kann ich für die folgenden Schulen keinen Ursprung bei Ferrer, Tolstoi oder anderen Pädagogen finden. Vermutlich ist der dominante Einfluss eher bei der politischen Ideologie zu suchen, was nicht heißt, dass ein Bezug auf Ferrer, Tolstoi oder ähnliche Pädagogen unwahrscheinlich ist.

84So gibt es Erwähnungen von selbstverwalteten Frauenschulen der russischen Nihilisten-Bewegung (1855–1881). Die russischen Nihilisten (nicht zu verwechseln mit dem deutschen Verständnis des Wortes) war eine soziokulturelle und philosophische Strömung. Ihre Anhänger beschäftigten sich viel mit Literatur und waren antiautoritär eingestellt. Nicht wenige Nihilisten verstanden sich als Anarchisten. Ein Bezug auf Tolstoi ist daher in mehrerlei Hinsicht wahrscheinlich, kann aber von mir nicht belegt werden.

85Heute finden sich libertäre Schulen fast ausschließlich im spanischsprachigen Raum. Die höchste Konzentration findet sich vermutlich in den von den indigenen Zapatistas kontrollierten Gebieten in Chiapas (Mexiko).

Mit der Escuela Secundaria existiert dort sogar eine Lehrerausbildungsstätte im Sinne libertärer Pädagogik. 86Leonidas Oikonomakis erwähnt eine autonome Perspektive der EZLN (eig. Bezeichnung der Guerilla der Zapatistas; häufig aber, so auch im Folgenden, als Synonym für die Zapatistas benutzt) auf das Lernen und ein System von promotores y promotoras (auf Deutsch: Förderer und Fördererinnen), nicht nur für Schulen, sondern für alle Lebensbereiche der Zapatista. Dies deutet auf eine Entprofessionalisierung des Lehrers und der Schulen bei den EZLN hin und lässt ebenso eine andere Denkweise auf das Bildungssystem vermuten. Jeder, egal ob Grundschüler, Landwirt oder Soldat ist demnach Lerner und Lehrer zugleich.


Zapatista Schule – Unkenntlichmachung der Gesichter auf veröffentlichten Bildern ist für Zapatistas normal. Zum einen aus berechtigter Angst (auch um Kinder) vor Morden durch rechte Paramilitärs, Großgrundbesitzer, Drogenkartelle, Polizei und Armee (vgl. Wikipedia 2019ü) und andererseits als Symbol der EZLN. Die schwarze Wollskimaske ist eine Anspielung auf die Kunstfigur Sucommandante Marcos, die in der Öffentlichkeit für die EZLN gesprochen hat.

Diese Vorstellung ist essentiell für Demokratische Schulen in denen das Alter als Statuskennzeichen abgelehnt wird und Altersmischung ein wichtiges pädagogisches Merkmal ist (vgl. Kapitel 2.2.1.4).

87»This experience also manifested itself in the organizational structure of the EZLN, which from the beginning had an autonomous perspective: the new recruits were taught some skills that would be useful for the organization, and then they themselves became instructors for the future recruits. The same idea is visible in the Zapatista autonomous education system. Every new graduate becomes himself/herself a promotor/a, responsible for transferring the knowledge they acquired in their respective field to the future generations. In this way, the promotores/as of education become teachers, those of agro-ecology become instructors in the agro-ecology projects of the Zapatistas, those of health become healers and nurses, those of politics assist the political work of the JBG [= Junta de Buen Gobierno; lokale Organisationseinheit der EZLN], while those of information technology work and instruct others in their field.«

88Ein Internat in Oventik beschreibt Oikonomakis als Ort »in which dozens boys and girls from the surrounding communities live and study together […]« und in dem alle Pflichten unter den Jungen und Mädchen aufgeteilt werden. Was wiederum auf selbstverwaltete Schulen hindeutet.89

Interessant wäre eine Recherche nach libertären Schulen und Einflüssen libertärer Pädagogik in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien, besser bekannt als Rojava. Rojava ist ein von der libertär-kommunistischen YPG befreites Gebiet im ehemaligen Einflussbereich des sogenannten Islamischen Staats in Syrien. Nach der Befreiung vom sogenannten Islamischen Staat wurden lokale Räte ausgerufen und in der ganzen vier Millionen Einwohner großen Föderation wurden Betriebe vergesellschaftet und zu Genossenschaften umstrukturiert. Lokale Kommunen (Gemeinschaften aus 30–150 Haushalten) in denen jeder Bewohner mitentscheiden darf, entsenden Vertreter, je eine Frau und ein Mann, in einen übergeordneten Dorf-/Stadtteilrat. Dieser wiederum entsendet Vertreter in ein Regionalparlament, welches wiederum Vertreter in den höchsten Rat entsenden. Die Vertreter werden auf zwei Jahre gewählt, können aber jederzeit abberufen werden. Entscheidungen werden möglichst im Konsens gefällt. Rojava setzt damit eine ähnliche Gesellschaftsordnung wie die Zapatistas um.

