Geschichte der Demokratischen Schule

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2. Ideengeschichtliche Zweige zur
Entstehung Demokratischer Schulen

Soweit dies der aktuelle Forschungsstand vermuten lässt, verlief die Geschichte der Demokratischen Schulen unterschiedlicher ideengeschichtlicher Zweige anfangs zeitlich parallel, ohne voneinander beeinflusst zu sein und vernetzte sich danach immer mehr. Erst die Französische Revolution in Europa und die US-Staatsgründung in Amerika schufen die politischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung (teilweise schon vorher fertiger) pädagogischer Konzepte. 1Auch heute noch befinden sich Demokratische Schulen ausschließlich in demokratischen Ländern. Die wenigen Ausnahmen sind in zeitweisen oder teilweise demokratischen Phasen (z. B. 2Ägypten, 3Thailand) entstanden und existieren dort (bis jetzt) unter den undemokratischen (Militär)Regierungen weiter.

Die historische Breite Demokratischer Schulen reicht von der Bauernkinderschule Jasnaja Poljana und der Straßenkinderschule First Street School in New York bis zum Internat Summerhill mit einem relativ hohen Schulgeld. Ihre Größe variiert zwischen sehr kleinen Schulen von wenigen Dutzend Schülern (LOS Deurne) bis hin zu mehreren hundert Schülern (Democratic School of Hadera: 500; SfE-Berlin: 800). Die pädagogische Bandbreite variiert zwischen Lebensgemeinschaften (Summerhill) und Tagesschulen, zwischen Erwachsenen- (SfE-Berlin) und Kleinkinderbildung, von Schulen mit angegliedertem Kindergarten (Democratic School of Hadera), sowie unterschiedlich radikaler Ausprägung von Freiheit (Sudbury-Modell im Vergleich zu Escuela libre Paideia) und Demokratie (Konsent-Prinzip der selbstverwalteten Soziokratischen Schule De Vallei PO im Gegensatz zur Einschränkung der Befugnisse der Schulversammlung auf Alltagsgeschehen in Summerhill).

Die Geschichte Demokratischer Schulen ist also offensichtlich sehr vielfältig und rückblickend betrachtet sehr verworren. Sehr oft verfließen pädagogische Elemente, ideologische Motivationen, politische Umstände und persönliche Besonderheiten der Gründer zusammen zu einem besonderen Konzept. Mir schien es daher sinnvoll die Demokratischen Schulen über ihre direkten Vorgänger zu einer Ursprungsschule/pädagogischen Einrichtung zurückzuverfolgen und bei dieser »Urschule« anzufangen, um einen Erzählstrang zu beginnen. Wie nachher gezeigt, liefen einige Erzählstränge parallel ab, bis sie sich immer mehr vernetzten und beeinflussten. Diese Urschulen bzw. ihre Gründer entspringen, soweit dies die Literaturrecherche vermuten lässt, einer spezifischen Motivation, bzw. wurden auf eine bestimmte Art und Weise in ihrer Sozialisation geprägt, die ihr pädagogisches Handeln bedingten. Sicherlich sind meistens mehrere Motivationen vorhanden gewesen, die jeweilige Schule zu gründen, doch im Allgemeinen wird eine Motivation besonders herausgestellt oder deutlich, bzw. ein(e) Erlebnis/Sozialisationsumgebung der Gründer ist offensichtlich konzeptuell prägend gewesen.

Ideengeschichtliche Zweige in diesem Sinne werden von Schulgründern/Schulen definiert, die ohne eine andere Demokratische Schule als Vorbild zu haben, quasi selbständig die Idee einer Demokratischen Kindergemeinschaft/Schule entwickelt haben. Wenngleich viele spätere Gründer nicht eindeutig zu einem der Zweige zugeordnet werden können und es wechselseitige Beeinflussung und inhaltliche Überschneidungen gab und gibt, so kann doch bei den ersten Schulen eines ideengeschichtlichen Zweiges meist eine Grundmotivation oder Sozialisation, bzw. bei den Nachfolgern ein dominanter historischer Einfluss ausgemacht werden.

