Mein Lebensglück finden

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Eine zweite Überlegung ist mir wichtig: In den ersten Lebensjahren bleibt das Kleinkind im Hinblick auf sein Leben von seiner näheren Umwelt (Mutter, Vater, Familie) ähnlich abhängig wie in der pränatalen Phase. Sowohl die physische als auch die psychische Lebensnahrung kann sich der Säugling nicht selbst besorgen. Er ist hier ganz auf die primären Bezugspersonen, besonders auf die Mutter, angewiesen. Ja er ist ihnen auf gewisse Weise immer noch ausgeliefert, weil er ohne diese Zuwendung nicht überleben kann (Spitz, 1965).

G. Roth beschreibt diese Phase aus der Sicht des Neurobiologen: In den „ersten Lebensjahren findet auf der ‚mittleren limbischen Ebene‘, auf der die Amygdala (emotionale Konditionierung), das mesolimbische System (Belohnungslernen) und die Basalganglien (Ausbildung von Gewohnheiten) in der engen Interaktion mit der primären Bezugsperson stehen, die Ausgestaltung der noch undifferenzierten Gefühlswelt des Säuglings und Kleinkindes statt, ebenso die Entwicklung der vorerst nichtsprachlichen Kommunikation (Mimik, Blick, Lautäußerungen, Gesten) und die Bindungsfähigkeit. Hierbei prägt die primäre Bindungsperson über ihr Verhalten ihre Persönlichkeit dem Kleinkind in beträchtlichem Umfang auf“ (Roth, 2015, N2).

Damit beginnt auch die psychische Erfahrung in der Familie, im Kindergarten und später in der Schule, d. h. die Erziehung und Sozialisation des Kindes. „Dieser Prozess vollzieht sich auf der oberen limbischen Ebene (…) Hier wird das egozentrierte Fühlen, Denken und Handeln des Kleinkindes nach dem Prinzip ‚ich will alles, und zwar sofort‘ den Erfordernissen des familiären und gesellschaftlichen Zusammenlebens angepasst, soweit das Temperament und die frühkindliche Prägung dies zulassen. Es entwickeln sich die Fähigkeiten zur Kooperation, zu Empathie, zum Einhalten gesellschaftlich-moralischer Regeln und zur Berücksichtigung der Konsequenzen des eigenen Handelns für einen selbst und die anderen. Diese Ebene entwickelt sich bis zum Erwachsenenalter und darüber hinaus“ (Roth, 2015, N2).

Um die lebensnotwendige physische und psychische Nahrung (Liebe, Zuwendung, Ansehen, Beachtung, Streicheln) zu bekommen, entwickelt das Kleinkind instinktiv entsprechende Überlebensstrategien und Manipulationstechniken, wenn es nicht bekommt, was es braucht und haben will. Die bekanntesten Strategien sind das Schreien und das Krankwerden. So verläuft das Leben des Kindes trotz der allmählich wachsenden Eigentätigkeit im Ganzen noch sehr fremdbestimmt, reaktiv und angepasst. Das zeigt sich auch im Imitationslernen: Das Kind lernt leben, indem es die Verhaltensweisen, Einstellungen und Lebensweisen der primären Bezugspersonen nachahmt und nachlebt. Das gilt auch für religiöse Bräuche und Gewohnheiten. Beim Gebet, bei liturgischen Gesten wie dem Kreuzzeichen oder beim Besuch von Gottesdiensten ahmt das Kind zunächst einfach nach, was es bei seinen Eltern, den Großeltern, Geschwistern oder anderen beobachtet.