Allerdings wussten weder Kerem Schamberger, kurdisch-deutscher Journalist und Aktivist mit dem Themenschwerpunkt Rojava, noch 90die Initiative »Schule für Kobane« etwas von Demokratischen Schulen in Rojava. Letztere befürchtete eher das Gegenteil. Unter anderem, weil die Finanzierung der Schulen in Rojava weitestgehend aus Damaskus von der Assad Regierung erfolge. Der Doktorand Josh Platzky Miller von der University of Cambridge hat sich im Rahmen seiner noch unveröffentlichten Dissertation mit »Radical Democracy and Educational Experiments« in Rojava auseinandergesetzt. Er erkennt einen starken Paradigmenwechsel und die Implementierung von Kritik und Selbstkritik von und an Lehrern, sowie eine Stärkung der Position von Mädchen und Frauen im Schulbetrieb. Außerdem nennt er die wachsende Bedeutung von Experimenten im Schulbetrieb hin zu einer freieren, sozialeren und inklusiven Schule. Er sieht diese Entwicklung vor allem durch die politische Haltung der linkskurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ, sowie ihrem politischen Arm der PYD bedingt, die sich auf den demokratischen Föderalismus Abdullah Öcalans beziehen und bezeichnet die Finanzierung und Organisation der meisten Schulen in Rojava durch die syrische Regierung in Damaskus als Gegenpol zu diesen progressiven Entwicklungen. Ohne sie, so vermutet er, sähe die Schullandschaft Rojavas deutlich libertärer/demokratischer aus.

91Der freie Journalist Anselm Schindler berichtet von Kritik und Selbstkritikrunden, sogenannten Tekmil-Strukturen in Schulen in Machmur (irakisch-Kurdistan). 92Machmur besteht zum größten Teil aus einem ehemaligen Flüchtlingscamp von kurdisch-türkischen Flüchtlingen, wovon die Mehrheit der linkskurdischen Autonomie-Bewegung und damit auch der YPG/YPJ nahesteht. Die meisten Bewohner flohen in den 80er und 90er Jahren vor der politischen Verfolgung und dem Bürgerkrieg aus der Türkei. Mittlerweile leben hier ca. 12.000 Einwohner und betreiben sieben Schulen, welchen den Anspruch formulieren die Entwicklung zu »selbstständigen und demokratischen Menschen zu begleiten«, anstatt »auszubilden«.

 

93Einmal wöchentlich finden nachmittags geschlechtergetrennt Tekmil-Runden für jede Klasse statt, wobei die jüngeren Schüler von Lehrern angeleitet werden, während die älteren Schüler selbstständig zusammenkommen. Im Anschluss daran kommt die ganze Klasse zusammen, inklusive des Lehrers und einmal monatlich gibt es einen Schul-Tekmil. In allen Tekmils befinden sich Schüler und Lehrer in einem Kreis, also auf Augenhöhe und kritisieren und loben sich selbst und andere Schüler und Lehrer. Dabei soll sich nicht gerechtfertigt werden, sondern die Kritik in Ruhe für sich bewertet werden. Charakteristisch für solche Runden sind gerade in Bezug auf Neulinge »zu höfliche« und daher »unehrliche« Kritik. Schindler vermutet unter anderem deswegen, dass an dieser Schule auch Lehrer von ihren Schülern offen und ehrlich kritisiert werden. Laut Schindler können die meisten Menschen nach einer gewissen Zeit gut mit dieser direkten und für viele ungewohnten Kritik umgehen, jedoch ist der Anfang oft sehr hart und Kritik wird persönlich genommen. Letztendlich führe dies zu einem direkteren und ehrlicheren Miteinander und helfe zwischenmenschliche Spannungen abzubauen oder gar nicht entstehen zu lassen.