Im Wesentlichen konnte ich so sieben verschiedene ideengeschichtliche Zweige ausmachen, die in ihrer praktischen Umsetzung zu Demokratischen Schulen geführt haben. Hierbei wird die Demokratie-Entwicklungsstufe 1 aus Kapitel 1.4 als Mindestkriterium für die Bezeichnung Demokratische Schule herangezogen. Das bedeutet, dass die Schule eine Schulversammlung mit gewissen Kompetenzen zur Organisation von Lernen und Alltag besitzt und selbstbestimmtes Lernen stattfindet. Diese Definition ist insofern sinnvoll, als dass diese Schulen alle grundsätzlich ein Menschen-/Kinderbild teilen, wie in Kapitel 1.4 erklärt und darüber hinaus konkrete Schritte zur strukturellen Implementierung einer Schülerselbstverwaltung unternommen haben.

Die Quellenlage zu den meisten Demokratischen Schulen ist entweder schlecht und/oder beinahe alle Quellen wurden von der Schule selbst veröffentlicht. Einzig für Summerhill gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher und ausführlicher Publikationen über einen großen Zeitraum, sowohl vom Gründer Alexander Sutherland Neill, als auch von Schülern, Lehrern, Besuchern, Journalisten und Wissenschaftlern.

Daher ist das Kapitel 2.2.1.3 Summerhill – Die vielleicht berühmteste Schule der Welt besonders ausführlich, um stellvertretend für alle Demokratischen Schulen, welche in der Mehrheit maßgeblich von Summerhill beeinflusst sind, zu zeigen, wie der Schulalltag einer Demokratischen Schule im Detail funktioniert, wie mit Krisen umgegangen wird, welche pädagogischen Ansichten vertreten werden und wie sich die Auswirkungen gestalten.

2.1 Libertäre Pädagogik

4»Der libertären Erziehungsbewegung und -konzeption geht es, allgemein und plakativ gesagt, um die Befreiung der Pädagogik von einer weltanschaulich geprägten und autoritären Erziehungspraxis. Sie richtet sich gegen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, denen es um die Formung des Menschen, im Sinne bestimmter weltlicher oder religiöser Ideologien geht. Sie bekämpft metaphysisch determinierte Erziehungskonzepte und setzt an ihre Stelle das Konzept des freien Lernens in einer freien Erziehungsgemeinschaft.

Wir müssen in der libertären Erziehungskonzeption in erster Linie eine pädagogische Befreiungsbewegung sehen, der es um die Emanzipation der Kinder und Jugendlichen aus institutionalisierten pädagogischen Zwängen (Familie, Kindergarten, Schule, etc.) geht. Erziehungsprozesse werden hierbei als Sozialisationsprozesse aufgefasst, die nicht nur im System Schule ablaufen. Fremdgesteuerte Bildung und Erziehung findet ebenso in der Familie und anderen Institutionen statt. […] Bildung und Erziehung werden in der libertären Pädagogik zur »Praxis der Freiheit«, wo zukünftige »Strukturen einer Kulturrevolution« entwickelt werden. Wenn radikale Pädagogik Teil einer radikalen Bewegung ist, kann ihr Handeln nicht darin bestehen, ein neues Erziehungssystem in einem Vakuum zu schaffen.

Man muss Strategien entwickeln, die auf die politischen Realitäten des gegenwärtigen Erziehungssystems eingehen.« – Prof. Dr. Ulrich Klemm. Libertärer Pädagogik, auch anarchistische Pädagogik genannt, geht es also um radikale Strategien zur Erneuerung von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die den Menschen als Ganzes erfassen mit dem Ziel eine freie und emanzipierte Gesellschaft zu schaffen. Damit ist der libertäre ideengeschichtliche Zweig klar politisch ausgerichtet. Denn er hat den Anspruch die Ideale, die in seiner Pädagogik verankert sind, durch die Erziehung auf die ganze Gesellschaft zu übertragen. 5Deutlich wird hier auch das anarchistische Ideal, dass der Weg (hier die Erziehung/Schule) zu einer sozialen und freien Gesellschaft bereits diese Ideale leben muss. Das heißt die Erziehung bzw. Schule soll so frei und sozial sein, wie möglich.