2.3.1. Das Urvertrauen als ein Sich-verlassen-Können im Leben

Das Vertrauen ist wohl die wichtigste Wurzel des Lebensbaumes, die über Wachsen, Gedeihen und Gelingen des menschlichen Lebens, kurz über ein geglücktes Leben wesentlich mitentscheidet. Misstrauische Menschen sehen bestenfalls Überlebenschancen für sich selbst. Sie glauben aber im Tiefsten nicht an sich und haben kein Vertrauen in das Leben. In diesem Zusammenhang denke ich an die vielen Frauen und Männer, die im Zweiten Weltkrieg noch vor der Geburt oder in den ersten Lebensjahren ihren Vater verloren haben. So unterschiedlich sich der Tod des Vaters auch abspielte, ob das kleine Kind den toten Vater gesehen und zum Grabe begleitet hat; ob der Vater irgendwo fernab beerdigt oder in der Erde verscharrt wurde; ob der Vater das Kind mehr angenommen oder abgelehnt hat; ob das Kind jahrelang vergeblich mit der weinenden Mutter am Radio auf den Namen des Vaters unter den Vermisstenmeldungen wartete oder ob es sich an den Zusammenbruch der Mutter bei der Todesnachricht erinnert: Meistens entstand durch den plötzlichen, für das Kleinkind nicht begreifbaren Tod, durch dieses endgültige Weggehen und Verlassenwerden von dem „geliebten Vater“ ein Vertrauensbruch, der im späteren Leben oft zu einem tiefen Urmisstrauen führte. Vielen war diese Ursache ihres Misstrauens nicht bewusst. Sie hatten den verstorbenen Vater und die damit verbundenen Umstände ganz aus ihrem Leben verdrängt oder glorifiziert, so dass sie sich nicht mit seinem frühen Tod und den für sie selbst und die Familie schwerwiegenden Folgen auseinandersetzen konnten. Die als Kind empfundene Enttäuschung, die Aggressionen und die Wut gegen den unbewusst „treulosen und unzuverlässig erlebten Vater“, die Trauer um ihn konnten so nicht angemessen ausgedrückt und bearbeitet werden. Eine weitere Beobachtung: Oft haben diese Menschen keine oder schlechte Beziehungen zu Gott als „Vater“. Sie sprechen im Gebet meist Gott oder Jesus Christus als „Du“ an.

Erikson schätzt die Bedeutung der ersten Phase des „Urvertrauens und Urmisstrauens“ für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit als sehr hoch ein. Er geht davon aus, dass der Säugling auch nach der Geburt noch keine eigentliche Identität besitzt. Erikson sieht vor allem in der Mutter die Garantin für die kindliche Existenz. Mutter und Kind bilden – anders als in der pränatalen Zeit – eine psychische Einheit, ja eine Symbiose.

Vertrauen bedeutet für Erikson also ein Gefühl des Sich-ver-lassen-Könnens und -Dürfens auf die Glaubwürdigkeit anderer, besonders der Mutter. Vertrauen beinhaltet weiterhin eine Neugier und Offenheit, den Mut zum Leben und verleiht eine letzte Sicherheit. Mit dem Urvertrauen ist auch das „Selbstbewusstsein“ verbunden, Ängste und negative Erfahrungen zu überstehen. Und schließlich impliziert das Vertrauen die Fähigkeit, Zuwendung und Liebe zu empfangen und zu schenken, verlässliche Beziehungen einzugehen.

In diesem Prozess der Vertrauensbildung findet der Säugling vor allem Befriedigung beim Saugen an der Mutterbrust. Im oralen Einssein mit der Mutter erhält er nicht nur die zum Leben und Wachsen notwendige Nahrung, sondern der Hautkontakt, die Wärme und persönliche Zuwendung der Mutter vermitteln ihm auch Sicherheit und Wohlbefinden. Diese orale Beziehungsaufnahme setzt das Kind später fort, wenn es versucht, andere Gegenstände (Daumen, Puppe, Stofftiere, Bleistifte) in den Mund zu nehmen oder zu streicheln. Sie findet sich auch noch im Erwachsenenalter, z.B. im Zigarettenrauchen, die ja auch als ‚Lutschstängel’ bezeichnet werden. Ebenso können Essen und Trinken stellvertretend für den Erhalt von Liebe und Vertrauen in Beziehungen stehen („Liebe geht durch den Magen“). In sublimierter Form wird dies in der Beziehungsaussage deutlich: „Ich habe dich zum Fressen gern.“ Auch in den kultischen Opfermählern bis hin zum christlichen Abendmahl zeigt sich die Teilhabe am Göttlichen im Mahl als Zeichen der vertrauensvollen Urbeziehung zwischen Gott und Mensch.

Die erste notwendige Loslösung aus dieser symbiotischen Einheit erfolgt ebenfalls beim Saugen an der Mutterbrust. Wenn das Kind die Mutter anschaut, nimmt es durch die gleichzeitige optische Wahrnehmung des Gesichtes der Mutter ein Nicht-Ich, ein Gegenüber wahr. Diese Begegnung von Angesicht zu Angesicht verweist nicht nur auf die Ich-Du-Beziehung als menschliche Grundstruktur, sondern begründet auch die „dialogische Struktur der menschlichen Existenz. Das gilt ebenso für den späteren Sozialcharakter des Menschen (homo sociologicus) wie für die mögliche Religiosität, die Beziehungen des Menschen zu einem Ur-Du (homo religiosus). Partnerfähigkeit im sozialen wie im religiösen Sinn hat in diesen frühesten Erfahrungen ihre Wurzeln“ (Fraas, 1990, 109).