Eventuell findet in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien also eine Entwicklung hin zu libertären/Demokratischen Schulen in den nächsten Jahren statt. 94Wobei dies weniger vom pädagogischen, als viel mehr vom militärischen und politischen Erfolg abhängen dürfte. Da sowohl die syrische Regierung in Damaskus, der türkische Staat, als auch islamistische Rebellen die junge Basisdemokratie militärisch bedrohen und der autokratisch geführte kurdische Nordirak in politischer (wenn auch nicht militärischer) Feindschaft zu Rojava steht.

95Eine besondere Form libertärer Schulen sind die Bachillerato Popular genannten libertären Abendschulen, die an einigen in Argentinien besetzten und zu Kooperativen umorganisierten Betrieben angegliedert sind. Sie sind jedoch keine von Schülern und Lehrern gleichberechtigt organisierten Schulen. Der Grad der Mitbestimmung der Schüler ist daher sehr situativ. Die Schulen gelten allgemein aber als sehr frei und kooperativ. Selbstorganisation und emanzipatorische soziale Bewegungen sind hier Teil des Lehrplans.

96Ebenfalls interessant wäre eine Recherche zu Schulen in der Anfangszeit der israelischen Kibbutzim. Kibbutzim sind ländliche Kollektivsiedlungen in Israel mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen, die hauptsächlich in der Anfangszeit stark von libertären und sozialistischen Ideen geprägt waren. Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska, die Hauptfiguren des Dom Sierot (vgl. Kapitel 2.3) waren ebenfalls für einige Zeit in Israel und besuchten verschiedene Kibbutzim. Mindestens zwei heutige israelische Schulen tragen ebenso »Kibbutz« im Schulnamen (vgl. Kapitel 5.3)

Eine übersichtliche und ausführliche Auflistung der Geschichte libertärer Pädagogik und libertärer Schulen (nicht nur in den USA, wie der Titel vermuten lässt) findet sich in Modern School Movement – Anarchism and Education in the United States von Paul Avrich.

97Darunter auch eine Auflistung 34 libertärer Schulen in den USA.

2.1.6 Fazit zu libertären Schulen

98Die von Leo Tolstoi 1859 gegründete Schule Jasnaja Poljana ist wahrscheinlich die erste libertäre Schule (vgl. Kapitel 2.1.1) und gleichzeitig die erste Schule, die in der direkten Tradition der Demokratischen Schulen verortet werden kann. Denn sie ist die erste Schule, die das Prinzip vollständiger Freiwilligkeit des Lernprozesses umgesetzt hat und erfüllt damit die nullte Stufe in der Definition aus Kapitel 1.4. Dennoch taten sich spätere libertäre Schulen schwer den Lernprozess vollständig frei zu gestalten. Die Quellen zu Paideia lassen vermuten, dass die dort tätigen Pädagogen ein klares Erziehungsziel und eine mehr oder weniger klare Vorstellung über den Weg der Schüler dorthin haben. Das Ziel ist zwar eine freie Gesellschaft freier Menschen, aber die Angst, durch Kapitalismus und gesellschaftlichen Autoritarismus von diesem Weg abgebracht zu werden, ist vermutlich so groß, dass der (Lern)Weg ein Stück weit vorgegeben wird, (z. B. durch den von Lehrern geäußerten Wunsch, der Schüler möge lernen), bzw. »erkämpft« werden muss (Mandado!). Die Sprache die Luengo benutzt, enthält dementsprechend etliche kämpferische Begriffe. Die libertären Schulen betonen allgemein und Paideia insbesondere den Gemeinschaftsaspekt und die gemeinschaftliche Verantwortung. Ein individualistisches Ausleben der Freiheit, also ohne Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft (Küchendienst, etc.), wird hier als negativ angesehen, während es in anderen Demokratischen Schulen viel mehr toleriert wird.