2.1.1 Leo Tolstoi & Jasnaja Poljana

6Leo Nikolajewitsch Tolstoi war ein russischer Schriftsteller und zählt weltweit zu den Klassikern im Genre des realistischen Romans. Tolstoi nimmt im Kontext der russischen Pädagogik des 19. Jahrhunderts einen herausragenden Platz ein und bündelt in den 1860er Jahren verschiedene Strömungen freiheitlicher Bildungs- und Erziehungsansätze. Er spielt damit für Russland nicht nur eine wesentliche Rolle im 19. Jahrhundert, sondern wirkt auch bis in die Zeit der Sowjetpädagogik hinein. Beeinflusst und beeindruckt von Tolstoi waren z. B. die Sowjetpädagogen Nadesha K. Krupskaja (1869–1939) und Stanislaw T. Schazki (1878–1934).


Lew Nikolajewitsch Tolstoi am Ende seines Lebens (1828–1910)

71875 erschien eine erweiterte und überarbeitete Neuauflage seines Schulbuches »Das Neue Alphabet«, das mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren zu einem der verbreitetsten Schulbücher im damaligen Russland wurde und ihn zu einem der berühmtesten russischen Pädagogen seiner Zeit machte. Es ist auf Basis einer von Tolstoi entwickelten Lese-Lern-Methode entwickelt. Einer der zentralen Aspekte dieser Methode ist die Vergegenwärtigung der Nützlichkeit der einzelnen Schritte des Lesen-Lernens.

8Des Weiteren basiert diese Methode auf Begeisterung und Freiwilligkeit beim Lesen (und Lernen allgemein) gegenüber starren Strukturen und autoritärem Auswendig lernen. Dennoch sah er seine Methode auch kritisch und wand sich im Laufe seines Lebens immer mehr dem Ideal einer Erziehung mit größtmöglicher Freiheit zu.

9»Der einfachste und natürlichste Gedanke, daß die Zeit für ein gutes mechanisches Lesen noch nicht gekommen war und daß gegenwärtig gar kein Bedürfnis danach vorliege, daß die Schüler die beste Methode schon selber finden werden, wenn das Bedürfnis sich einstellen wird – dieser Gedanken kam uns erst vor kurzem.«

10Tolstoi gründete 1859 auf dem Gut Jasnaja Poljana seiner Familie eine Bauernschule für die Kinder seiner zuvor von ihm befreiten Leibeigenen. Um hierfür neue Impulse zu bekommen, unternahm er eine Reise, die ihn nach Deutschland, Frankreich, Belgien, England und Italien führte. Er hospitiert in Schulen und Kindergärten, besucht bekannte Pädagogen und hört Vorlesungen an der Berliner Universität. Die Eindrücke, die er hier vom deutschen und französischen Schulsystem gewann, waren für ihn frustrierend, wie ein Auszug aus seinem Tagebuch belegt: 11»War in der Schule. Entsetzlich. Gebet für König, Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder«. Mit dieser Einstellung kehrt er 1861 nach Russland zurück, gründet die pädagogische Zeitschrift »Jasnaja Poljana« und diverse Schulen. »Im Mittelpunkt seiner bildungspolitischen Ziele steht die Alphabetisierung armer Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Bauern. Tolstoi strebte eine ganzheitliche Bildung an, mit Hilfe derer sich die niederen Stände (Russland war bis 1917 eine Feudalgesellschaft) aus ihrer Unwissenheit und aus ihrem Elend befreien können.

 

Seine Schule in Jasnaja Poljana, in der er zeitweise bis zu 70 Jungen und Mädchen im Alter von sieben bis zehn Jahren […] und Erwachsene in drei Klassen unterrichtete, bot ausschließlich freien Unterricht an, d. h. es konnte jeder kommen und gehen, wann er wollte.« Dass diese »freie Schulordnung« nicht zu Chaos führte, lassen die Aufzeichnungen von Wassilij Morosow, einem ehemaligen Schüler Tolstois aus der Zeit 1859–1862 vermuten und decken sich auch mit anderen 12Quellen: 13»In der Schule herrschte bei uns ein guter Geist. Wir lernten mit Lust. Aber mit noch größerer Lust lehrte Lew Nikolajewitsch [Tolstoi]. Sein Eifer war so groß, dass er nicht selten sein Mittagessen vergaß.«