Ein weiterer Schritt in Richtung Trennung ist die Entwöhnung, ein kritischer Moment in der Vertrauensphase. Die große eigene Leistung des Kindes besteht darin, die Mutter zu entlassen, ohne im Alleinsein zu verzweifeln. Das Kind hat gelernt, das Vertrauen auf die lebensspendende Nahrung und auf das Überleben zu bewahren, ohne dass die Mutter, die ihm dies alles verbürgt, gegenwärtig ist.

Die eigentliche Krise der oralen Phase sieht Erikson in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres, wenn die ersten Zähne sich schmerzhaft ankündigen und der Körper des Kindes sich verändert. Die Mutter wendet sich wieder anderen Aufgaben zu. Das Kind erfährt sein Dasein als Einzelwesen bewusster, verbunden mit dem Gefühl des Verlassenseins. Es braucht einige Zeit des Ausprobierens und geduldiger „Nähe-Distanz-Spiele“, bis das Kind die Gewissheit hat, dass es auch dann sicher und geborgen ist, wenn es die Mutter nicht sieht.

Wenn ein Kind im ersten Lebensjahr mit der liebevollen Unterstützung der Mutter (des Vaters) gelernt hat, sich der Umwelt zuzuwenden und die eigenen Lebenskräfte zu spüren; wenn es gleichzeitig erfahren konnte, dass es durch die Loslösung aus der symbiotischen Einheit, bei allen negativen Übergangsgefühlen, die Mutter nicht verloren, sondern mit ihrer Hilfe das eigene Leben ein Stück gewonnen hat, dann wird es auch später als Erwachsener in schwierigen Situationen vertrauen können. Mit diesen positiven Erfahrungen wird es an die Treue und Zuverlässigkeit von Menschen und Gott glauben können und sich geborgen wissen, d. h., es kann auf seine Weise zufrieden und glücklich sein.

Das Urvertrauen ist also eine aus der Entwöhnung, der Auseinandersetzung mit der Außenwelt und der Mutter sowie aus dem zunehmenden Selbstvertrauen entstehende Lebenssicherheit, aus der sich auch ein entsprechendes Gottvertrauen gnadenhaft entwickeln kann. Dieses Vertrauen sieht in Gott nicht kindlich-naiv den Garanten für ein ungetrübtes Glück, sondern bewährt sich gerade auch in schweren Lebenssituationen.

Meistens haben Menschen, die Probleme mit dem Vertrauen haben, schon in den ersten Lebensjahren Schlüsselerfahrungen mit Vertrauensbrüchen gemacht. Ein Vertrauensbruch wird erlebt, wenn Mütter ihre Kinder nach der Geburt weggeben, wenn sie ihnen die Wärme des Hautkontaktes vorenthalten, sie vernachlässigen. Misstrauen entsteht auch, wenn Mütter ihr Kind als Last empfinden, es misshandeln, keine Zeit haben, ihr Kind innerlich und äußerlich ablehnen. Ähnliches habe ich bei Kindern erlebt, die als Frühgeburt Wochen im Brutkasten verbringen und ohne Elternkontakt bleiben mussten.

 

Urmisstrauen entsteht auch dort, wo Mütter sich ein Kind „wie einen Hund anschaffen“ und es abgöttisch lieben: „Ich möchte ein Kind ganz für mich haben.“ Sie sehen das Kind als ihren Besitz an: „Du bist mein Ein und mein Alles.“ Gerade auch bei Söhnen, die in der Kindheit das „Ein und Alles“ der Mutter waren, kann dies zu einer gegenseitigen Hass-Liebe-Beziehung führen, die mit Lebensuntüchtigkeit und Abhängigkeit verbunden ist. Manche bleiben ein Leben lang im „Hotel Mama“ wohnen. Andere versuchen sich durch überstürzte Flucht in eine Beziehung oder in den Priester -oder Ordensberuf aus der Symbiose zu retten und landen oft unbewusst in einem neuen „Mutterschoß“.