Ich konnte auch keinen Hinweis darauf finden, dass libertäre Schulen der Anfangszeit regelmäßig tagende Schulversammlung abgehalten haben, was wahrscheinlich ähnliche Gründe hat, wie die Einschränkung der Lernfreiheit. Trotz ihres antiautoritären Anspruchs scheinen sie die Autorität des Lehrers dadurch nicht aufgelöst zu haben. 99Erst mit The Walden School 1950 in den USA und der noch heute existenten Schule Paideia in Spanien (siehe Kapitel 2.1.4) konnte ich libertäre Schulen mit Schulversammlung recherchieren. Meine Recherche entwickelte bei mir den Eindruck, dass dies auch heute die Ausnahme zu sein scheint, wenngleich über die meisten libertären Schulen keine mir bekannte Literatur existiert. Das dürfte auch dadurch bedingt sein, dass die meisten libertären Schulen nicht aufeinander aufbauen, sondern jeweils neu »aus der Ideologie heraus« entstehen. Tolstoi und Ferrer dienten zwar als Vorbilder für weitere Schulen, aber zwischen ihnen besteht kein mir bekannter Zusammenhang. Ebenso wenig wie zu manchen anderen libertären Schulen.

Grundsätzlich kann wohl angemerkt werden, dass die libertären Schulen weltweit weniger geworden sind, wenngleich sich ihr Bildungsideal in anderen Bereichen, wie Universitäten, Volkshochschulen, Erlebnispädagogik, etc. verbreiten konnte. 100Skiera vermutet unter Bezug auf Hytönen (1992), dass die allzu offene Kapitalismuskritik und geringe Leistungen in sogenannten Kernfächern Eltern abgeschreckt hat, die ihre Kinder auf eine Arbeit im Kapitalismus vorbereitet sehen möchten. Ebenso plausibel erscheint mir allerdings die Seltenheit (lokal) starker anarchistischer, antikapitalistischer oder demokratisch-sozialistischer politischer Bewegungen und Strukturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

2.2 Civic Education

101Civic Education (auf deutsch etwa: Bürgerschaftliche Erziehung) »…ist ein pädagogisches Modell mit dem Ziel, durch lebenslanges soziales und multikulturelles Lernen demokratisches Handeln und Denken einzuüben und dadurch sicherzustellen, dass Demokratie und Zivilgesellschaft in der Praxis funktionieren.« 102Civic Education wird in zwei Ansätze untergliedert. Ein Ansatz hat die Förderung der kommunikativen Kompetenz der Bürger (Schüler) zum Ziel und möchte nicht normative Vorgaben des »guten« Lebens vermitteln. Der zweite Ansatz dreht sich vor allem um die aktive Gestaltung der Lebenswelt. Vor allem im zweiten Ansatz sind die Demokratischen Schulen zu verorten.

Fast alle Demokratischen Schulen wurden (auch) mit dem Gedanken gegründet eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft zu schaffen oder zu stärken. Viele Schulgründer waren zudem allgemein politisch engagiert, insbesondere für Frieden (vgl. Tolstoi, Boeke & Cadbury, Neill, Stephani, Ferrer). Allerdings geben einige Schulgründer, im Gegensatz zu anderen, Staatsbürgererziehung als zentrale Motivation für ihr Engagement an. Dies manifestierte sich in besonderem Maße in Kinderrepubliken (Bedeutung siehe unten), die logischerweise mehr Komponenten eines Staats darstellen können, als eine Tagesschule. Insbesondere sei hier auf die George Junior Republic verwiesen, die sich detailgetreu an der Rechtslage und der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika orientierte und bei der die Schule eher als Nebenprodukt der Staatsform entstand.

Im Großen und Ganzen lässt sich der Ansatz der Demokratischen Schulen (in der Tradition der Civic Education), in Abgrenzung zu anderen Formen der Demokratie-Pädagogik, als 103Erziehung in Demokratie statt Erziehung zur Demokratie beschreiben.104

Ihre praktische Umsetzung begann folgerichtig in kleinen Nachbildungen demokratischer Staatssysteme, den sogenannten Kinderrepubliken105 (Kapitel 2.2.1). Das demokratische Schulinternat Summerhill wäre ohne sie vermutlich nie entstanden, welches wiederum eine unvergleichliche Signalwirkung auf Erziehung und Freie Schulen im Allgemeinen, sowie Demokratische Schulen im Besonderen hatte. Summerhill selbst ist nicht durch eine Civic Education Motivation entstanden, ist aber ein direkter Nachfolger der Civic Education Kinderrepublik George Junior Republic. Zu den von Summerhill beeinflussten Schulen zählt, neben vielen anderen, auch die Sudbury Valley School (Kapitel 2.2.2) sowie die Hadera Democratic School und durch deren Einfluss auf andere Schulen damit ein Großteil der Demokratischen Schulen weltweit. Der ideengeschichtliche Zweig der Civic Education ist damit zahlenmäßig der bedeutendste Zweig.