Jasnaja Poljana 2019 (Bild: A. Savin – Wikimedia)

14»Darüber hinaus gab es in Tolstois Schule nach einer gewissen Zeit keine Strafen, keine Noten, keine Hausaufgaben und kein ›Sitzenbleiben‹ oder eine sonstige, offizielle Stigmatisierung als ›Schulversager‹ mehr.«

Für die damalige Zeit kann man in Jasnaja Poljana eine weit entwickelte Form des demokratischen Zusammenlebens erkennen – nicht nur für Russland. Wenngleich nicht explizit eine regelmäßig tagende Schulversammlung erwähnt wird, so sprechen die Aufzeichnungen von Wassilij Morosow und »Die Schule von Jasnaja Poljana« – eine Zusammenstellung von Schriften Tolstois über die Schule – von etlichen Gruppenentscheidungen, beispielsweise zu Ausflügen (Schlittenfahrt) und beim Umgang mit Konflikten. Zwar geschah dies sehr selten, jedoch handelte Lew Tolstoi auch eigenmächtig gegen Beschlüsse der Schulgemeinschaft, wie in diesem von ihm notierten Beispiel:

15Ein Diebstahl eines Buches, Eigentum eines Schülers, durch einen anderen Schüler wurde kollektiv diskutiert und die Strafe gemeinsam entschieden. Das Herumlaufen mit einem Hut auf dem »Dieb« geschrieben stand, isolierte den Schüler in der Schulgemeinschaft. Leo Tolstoi nahm ihm nach einem weiteren Diebstahl den Hut ab und erklärte die Strafe für beendet, da er sie als unwürdig und kontraproduktiv ansah.

16Tolstoi propagierte in seiner pädagogischen Zeitschrift »Jasnaja Poljana« eine freie Schulordnung, die zum Maßstab für ein freiheitliches Lernen in Institutionen werden sollte und drei Leitideen miteinander verband:

• Bildung statt Erziehung

• Freiheit statt Zwang

• Erfahrung statt Dogma

Diese offensichtlich, dem autoritären Zaren-Regierungssystem entgegenstehenden Werte, sowie seine zahlreichen regierungs- und kirchenkritischen Äußerungen, machten ihn in den Augen der Zarenbürokratie verdächtig. Eine Hausdurchsuchung auf Jasnaja Poljana, bei der zwar keine belastenden Beweise gefunden werden konnten, hatte trotzdem die Schließung der Schule zur Folge.

Jasnaja Poljana ist wahrscheinlich die älteste (1859–1862) libertäre Schule der Geschichte und die erste Schule in der Lernen völlig selbstbestimmt stattgefunden hat. Weder Milton Gaither in 17The Libertarian Historiography of Education noch Ulrich Klemm in Geschichte und Gegenwart Freier Demokratischer Schulen erwähnen ältere Schulen. Im Gegenteil schreibt Klemm 18»können wir in der Schulgeschichte noch wesentlich weiter bis in das 19. Jahrhundert zurückgehen und stoßen hier vielleicht auf die ersten Wurzeln Freier Demokratischer Schulen. Zu nennen ist im historischen Zusammenhang die freie Bauernschule des russischen Dichters und Philosophen Leo Tolstoi auf seinem Bauerngut Jasnaja Poljana von 1859 bis 1862.«.

19Ulrich Klemm ist der Ansicht, dass Tolstoi, der als Erzieher in der deutschen Pädagogik nur wenig Beachtung fand, im deutschsprachigen Raum seit 100 Jahren lediglich im Rahmen einer akademisch-theoretischen Aufarbeitung diskutiert wird, aber keinen praktischen Einfluss hatte.

20In der Hochphase libertärer Schulkritik Ende der 60er Jahre wurde Tolstoi als Klassiker der freiheitlichen Erziehungskonzeption in den USA neu entdeckt. Vor allem George Dennison, der sich mit seiner »First Street School« in New York von Tolstoi inspirieren ließ, beeinflusste mit seinem Buch 21»Lernen und Freiheit. Aus der Praxis der First Street School.« wiederum viele weitere Schulen und Menschen.