Der 50-jährige Ordenspriester A. ließ mir durch einen Freund einen Abschiedsbrief zukommen, in dem er mitteilte, er sehe keinen Sinn mehr in seinem Leben und in seinem priesterlichen Wirken. Seine 88-jährige Mutter habe Schlaftabletten genommen, weil er sich weigerte, den Orden zu verlassen, eine Pfarrei zu übernehmen und die Mutter bis zu ihrem Lebensende im Pfarrhaus bei sich aufzunehmen. Seit Jahren mache sie ihm Vorwürfe, er sei „ein undankbarer Sohn, ein schlechter Priester, der sich nicht um seine arme, alte Mutter kümmere. Der gerechte Gott werde ihn schon strafen und in die Hölle schicken!“.

Wie A. weiter berichtete, „musste“ seine Mutter mit 38 Jahren heiraten, weil er unterwegs war. Da sie durch die Geburt sehr geschwächt war, gab sie den Neugeborenen zu ihren Eltern, die den Jungen liebten. Hier fühlte er sich zu Hause. Nach zwei Jahren wurde die Ehe seiner Eltern geschieden und die Mutter forderte ihren Sohn von den Großeltern zurück. Zur Belohnung durfte er im Ehebett schlafen, wurde von der Mutter verwöhnt oder verprügelt je nach Laune. Nach diesen Wechselbädern von Zuwendung und Ablehnung schickte ihn die Mutter mit 12 Jahren auf ein „Kleines Seminar“, denn sie hatte Gott gelobt, er solle Priester werden, falls sie beide die schwierige Schwangerschaft überstehen würden. Nach der Priesterweihe war A. in einen Orden eingetreten, um, wie er später erkannte, die Mutter nicht bei sich im Pfarrhaus aufnehmen zu müssen.

Seit dem Ordenseintritt tobte der Kampf zwischen den beiden, in dem es schließlich zum Suizidversuch der Mutter kam. Erst als A. sich nach geraumer Zeit seiner Lebensgeschichte mit ihren negativen Schlüsselerfahrungen stellte und die entsprechenden Wut- und Hassgefühle aufgearbeitet hatte, konnte er auch die Schuldgefühle, mit denen die Mutter ihn erpresste, als „falsche Schuldgefühle“ entlarven. Danach konnte A. wieder, wie er sagte, „frei atmen und mit ruhigem Gewissen im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit weiterleben“. Unbewusst hatte er das von der Mutter vermittelte negative Gottesbild des Richtergottes übernommen. Diese Vorstellung schürte in ihm die Angst, dass Gott ihm keinen Lebensraum lassen und ihn letztlich vernichten wolle. Inzwischen lebt die Mutter in einem Seniorenheim und A. hat sich nach einem schmerzhaften therapeutischen Prozess mit ihr versöhnt.

Nachfolgend noch eine Übung, die zur Stärkung des Vertrauens, insbesondere des Selbst- und Gottvertrauens, helfen kann.

Menschen, die z.B. nicht gewollt waren und von den Eltern abgelehnt, vernachlässigt, geschlagen oder missbraucht wurden, beschreiben ihr Gottesbild oft sehr positiv als „lieben Gott“, als barmherzigen Vater oder den guten Hirten, der sie beschützt und nie verlässt. Diesem Gott – so sagen sie – können sie absolut vertrauen. Gleichzeitig aber stimmten ihr ängstliches und zwanghaftes Verhalten, ihre Unsicherheit und Skrupelhaftigkeit im alltäglichen Leben mit diesem positiven Gottesbild nicht überein. Bei näherem Hinschauen auf die Lebens- und Glaubensgeschichte entdeckten sie dann, dass sich hinter diesem positiven Gottesbild unbewusst ein negatives Gottesbild wie der strafende Richtergott oder der Buchhaltergott verbarg. In ihrer Not flüchteten sie als Kind zu einem guten „Wunschgott“, der ihnen die Geborgenheit, Nähe, Zuwendung, Anerkennung, Liebe etc. schenkte, die sie von ihren Eltern nicht bekommen hatten. So wurden unbewusst die ablehnenden und misshandelnden Eltern auf Gott übertragen. Hinter diesem geschilderten „Gottvertrauen“ verbirgt sich letztlich ein unbewusstes Misstrauen, dass dieser „Wunschgott“ sie letztlich ebenso fallen lässt und missbraucht wie die Eltern.