2.2.1 Kinderrepubliken

106Unter dem Begriff Kinderrepubliken sind ganz verschiedene Ansätze von gemeinschaftlichem Leben von Kindern und Erwachsenen beschrieben, in denen Kinder Demokratie, die Funktionsweise von Staaten und/oder einfaches Zusammenleben praktisch einüben.

2.2.1.1 EXKURS: Vorläufer demokratischer Kinderrepubliken

107Léonard Bourdon (1758–ca. 1815) war ein niederer Adeliger und vermutlich der erste Pädagoge, der eine Kinderrepublik anhand eines demokratischen und nicht diktatorischen Staatsystems konzipierte. Als radikaler Demokrat nahm er an der Französischen Revolution von Anfang an in führender Stellung teil: als Anführer, Delegierter, Kommunalbeamter und Abgeordneter. Schließlich leitete er die Verhaftung Robespierres. Bourdon wollte durch eine demokratische Erziehung eine auf den Idealen der französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit und Solidarität) gegründete Gesellschaft absichern. Schon vor der Revolution versucht er ein demokratisches Heimkonzept umzusetzen. 108Doch seine Pläne scheiterten an der königlichen Verwaltung. Nach der französischen Revolution konnte Bourdon 1791 seine Anstalt Société des jeunes Français mit Kriegswaisen eröffnen. In der bürgerlich-kapitalistischen Reaktionsperiode löste die Direktoriumsregierung die Anstalt am 2. April 1795 auf.

Kamp schreibt dazu: 109»Ziel der Anstalt war die Erziehung zum Kämpfer für die Revolution:

Selbstregierung, revolutionäre Feste und Aufführungen im Theater der Gleichheit dienten diesem Ziel ebenso wie der Unterricht. Die 70 Schüler wurden bewußt mit den revolutionären Instanzen in Kontakt gebracht und für die revolutionäre Aktion interessiert. Sie baten den Konvent, sich bewaffnen zu dürfen, und hielten militärische Übungen ab.

Die Schülerselbstregierung wurde in Anlehnung an die neuen staatlichen Organe modifiziert: die über zwölfjährigen Schüler bildeten drei Komitees, welche die Studien leiteten, die Disziplin beaufsichtigten und die Korrespondenz mit Eltern und anderen Schulen des Reiches führten. In diesen Komitees saßen auch Elternvertreter, nicht zuletzt deshalb, um auf die Eltern erzieherisch einzuwirken.«

110»Die in Komitees organisierten Lehrer und Meister der schulischen Werkstätten sollten eine Verfassung der Anstalt erlassen, unterrichten und die Disziplin nur in letzter Instanz überwachen. Alles Weitere würde den in einer Gesellschaft organisierten sechs- bis achtzehnjährigen Schülern überlassen. Die Schüler würden ihre Chefs und Unterchefs in allgemeinen gleichen Wahlen aus den verdienten Schülern der für das jeweilige Amt zuständigen Altersgruppe auswählen.«

111 112Der Schulreformer Heinrich Stephani (1761–1850), wollte ein ähnliches System in die öffentliche Volksschule einführen.

113In seiner Jugend stand er bereits an der Spitze einer Protestbewegung (sogenannte Schokoladisten) gegen das studentische Duell-Wesen und schlug stattdessen ein »Ehrengericht« für die Konfliktlösung vor. 114Bis 1834 praktizierte er sein Gerichtssystem acht Jahre lang mit 60 Schülern seiner Konfirmandenschule im bayerischen Gunzenhausen. Eine liberale Schulverfassung sollte dabei eine humanistische aufklärerische Erziehungsanstalt schaffen, in denen der Lehrer als Erzieher die Rechte der Kinder zu schützen hat und die Schüler ein Beschwerderecht (1834!) gegenüber den Lehrern hatten. Ein garantiertes Beschwerderecht aller Schüler gegen alle Lehrer dürfte in der Schulgeschichte bis dahin einmalig gewesen sein.

 

115Die Hoffnungen auf vielfache Nachahmung der Anstalt Bourdons und Stephanis erfüllten sich laut Kamp aber nicht. Tatsächlich konnte er keine Nachfolgeeinrichtung finden. Obwohl revolutionär für die damalige Zeit, waren Bourdon und Stephani im Vergleich zu heutigen Maßstäben streng und die Entscheidungskompetenzen der Schülerverwaltung beschränkt.