22Mahatma Ghandi, der sich selbst als religiöser Anarchist verstand, und Gewaltfreiheit propagierte, hegte eine große Bewunderung für Tolstoi, dem ein urchristlicher, pazifistischer Anarchismus zugesprochen wird. Tolstois Menschenbild und Ansätze zum Zusammenleben freier Menschen, auch im pädagogischen Sinne, faszinierten Ghandi so stark, dass er seine von ihm gegründete Kommune in Südafrika Tolstoi Farm nannte.

2.1.2 Francisco Ferrer und die Escuela Moderna

23Beeinflusst vom französischen libertären Pädagogen und Waisenhausleiter Paul Robin gründete Francisco Ferrer 1901 mit 30 Schülern in Barcelona die Escuela Moderna. Die Schule wurde nach schnellem Wachstum der Schülerzahl auf 266, nur fünf Jahre nach der Gründung 1906 wieder durch den Staat geschlossen. Sie ist Vorbild für eine ganze Bewegung libertärer Schulen, die sich meistens ebenfalls Escuela Moderna (bzw. Modern School) nennen. Die Escuelas Modernas verbreiteten sich in den nächsten zwei Jahrzehnten über ganz Spanien und darüber hinaus. 24Allein in der spanischen Provinz Katalonien zählt Avrich 48 Escuelas Modernas.


The Modern School New York (wahrscheinlich 1911/12)

Durch den Sieg des Faschismus im spanischen Bürgerkrieg musste die letzte Escuela Moderna Spaniens 1939 schließen.

25Die Escuela Moderna verzichtete auf Strafen, Belohnungen, Noten, Religionsunterricht und unterrichtete gemischtgeschlechtlich und altersübergreifend. Ferrer wollte die Koedukation auch auf soziale Klassen anwenden und reichen und armen Kinder eine gemeinsame Schulzeit ermöglichen. Er priorisierte praktischen Unterricht und unternahm häufig Exkursionen. Seine Schüler waren frei in der Gestaltung ihres Schulalltags, Unterricht war nicht verpflichtend.

26Laut Skiera habe kaum ein Pädagoge vor ihm, die Anerkennung von Kindern als vollwertige, eigenständige Menschen mit umfassenden Rechten formuliert. Als Beispiel führt er ein Zitat Ferrers an: »… beruhe der ganze Wert der Erziehung in der ›Respektierung des physischen, intellektuellen und moralischen Willens des Kindes.‹ und fasst seine Haltung zum Einfluss von Lehrern so zusammen: ›Die Entwicklung der kindlichen Energien, die Richtung seiner eigenen Bemühungen, gelte es zu unterstützen, auch dann, wenn sie den Vorstellungen des Erziehers zuwiderlaufen.‹«

27Obwohl keine Schulversammlung explizit erwähnt wird, berichtet Avrich (2014) von »participation of children and parents in the administration of the school.«

28Esparanto, als eine Sprache der Völkerverständigung, war ein wichtiges Unterrichtsfach in den Ferrer Schools.

29Ferrers Schule bot abends Kurse und Vorlesungen für Erwachsene an, betätigte sich in der Ausbildung von Lehrkräften und übersetzte dafür Unterrichtsbücher in einfaches Spanisch. 30Seine Pläne zur Gründung einer Universität scheiterten allerdings.

31Ferrer gründet nach der Schließung der ersten Escuela Moderna die »Ligue internationale pour l’education rationelle de l’enfance«. Die Liga publizierte auf Italienisch, Französisch und Spanisch und verbreitete die Ideen Ferrers insbesondere nach Süd- und Nordamerika.

32Nach den Arbeiteraufständen der »tragischen Woche« gegen die Masseneinberufung zur Armee 1909 in Barcelona wurde Ferrer, als vermeintlicher Anführer der Revolte mit vier anderen Angeklagten, in einem offensichtlich politischen Verfahren, unschuldig zum Tode verurteilt.

33Als Reaktion auf seine Ermordung versammelten sich 15.000 Menschen vor der spanischen Botschaft in Paris und stürmten sie. Aktivisten ließen eine schwarze Flagge von der großen Kathedrale in Mailand hängen und Ferrer erschien auf der Titelseite der New York Times. 34In den kommenden Jahrzehnten wurden zahlreichen Straßen und Plätze, vor allem in Italien und Frankreich, nach ihm benannt.