Die Betreffenden beschreiben häufig ihre Beziehung zu Gott wie folgt: „Ich halte mich an Gott fest“, „In meiner Not klammere ich mich an Gott“, „Gott ist der letzte Halt meines Lebens“, „Ich hänge an Gott“ etc. Wenn sie dann in einer Beziehungsskulptur diese Sätze mit dem Körper gestalten, krallen sie sich an der Person, die Gott darstellt, fest, hängen sich an ihren Hals, umklammern ihre Schultern oder halten sich am Arm fest usw. Gott steht in dieser von den Betroffenen gestalteten Beziehungsskulptur meist teilnahmslos mit herunterhängenden Armen da und schaut über die Betroffenen Personen hinweg. Kommt dann die Einladung loszulassen, folgt die schmerzliche Erfahrung, dass sie sich selbst an Gott festhalten und dass es nicht Gott ist, der sie hält. Wenn sie wirklich loslassen, fallen sie. Gott fängt sie nicht auf; er lässt sie fallen.

In dieser Übung der „Enttäuschung“ entpuppt sich das scheinbare Gottvertrauen als Urmisstrauen. Das wahre Gottvertrauen besteht darin, dass ich loslasse, mich fallen lasse im sicheren Glauben, dass Gott mich auffängt und ich nicht ins Bodenlose falle.

Es ist zwar richtig, dass gerade der christliche Glaube in Notsituationen die Möglichkeit anbietet, bei Gott Hilfe und Zuflucht zu suchen. Doch hier ist zu unterscheiden, ob dies nicht eine Flucht aus der Wirklichkeit in Fantasien, Träume oder andere Beziehungen ist, eben eine im Kindesalter entwickelte Überlebensstrategie. Ist es eine Flucht, dann schafft sie eine Kluft zwischen der irrealen, heilen Fantasie- und Wunschwelt und der grausamen und schwierigen Alltagswelt. Diese schizoide Weltanschauung führt im Erwachsenenalter zu Spannungen und Krisen, weil keine Möglichkeiten entwickelt werden, beide Erlebniswelten miteinander zu verbinden. Solche Menschen sind nicht in der Lage, ihre Erfahrungen in der „bösen und schlimmen Alltagswelt“ mit Gott in Berührung zu bringen, dem sie ja letztlich misstrauen. Denn ihr bis dahin geglaubter „Lückenbüßergott“ ist nur für die guten und positiven Erfahrungen zuständig.

Die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem „wahren Gott“ kann zu einer heilsamen Krise führen, in der das Gottesbild der Kindheit ergänzt wird durch neue Erfahrungen mit Gott in der Gestalt des barmherzigen Vaters oder des guten Hirten.

Aus diesen Erfahrungen entstand die folgende Übung, die zur Stärkung des Selbst- und des Gottvertrauens beitragen kann.

Ich mache ein Kreuzzeichen und erbitte Gottes Segen für die Übung. Ich stehe gerade und entspannt, atme ruhig ein und aus. Ich spüre den Boden, der mich sicher trägt, auf dem ich stehen kann. Dieser tragende Boden wird oft als Gott oder Hand Gottes benannt.

Ich spüre meine Füße, die auf dem Boden stehen, sie tragen mich. Ich spüre weiter durch meinen Körper. Zuerst das rechte Bein über die Knöchel, die Wade, das Knie bis zum Oberschenkel. Ich spüre der Kraft im Bein nach, die mich trägt und gehen lässt. Dasselbe mache ich mit dem linken Bein.

Dann spüre ich in kleinen Bewegungen der Kraft in den Hüften, in meinem Becken und im Bauchraum nach, wo die wichtigen Organe liegen, die mein Leben wie selbstverständlich regulieren. Ich gehe mit meiner Aufmerksamkeit die Wirbelsäule entlang, die mich aufrecht hält, bis zum Nacken.

Der Kopf ruht auf den Wirbeln. Von dort gehe ich über den Hinterkopf hin zum Scheitelpunkt und stelle mir vor, dass mein Scheitel wie mit einem unsichtbaren Faden mit oben, mit dem Himmel, verbunden ist und mich in meiner vollen Größe ausgestreckt sein lässt.

Anschließend gehe ich langsam über den Vorderkopf und mache mir bewusst, dass mein Gehirn mir das Denken und Überlegen ermöglicht, Lernen und Entscheiden. Jetzt komme ich wieder zum Hals und zu den Schultern, die meinen Kopf tragen und durch den die wichtigen Verbindungen zum Gehirn gehen, wo es über das Blut mit Sauerstoff versorgt wird.