2.2.1.2 William George Junior Republic

116William George war seit seiner späten Jugend in der Fürsorge für Straßenkinder in New York tätig. Er erkannte für sich, dass das Verteilen von Almosen keine langfristige Verbesserung für die jungen Obdachlosen bedeutete. Daher verschaffte er sich Anerkennung und die direkte Führungsposition von Straßenbanden durch siegreichen Faustkampf mit den Anführern, um sie in organisierte »boys clubs« zu überführen. Er organisierte den boys clubs Freizeitaktivitäten und Sommeraufenthalte auf dem Land.


William Reuben George 1866–1936

George organisierte seine Bande anfangs noch militärisch und befehligte sechs »Jungenkompanien« 1893 waren es 265 Kinder, meist ältere, härtere, delinquentere Slum-Straßenjungen der untersten Einwandererschichten. Mit ihnen hielt George militärische Drills und Manöver ab und erteilte Unterricht in Hygiene, Fleiß, Patriotismus, Religion und Mittelklassenmoral. Um ihnen die benötigten Güter zu geben, ohne sie zu Bettlern zu erziehen, ließ George sie im Ferienlager ihre Kleiderspenden beim Bau einer Lagerstraße selbst erarbeiten.

Nothing without labor, ohne Arbeit gibt’s nichts, wurde seine Parole. Trotz der anfänglich wilden Proteste zeigte sich bald der Erfolg: Die hart erarbeitete Kleidung wurde gepflegt und nicht mehr zerstört. Allerdings wurden jetzt die wertvoll gewordenen Kleidungsstücke manchmal gestohlen. Ansonsten blieb es bei Rowdytum, Zerstörung sowie Überfälle auf Obstgärten und Hühnerställe der benachbarten Bauern. Mit allmorgendlich öffentlichen Prügelstrafen für die Untaten des Vortages bemühte er sich um Ordnung, jedoch vergeblich. Auch das Herumdrehen der Bestrafung – der Täter sollte George schlagen – half nicht viel.

Der Diebstahl ihrer wertvollen Kleidung allerdings empörte die Jungen. Sie forderten von George bestimmte Maßnahmen zum Schutz ihres Eigentums.

Diese selbst vorgeschlagenen Regeln erwiesen sich als die einzig ernsthaft befolgten und durchsetzbaren. George experimentierte weiter in Richtung Selbstorganisation und Selbstverwaltung seines Ferienlagers. Eines Morgens ließ er bei der allmorgendlichen Aburteilung die versammelten Jungen als Jury darüber abstimmen, ob zwei Schüler schuldig seien, einen Obstgarten geplündert zu haben. Normalerweise herrschte unter den Straßenkindern Solidarität mit den Angeklagten, doch zu seiner Überraschung wurden sie schuldig gesprochen.

So entwickelte er schrittweise die Idee der Nachahmung des Staatsystems der USA bis ins Detail. 117»Berichte und Fotos zeigen die perfekte Nachahmung bei der Gestaltung des Gerichtssaals, des Stahlkäfig-Gefängnisses, des Dorfladens, der Uniformen und Bajonettgewehre des Bataillons, der gestreiften Gefangenenkleidung, aber auch der staatlichen Gesetze, Verordnungen, Gerichtsurteile. So wurde die Straf- und Zivilprozeßordnung der USA mit sämtlichen Einzelheiten, Finessen und Verfahrenstricks angewendet.«

118George formulierte vier Phasen des Übergangs zur Republik:

1 Jeder muss seinen Lebensunterhalt selbst erarbeiten. Arbeit erzeugt Eigentum und Selbstverantwortung. Eigentum erzeugt Diebe und damit ein Interesse des Eigentümers an Gesetz, Ordnung, Polizei, Gericht und harten Strafen.

2 Der Jugendliche identifiziert sich zunehmend mit der Gemeinschaft und ihren Regeln. Durch das Ausüben der Bürgerfunktionen, der Beamtenämter und als über Gesetze abstimmender Wähler festigt sich das Verantwortungsgefühl.

3 Durch religiöse, moralische und ethische Unterweisung wird das Gewissen des Jugendlichen geweckt.

4 Durch Freundschaften mit in der Republik tätigen moralisch hervorragenden Erwachsenen werden die Jugendlichen weiter inspiriert.