35Gewandt an das Erschießungskommando waren seine letzten Worte angeblich: »Zielt genau, meine Freunde. Ihr seid nicht verantwortlich. Ich bin unschuldig. Es lebe die Escuela Moderna!« 36Ferrer war zu diesem Zeitpunkt international bereits sehr bekannt. Massiver internationaler Protest konnte das Urteil dennoch nicht stoppen, sorgt aber für eine weitere Verbreitung seiner Pädagogik. Das Ferrer-Center in New York City zählt dabei zu den prominenteren der vielen internationalen nach seinem Tod entstandenen »Ferrer-Schools«.

37Alumni der US-amerikanischen Ferrer Schools beteiligten sich 1960 aktiv am Aufbau alternativer Schulen im Zuge der Free School Movement (vgl. Kapitel 2.1.3).

38Die Machnowschtschina oder Machno-Bewegung war eine anarchistische Bauernbewegung in der Südostukraine, die während des russischen Bürgerkriegs von 1917–1922 ein anarchistisches Gesellschaftsmodell in einem wechselnd großen Gebiet etwa von der Größe Österreichs umsetzte. Im Bereich des Schulwesens setzte sie Ferrers Pädagogik um. Sehr wahrscheinlich starb Ferrers Schulmodell dort zusammen mit den Machnowzi durch den Angriff der Roten Armee der autoritären Bolschewiki.

39Auch im südamerikanischen Raum verbreitete sich Ferrers Pädagogik. Edgar Rodriguez berichtet von mehr als zehn libertären »rationalist schools« bis 1939, die vermutlich auf Ferrer zurückgehen. 40Die schweizerische École Ferrer in Lausanne, sowie die Scuola Moderna in Italien und das Internat La Ruche in Frankreich gehen ebenfalls auf Ferrer zurück.

2.1.3 George Dennison und die Free School Movement in den USA

Stark beeinflusst von der allgemeinen politischen Aufbruchsstimmung der 60er und 70er Jahre, sowie explizit von A. S. Neills Buch: »Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing« (deutscher Titel: »Summerhill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung«), sowie von George Dennisons Buch »The lives of children« über die von ihm mitgegründete First Street School41, gab es in den 1960er und 1970er Jahren eine in den USA aktive Bewegung zur Gründung freier Schulen mit einem starken basisdemokratischen und freien Charakter, sowie emanzipatorischer politischer Ausrichtung. Parallel zur Free School Movement (auch Gegenschulbewegung genannt) diskutierte die Alternativschulbewegung in Deutschland und die Bewegung der Education Nouvelle in Frankreich A. S. Neills Summerhill. 42In Deutschland begann die große Welle von Schulgründungen allerdings erst später und damit auch weniger politisch als in den USA, 43auf Grund von nötigen Gesetzesänderungen und einer anderen Genehmigungspraxis, die erst von der Alternativbewegung politisch erwirkt werden musste.44 Grundsätzlich ist es daher schwierig die Free School Movement pauschal in die libertäre Tradition zu stellen. Summerhill war zu der Zeit in den USA bekannt und diente vielen als Identifikationspunkt. Meine Recherchen und die von Ulrich Klemm lassen aber vermuten, dass die allgemeine freiheitliche, soziale und widerständische Aufbruchsstimmung (Bürgerrechtsbewegung, Gründung von Kommunen, Entwicklung des Punk, Höhepunkt der Hippie-Kultur, Wahrnehmung weltweiter demokratisch-sozialistischer Revolutionen, wie dem Prager Frühling, dem Massaker von Tlatelolco in Mexiko, den März Unruhen in Polen, der Mai Revolte in Frankreich und die Proteste gegen den Vietnam-Krieg, usw.) entscheidend für die Suche und Verwirklichung freierer und demokratischerer Konzepte im Schulwesen gewesen ist.


Nur Summerhill: »A Radical Approach to Child Rearing« beeinflusste die Free School Movement und ihre europäischen Varianten noch mehr, wie die Berichte über die Straßenkinderschule First Street School von George Dennison.