Ich gehe weiter mit meiner Aufmerksamkeit über die Stirn hinweg zu den Sinnen und spüre ihnen nach: den Augen, mit denen ich die bunte Welt ersehen, wahrnehmen und meine Mitmenschen ansehen und so vieles entdecken kann; der Nase, mit der ich so viele verschiedene Düfte riechen kann; meinen Ohren, mit denen ich die unterschiedlichen Geräusche und Töne, vom Vogelgezwitscher bis zur Musik und zu den Worten des Mitmenschen, hören und aufnehmen kann; dem Mund, durch den ich mit anderen sprechen kann, mit dem ich schmecken und verkosten kann, was an lebenserhaltender Nahrung in ihn hineingelangt.

Ich gehe weiter mit meiner Aufmerksamkeit über das Kinn und den Hals zum Herzen. Hier spüre ich meinem Herzschlag nach und lege meine Hand aufs Herz. Ich staune, wie mit jedem Herzschlag über diese „Lebenspumpe“ mein Körper mit Blut versorgt wird. Dann spüre ich meine Schultern, die Lasten tragen können. Ich gehe in den rechten Arm bis zur Hand und erspüre meine Schaffenskraft und Lebensenergie und in der linken, der Herzhand meine emotionale Fähigkeit, Beziehungen zu leben, Gefühle zu zeigen und zu lieben.

Dann lege ich meine Hände auf meine Leibmitte und spüre in die Tiefe hinein. Wir gehen davon aus, dass hier die Mitte des Lebens liegt, wo letztlich auch Gott in uns wohnt. Ich spüre meinem Atem nach, wie er so selbstverständlich ein- und ausgeht und mich am Leben erhält. Er gilt auch als Lebensodem, den Gott mir einhaucht.

In einem nächsten Schritt gehe ich aus dem Stand heraus und lege mich mit dem Rücken auf den Boden. Ich entspanne mich, atme ruhig ein und aus. Ich spüre, wie der Boden meinen Körper trägt, indem ich ihn ihm überlasse.

Dann beginne ich wieder bei den Füßen und spüre nach, wie der Boden (symbolisch die Hand Gottes) sie trägt, ohne dass sie stehen oder gehen müssen, ohne dass ich etwas tun muss. So gehe ich weiter mit meiner Aufmerksamkeit über die Beine, das Becken, den Rücken, die Arme und Hände, die Schultern, den Hals bis zum Kopf meinen ganzen Körper durch. Dabei kann ich erfahren, dass mein Körper, ohne dass ich etwas tue oder leiste, getragen wird. Ich falle nicht ins Bodenlose (was manche befürchten). Der wahre Gott lässt mich nicht fallen, er trägt mein Leben, wie es der Boden symbolisch erfahren lässt. In Gottes Hand bin ich geborgen, ihm kann ich mich überlassen und ihm vertrauen. Meine Angst, ins Bodenlose zu fallen, ist spürbar unbegründet.

Zum Abschluss lege ich die Hände auf meine Leibmitte und spüre dabei meiner Lebenskraft nach, die mir Gott geschenkt hat. Dann beginne ich langsam, aufzustehen. Ich tue dies, indem ich mich Glied für Glied nacheinander in den Stand erhebe.

Es ist wichtig, die Übung langsam und bewusst zu vollziehen, um differenziert die Kraft in den einzelnen Teilen meines Körpers zu spüren und auch damit ich Gott dafür danken kann. Das Aufstehen wird im Selbststand beendet, mit dem ich am Anfang begonnen habe.

Wenn ich diese Übung am Morgen mache, z.B. nach der Meditation oder dem Morgengebet, kann ich den neuen Tag mit ins Gebet nehmen und für die Menschen und all das beten, was mir an diesem Tag begegnen wird. Zum Schluss kann ich ein „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist“ beten und aus dem Stand heraus symbolisch mit Gott einen Schritt in den Tag setzen.

Viele, die diese Übung regelmäßig machen, erleben, dass sie positiver und vertrauensvoller in den Tag gehen. Wenn man diese Übung wiederholt macht, kann gleichsam über die Körpererfahrung ganzheitlich der Selbststand, das Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und nicht zuletzt das Vertrauen auf Gott immer mehr wahrgenommen und gestärkt werden. Die Erfahrung über den Körper, dass mich der Boden trägt und ich nicht ins Bodenlose falle, wird dann allmählich von Geist und Seele aufgenommen und der Körper kann diese Erfahrungen in das Gefühl des Vertrauens hineinnehmen, so dass es wächst und immer mehr den ganzen Menschen durchströmt.