Am Ende dieser vier Phasen war er überzeugt »tun sie das Richtige um seiner selbst willen«.

119Die Republik finanzierte sich teilweise durch Spenden, teilweise durch die Arbeit der Jugendlichen der Republik. 120Innerhalb der Republik gab es Blechgeld, mit dem die Jugendregierung das Anlegen von Wegen auf dem Grundstück und die Jugendpolizei bezahlte. 121»Als die umliegenden Gemeindeschulen sich weigerten, die zahlreichen Republikbürger aufzunehmen, entwarf George, um seinem Motto keine Arbeit ohne Bezahlung bzw. in diesem Fall »learning by earning« treu zu bleiben, eine Schule in der Form eines Verlagshauses. Die Autoren (= Schüler) schlossen mit dem Verlagsleiter (= George) Verträge über je ein Buch (= schriftliche Hausarbeit) über ein selbstgewähltes Thema. Die zur Anfertigung benötigte Arbeitszeit wurde nach dem normalen Republik-Stundenlohn bezahlt, nach Schwierigkeitsgrad und Qualität der Ausführung abgestuft.«


Kinder der George Junior Republic

Die Republikbank vergab bezahlte Buchführungsaufträge (= Rechenunterricht) an das Verlagshaus.

122Georges Republik erlebte einige politische und wirtschaftliche Krisen. Blechgeldinflation, Mangelwirtschaft auf Grund von Spekulation (Ein Schüler kaufte im Sommer alle warmen Schuhe für geringes Geld auf, um sie im Herbst überteuert wieder zu verkaufen; an die die es sich leisten konnten) führten ebenso zu sozialen Spannungen, wie Streitigkeiten über das Wahlrecht. So protestierten Mädchen für ein Frauenwahlrecht (zu der Zeit galten alle grundlegenden Gesetze der USA übertragend auch in Georges Junior Republic, d. h. nur Männer durften wählen) inklusive Küchenstreik (eine Arbeit der Mädchen) im Zuge mehrmaliger Einführung und wieder Abschaffung des Mädchenwahlrechts. Eines Winters wurde die Aufhebung des Wahlrechts der Sommerbewohner (Kinder, die nur für den Sommer anwesend waren) für den ersten Monat ihres Aufenthalts durch die Winterbewohner beschlossen, obwohl die Sommerbewohner vielfach in der Überzahl waren. Weitere Konflikte schürte die Vergabe von Pässen zu überteuerten Konditionen, die benötigt wurden um das Gelände zu verlassen und andere Entscheidungen die arme Bewohner entrechteten, erzürnten und nicht selten zu Gewalt eskalierten. Die Auseinandersetzung der Anhänger der Freien Blechgeld Partei mit den Anhängern der Regierungspartei über Vetternwirtschaft der Regierungspartei endete beispielsweise in einer Massenschlägerei.

123Darüber hinaus hatte die Republik mit staatlichen Inspektionen zu kämpfen. Dabei konnte die Schließung einmal nur knapp abgewendet werden, ein anderes Mal wurde die Republik zwei Jahre nach der Schließung neu eröffnet und George vom Trägerverein entmachtet. Allerdings schaffte er es die Leitung wieder zu übernehmen, nachdem nur er es geschafft hatte neues Geld zu akquirieren, um das Überleben der Republik zu sichern.

Prominenter Fürsprecher der Republik war Präsident Theodore Roosevelt, der die Republik mehrmals besuchte.

124Einige Mitarbeiter Georges übertrugen das Selbstverwaltungskonzept in andere Bereiche der Erziehung und Umerziehung. 125So entstand das Konzept der School City von Wilson Lindsley Gill (1851–1941), einem ehemaligen Mitarbeiter in den Sommerkolonien der George Junior Republic. Seit 1897 führte Gill Selbstregierungsmethoden in die öffentlichen Volksschulen der Einwanderergebiete von New York City ein, allerdings waren die Befugnisse der Selbstregierung im Allgemeinen stark beschränkt, was nicht in seinem Sinne war. 126Thomas Osborne, der eine Zeitlang im Trägerverein der George Junior Republic saß, entwickelte später ein Modell der Gefängnismitverwaltung im New Yorker Staatszuchthaus Sing Sing und der Ilwahig-Strafkolonie in der damaligen US-Kolonie Philippinen. Laut Kamp war Osbornes Gefängnissystem ausgesprochen erfolgreich.