 

45Insbesondere in den USA konnte sich, auf Grund des großen Einfluss George Dennisons, der sich explizit auf Tolstoi und Jasnaja Poljana bezog, und Alumni der Ferrer Schools, die libertäre Pädagogik stark in diesen Neugründungen etablieren. Wenngleich viele Schulen sehr klein und nicht von langer Dauer waren und daher ihre Anzahl schwer geschätzt werden kann, geht die Huffington Post für 2012 von etwa 100 Freien Schulen in den USA aus. Viele davon aus den 1960er Jahren. 46CBS News berichtet 2006, dass die Freien Schulen in der Mehrzahl demokratisch seien. Das heißt in dem Fall Schüler besitzen ein wesentliches Mitsprachrecht an der Schulverwaltung. Sicherlich sind einige Schulen dieser Zeit mehr von Summerhill oder anderen Vorbildern inspiriert, jedoch ist der libertäre/politische Charakter der meisten Schulen so prägend, dass 47Sudbury Valley (vgl. Kapitel 2.2.2) Gründer Daniel Greenberg, sich explizit davon distanziert.

Beispielhaft für eine libertäre Schule und die erste mit einem 48»commitment to collective decision-making, and an atmosphere of mutual respect between teachers and children«, die ich finden konnte, ist die, 1956 gegründete, Schule The Walden Center and School. Der Name stammt wahrscheinlich von dem berühmt gewordenen Buch 49Walden – Life in the woods des Erlebnis- und Naturpädagogen Henry David Thoreaus. 50Thoreau inspirierte mit seiner Theorie des zivilen Ungehorsams unter Anderem Mahatma Ghandi und Martin Luther King und zählt zu den einflussreichsten Anarchisten und Aussteigern der Geschichte.

51Die Schule existiert noch heute. Sie hat aber viel von ihrem revolutionären Charakter und ihrem Bezug zur libertären Bewegung verloren. Sie versteht sich heute als 52»arts-based progressive, teacher-run elementary school« und nicht als selbstverwaltet und schülerregiert.

2.1.4 Escuela libre Paideia

53Die Escuela libre Paideia bei Mérida (Spanien) bezieht sich pädagogisch auf Francisco Ferrer und sieht sich in der Tradition des (spanischen) Anarchismus. Sie wurde 1978 von Josefa Martín Luengo eröffnet und besteht bis heute als Grundschule und Ganztagsschule, seit spätestens 2007 sind auch eine weiterführende Schule und ein Kindergarten angeschlossen. 54Paideia wuchs von anfangs 10 auf 58 Schüler im Jahr 2007.

55Paideia hat acht offizielle Prinzipien:

Bildung gegen die Abhängigkeit von den Eltern

1 Bildung gegen Privateigentum

2 Bildung gegen die Autoritätsgläubigkeit

3 Bildung gegen Egoismus / Egozentrismus

4 Bildung gegen den Konkurrenzkampf der sozialen Klassen

5 Bildung gegen Frustration / Aggressivität / Gewalt

6 Bildung gegen den Wunsch nach Machtverhältnissen

7 Bildung gegen die Konsumgläubigkeit

56Paideia versteht sich als Selbstbildungsstätte für Anarchisten im besten Sinne des Wortes, als selbstverantwortliche, solidarische, freie Menschen für eine kommende freie Gesellschaft. Paideia wurde mit einer Civic Education Motivation (vgl. Kapitel 2.2) gegründet, im Gegensatz zu anderen Schulen im Kapitel 2.2, wie der George Junior Republic, aber explizit für eine Basisdemokratie anarchistischer Prägung ohne Anführer oder Staat. Paideia versteht Schule darüber hinaus als einen Ort, Gesellschaft hin zu einer sozialen, freiheitlichen Zukunft zu verändern und diese bessere Zukunft im Kleinen zu erproben. Diese Art der Bildung wird von Paideia als Gegenmanipulation beschrieben. Ziel dieser Gegenmanipulation sei es, so die offizielle Darstellung, der gesellschaftlichen Manipulation des Individuums, die als ein Hauptproblem für die Befreiung des Individuums gesehen wird, entgegen zu wirken. 57Die Idee der Gegenmanipulation hat in Paideia weitreichende Folgen. Nach der Rückkehr aus den zweimonatigen Sommerferien herrscht Mandado. Eine »autoritäre« Übergangsphase in der die Erwachsenen mehr Kontrolle ausüben und die von den Schülern selbst beendet wird, wenn sie der Ansicht sind, dass sie die Kontrolle nicht mehr benötigen und in Freiheit und Verantwortung in der Schule lernen und leben können.