2.3.2. Die Autonomie als Beginn des selbständigen Lebens

Die zunehmende Selbständigkeit des Kindes zeigt sich zu Beginn des zweiten Lebensjahres. Mit dem Sprechen lernt es auch allmählich „ich“ und „du“ zu sagen, „mein“ und „dein“. Es beginnt auf eigenen Füßen zu stehen und zu gehen, Gegenstände zu ergreifen und wegzuwerfen, die Mutter zärtlich zu umarmen und sie im nächsten Moment wegzustoßen. Das Kind probiert in großer Entdeckerfreude die eigenen Kräfte aus.

 

In dieser sogenannten „analen Phase“ lernt das Kind durch die Reifung des Muskelsystems das „Festhalten“ und „Loslassen“ bei der Entleerung von Darm und Blase zu üben und zu beherrschen und auch seinen eigenen Willen durchzusetzen. Im Zusammenhang mit der Sauberkeitserziehung setzt in diesem ersten Trotzalter eine Auseinandersetzung mit der Mutter und dem Vater ein. Jetzt wächst auch die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung und Lebensgestaltung des Kindes. Als „Normen-Instanz“ fordern die Eltern das Kind heraus, belohnen es für seine guten Leistungen, loben und tadeln es. Das Kind lernt allmählich das Gut- und Bösesein kennen. Dabei erfährt es durch die Reaktionen der primären Bezugspersonen, ob diese es nur als sauberes und braves Kind annehmen und lieben oder auch dann, wenn mal „etwas in die Hose geht“.

Je nachdem wie die Eltern das Kind erziehen, entsteht nach Erikson im Kind Autonomie oder Scham und Zweifel. Dabei ist die Vorbedingung für die Autonomie ein „fest verwurzeltes und überzeugend weiter geführtes frühes Vertrauen. Das Kleinkind muss das Gefühl haben, dass sein Urvertrauen zu sich selbst und der Welt nicht bedroht wird durch den plötzlichen Wunsch, seinen Willen durchzusetzen, sich etwas fordernd anzueignen oder trotzig von sich zu stoßen“ (Erikson, 1973, 79).

In dieser Lebensphase werden nach dem Vertrauen weitere wichtige Lebenseinstellungen eingeübt: Liebe und Hass, Festhalten und Loslassen, bzw. Geiz und Gebefreudigkeit, freie Selbstäußerung und Gedrücktheit, Willenskraft und Gehorsam, Selbstwertgefühl, Kreativität, Aggressivität, Angepasstheit und Regression.

Es ist hilfreich für das Kind, wenn die Eltern in diesem Stadium, gestützt auf das gegenseitige Vertrauen, fest und gleichzeitig tolerant sind, indem sie dem Kind einen Raum lassen, seine eigenen Möglichkeiten zu erproben und ohne Liebesverlust auch manche Dinge mit dem eigenen Willen zu ertrotzen. So helfen sie dem Kind, auf eigenen Füßen zu stehen und zu gehen, seine Fortschritte und Produkte (auch die analen) anzuerkennen. Das Kind gewinnt allmählich ein Grundgefühl von Autonomie und Selbstwert. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die Eltern dem Kind, das in dieser Phase noch kein ausreichend entwickeltes Unterscheidungsvermögen besitzt, auch die Grenzen und Schutzgebote für dieses Ausprobieren geben.

Scham und Zweifel können nach Erikson sowohl aus einer überfordernden, autoritären Sauberkeitserziehung als auch aus einem zu toleranten „Laisser-faire-Stil“, der alles laufen lässt, entstehen. Erikson verwirft mit Recht die erzieherischen Tendenzen, in Kindern konsequent Scham, Zweifel und damit Schuldgefühle und Angst zu erwecken. So wird nämlich das sich entwickelnde Eigenleben unterdrückt und die erzieherischen Pyrrhussiege laufen Gefahr, zu kindlichen Mustern von späteren Zwangsneurosen zu werden. Denn ein solcher Mensch „windet sich immer beschämt“, um Vergebung bittend und Verstecke suchend durchs Leben; oder aber er „überkompensiert“ und zeigt nach außen hin eine Art trotziger „Scheinautonomie.“ Hier werden die entsprechenden Lebensprobleme schon vorprogrammiert (Erikson, 1973, 79ff.).

Erikson weist auch warnend darauf hin, dass in der analen Problematik ein gesellschaftliches Gegenwartsproblem enthalten ist, das Leistungsprinzip. Das Leistungsdenken orientiert sich am Vergeltungsprinzip, dass das Kind hier schon früh lernt: „Wenn du mir dein anales Produkt zur rechten Zeit gibst und du dich so verhältst, wie es das Reinlichkeitsgebot befiehlt, dann wirst du für diese Leistung belohnt; dann bist du ein liebes Kind, das ich gern habe; dann erfülle ich deine Wünsche.“

Wenn die Leistung und das Bravsein zur Voraussetzung von Zuwendung gemacht werden und wenn in der Konsequenz das Kind durch diese pedantische Ordnungs- und Sauberkeitserziehung überfordert wird, ist es nicht verwunderlich, dass aus einer solchen Erziehung lebensuntüchtige Menschen hervorgehen. Um dem ständigen Leistungsdruck mit dem Prinzip des „nie genug“ entgegenzutreten, können sich unterschiedliche Zwänge entwickeln, z.B. Waschzwang, Perfektionismus oder Ordnungszwang. Menschen, die sich später wie Skrupelanten, Pharisäer, oder Frömmler verhalten, haben oft in dieser Phase keine ausreichende Unterstützung erhalten, sondern konnten die Spannung nur mit der Entwicklung einer Neurose lösen, die sich auch verselbständigen kann.

Oft wird das als Kind eingeübte Muster von Leistung und Bravsein, vor allem wenn es eingeprügelt wurde, unbewusst auch auf Gott übertragen. Hier kann sich das unbewusste dämonische Bild vom Richtergott, vom Buchhalter- und Rachegott einschleichen, das Menschen ein Leben lang quält.

Besonders gefährdet erscheint die Entwicklung der Autonomie des Kindes dort, wo die Mutter ihre Zuwendung und Liebe dem Kind jetzt und in späteren Jahren als Leistung vorhält, die lebenslange Dankbarkeit einfordert. Viele Priester, Ordenschristen und „fromme“ Laien werden von ihren Müttern und auch von Vätern mit dieser „im Namen Gottes“ eingeforderten Dankbarkeit gefangen gehalten. Sie entwickeln falsche Schuldgefühle.

Folgende Schlüsselsätze, vor allem von der Mutter vermittelt, finden sich in den Lebensskripts „Ich habe doch alles für dich getan! Du warst eine schwere Geburt: ich habe mein Leben für dich aufs Spiel gesetzt! Ich habe mir nie etwas gegönnt; ich habe ein Opferleben für dich geführt. Ich habe alles geopfert, meinen Beruf, meine Gesundheit, mein Glück, nur damit du glücklich wirst! Und jetzt?“ Psychosomatische Krankheiten der Mutter signalisieren zusätzlich: „Siehst du nicht, wie schlecht es mir geht, und du kümmerst dich nicht um mich? Nächtelang habe ich an deinem Bettchen gewacht, das ist nun der Dank; du undankbarer Sohn, du undankbare Tochter! Ihr lebt nur für euch, ihr Egoisten, auf meine Kosten. Gott wird euch schon strafen.“ Es gibt auch Suiziddrohungen und -versuche von Eltern, die damit den Sohn oder die Tochter aus einer Ehe oder einem Orden herauspressen wollen.

Es erstaunt mich immer wieder, wie erwachsene Menschen, die in Beruf und Alltag „ihre Frau“ und „ihren Mann“ stehen, emotional regressiv und unangemessen auf solche Eltern-Botschaften reagieren. Sie handeln „kopflos“, entwickeln falsche Schuldgefühle, können die Geister nicht recht unterscheiden und ruinieren ihr eigenes Leben, indem sie ihren Beruf und ihre Familie für die fordernden Eltern „opfern“.

Häufig steht bei Menschen, die christlich sozialisiert sind, das falsch verstandene vierte Gebot, die Eltern zu ehren, im Hintergrund. Es wirkt verhängnisvoll, wenn es so ausgelegt wird, dass es dem dankbaren Kind Heil und dem undankbaren Fluch verspricht.

Wenn Eltern ihren Kindern die Zuwendung als Leistung anbieten und eine entsprechende Gegenleistung in Dankbarkeit und Liebe einfordern, entsteht möglicherweise die Verhaltensweise eines rücksichtslosen Egoisten (Narzissten), der wegen seiner negativen Selbstwertgefühle weder selbst schenken noch Geschenke annehmen kann. Diese Menschen tun sich auch schwer mit Beziehungen, weil sie nichts als absichtslos geschenkt annehmen können. Sie haben als Kind gelernt: „Ich bin nicht selbstwert, nicht wert, dass man mir etwas schenkt, und letztlich bin ich um meiner selbst willen nicht liebens-wert.“

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