58»This state of exception [gemeint ist Mandado] remains until the students decide to call for an assembly where they will discuss collectively whether they have returned to a state of freedom and responsibility. If there is consensus for the Mandado to be lifted, then the school will return to normal and no one will be told what to do anymore. »They need to re-find their anarchist values,« meint Martín Luengo. »It doesn’t take long. No one likes being told what to do all the time. But if they want to be free they have to fight for it.«

59Die Ursache von Mandado erläutert Luengo so:

»Returning from the summer holidays is always a problem, because for two whole months the kids live with their parents and their grandparents, who do everything for them, they watch a lot of TV, get influenced by consumerism and competitiveness. The children lose their autonomy. Thus, when they come back they forget how to do things: if they need to cut carrots, for example, they look at us with imploring eyes, they have forgotten what needs doing … Their minds aren’t free when they have to ask what to do!«

Dass Mandado nicht in anderen Demokratischen Schulen auftritt, liegt vielleicht teilweise daran, dass in Paideia (60einer Schule mit geringem Schulgeld und ohne staatliche Unterstützung) der größte Teil der anfallenden Arbeit (Kochen, Putzen, Feld- und Gartenarbeit, etc.) von den Schülern erledigt wird. Ein langsames »in Gang kommen« des Schulsystems würde bedeuten, dass es in der ersten Woche nach den Ferien (etwa) kein Essen geben könnte. Wesentlich wichtiger scheint mir aber der 61ideologische Unterbau Paideias als eine revolutionäre Schule, die sich im Gegensatz zum herrschenden System sieht. Dies zeigt sich am besten an der Pädagogik der Gegenmanipulation, die schon vom Wort her, die Möglichkeit eines manipulierenden und nicht mit den Schülern abgestimmten Einflusses (der Lehrer) beinhaltet. Auf der anderen Seite fühlen sich die allermeisten Demokratischen Schulen nicht dem Anarchismus und damit einer Tradition des nie endenden Widerstands gegen Herrschaftsstrukturen, der Kritik an jedweden Staatssystems, sowie des Kapitalismus verbunden.

Paideia wendet sich klar gegen eine »laissez faire« Haltung, was Luengo auch klar artikuliert:

62»Paideia does not see the process of growing up free as something passive. It is not a relaxed laissez-faire attitude where children can simply do whatever they want while the educators remain impassive and value free. It is instead a dynamic exercise, which involves creating a working community that is held by a set of clear values and where the rights of educators and students are acknowledged as equal.«

63Im Gegenteil scheint die Schule sehr gut organisiert. Auch für die jüngsten Kinder scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, ohne anwesende oder präsente Erwachsene zu kochen und abzuwaschen. 64Dagegen unterstellt Luengo Summerhill unpolitischen Individualismus und eine »laissez faire« Haltung. Eventuell hat Luengo hier aber ein falsches Bild von Summerhill und Neill, welcher durchaus politisch aktiv war (vgl. Kapitel 2.2.1.3).

65Die Regeln in Paideia werden in der großen assamblea verhandelt, hier werden die meisten Konflikte gelöst, die sich nicht unter den Beteiligten oder der Kommission für Lösungen lösen ließen. 66Die Anwesenheit in der assamblea ist verpflichtend. Die Befugnisse der assamblea sind beschränkt, Einstellungen und Kündigungen von Lehrern gehören zum Beispiel nicht dazu.

67Die täglichen kleinen assambleas, die Klassenversammlungen, bestimmen ebenso mit einfacher Mehrheit über Angelegenheiten der Klassen (z. B. Wahl der Unterrichtsfächer).

68Verstößt ein Schüler zu oft gegen die Gemeinschaft, so kann er mit einem persönlichen Mandado bestraft werden.69