Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten

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sonderpädagogisches Know-How

Hierauf muss ein besonderes Augenmerk gelegt werden, zumal die Sonderpädagogik spezifisches Fachwissen einbringen kann. In der Entwicklung der Heil- und Sonderpädagogik hat sich zunehmend eine Expertenkultur für die Kompensation der kommunikativen Isolation von Personen mit Behinderung entwickelt. Es ist expliziter Auftrag von Experten geworden, erschwerte Kommunikation, wenn auch unter Anstrengung aller Beteiligten, in Interaktionen und Organisationen anzuregen und aufrecht zu erhalten (Terfloth 2008, 298). Eine Ursache und zugleich Wirkung dieser Entwicklung liegt darin, dass natürliche kommunikative Kontakte für Personen mit geistiger Behinderung abnehmen und Expertenkontakte in Bezug auf alle Lebensbereiche zunehmen (Fuchs 1995, 13).

Dies gilt es vorrangig zu bearbeiten, wenn von unterrichtsbezogener Inklusion die Rede ist. In diesem Sinne sind Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen nicht nur als Lernbegleiter, sondern auch als Kommunikationsvermittler und -unterstützer tätig und öffnen damit die Interaktionsräume der jeweiligen Einrichtung und in das Gemeinwesen hinein. (Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema der Interaktion im Unterricht sowie konkreter Interventionsmaßnahmen durch die unterstützte Kommunikation werden in Kapitel 7 geführt.)

Diversität

Obwohl die Inklusionsbewegung im Schulsystem hauptsächlich rund um das Thema Behinderung verortet wird, ist der Begriff soziologisch nicht nur auf die Situation dieses Personenkreises beschränkt. Die Diversität bzw. Vielfalt der Gesellschaft wird vermeintlich weiter gefasst und basiert darauf, Schulen und andere Einrichtungen zu befähigen, alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen unabhängig von

● ihrer nationalen oder ethnischen Herkunft,

● einer potenziellen Behinderung,

● ihrer sozialen und religiösen Herkunft,

● ihren kognitiven Lernvoraussetzungen,

● ihrer körperlichen und seelischen Verfassung,

● …

aufnehmen zu können und sich für ihren je individuellen Unterstützungsbedarf und Bildungsprozess bestmöglich einzusetzen. Heterogenität im Hinblick auf die oben genannten Aspekte zu schätzen und zu nutzen sind die zentralen Aspekte des Diversitätsmanagements in Institutionen. Eine Schule für alle soll demnach ein flexibles Unterstützungssystem enthalten, das ganz unterschiedlichen Lernenden gerecht wird und deren Diskriminierung verhindert.

2.2.4 Gemeinsamer Untericht und sonderpädagogische Spezifikation

Anfänge in der Schulpraxis

Seit 1975 wird in der Bundesrepublik gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung praktiziert, anfangs als Modellversuch und aktuell als anerkannte Variante schulischen Lernens. Allerdings erst in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1994 wurde der Begriffswechsel von der Sonderschulbedürftigkeit hin zum sonderpädagogischen Förderbedarf vorgenommen und damit der Weg für eine Öffnung der Auswahl zwischen verschiedenen Förderorten geebnet. Doch diese Empfehlung hat in den 16 Bundesländern inhaltlich und zeitlich ganz unterschiedlich Eingang in die Schulgesetze gefunden.

zielgleich und zieldifferent

Bundesweit haben sich zudem verschiedene Organisationsformen des gemeinsamen Unterrichts wie zielgleiche oder zieldifferente Einzelintegration und Integrationsklassen oder – wie in Baden-Württemberg und Bayern praktiziert – das Außenklassen- bzw. Kooperationsmodell entwickelt. Zielgleiche Integration impliziert, dass das Curriculum und die Leistungserwartungen inklusive Nachteilsausgleich der allgemeinbildenden Schule die Maßgabe für den Unterricht darstellen.

Im Falle einer zieldifferenten Integration ist es möglich, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf der Basis eines Sonderschullehrplans unterrichtet werden und somit andere Leistungserwartungen an sie gerichtet werden.

Die genannten Organisationsformen werden mit unterschiedlichen Graden an Verbindlichkeit praktiziert. Beispielsweise wird im Rahmen des Außenklassenmodells keine Vorgabe für den Umfang des gemeinsamen Unterrichts der Klasse einer Sonderschule und der zugewiesenen Kooperationsklasse einer allgemeinbildenden Schule gemacht. Vielmehr ist dies vom Engagement der Lehrpersonen vor Ort abhängig. Verallgemeinernde Aussagen über die didaktisch-methodische Qualität des gemeinsamen Unterrichts sind aufgrund der Vielfalt der Realisierungsformen mit Vorsicht zu formulieren.

Das Bildungsrecht und der Bildungsanspruch für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung bestehen in gleicher Weise wie für Schülerinnen und Schüler der allgemeinen Schule. Auch das Verständnis von Lernen und die unterrichtlichen Ansätze sind nicht grundsätzlich verschieden. Unterschiedlich sind im Verständnis der ICF die potenziellen Barrieren in den Aktivitäts- und Teilhabemöglichkeiten an schulischen Lernprozessen.

Heterogenität

Letztendlich geht es innerhalb der schulischen Inklusionsdiskussion um die Annahme von und den Umgang mit Vielfalt bzw. der Heterogenität einer Lerngruppe. Heterogenität wird als Verschiedenheit von Teilen einer Menge beschrieben (Grunder 2009, 118). Das deutsche Schulsystem hat Selektionsmechanismen entwickelt, die Heterogenität minimieren und die Homogenisierungstendenz der Leistungserwartungen fördern. Diesen Prozess zu modifizieren erscheint problematisch. Anzunehmen, dass es eine Lerngruppe mit homogenen Lernvoraussetzungen gäbe, ist sowohl in der allgemeinen Schule als auch in der Sonderschule ein Irrtum. Besonders im gemeinsamen Unterricht tritt die Heterogenität in den Lernerfahrungen, -möglichkeiten und Interessen deutlich zutage. Diese Heterogenität nicht als Belastung, sondern als Chance zu begreifen, dieser aber zugleich adäquat begegnen zu können, stellt eine wesentliche Herausforderung des gemeinsamen Unterrichts dar.

Durch die Heterogenität innerhalb der Lerngruppe wird eine Komplexität kommunikativer Abläufe erreicht, die eine Belastung für die Lehrpersonen darstellt. In der systemtheoretischen Betrachtung sozialer Systeme wird angenommen, dass Systeme bei einem gewissen Grad der Komplexität zur Reduktion durch die Bildung von Subsystemen neigen, z. B. durch getrennte Lerngruppen bis hin zur Trennung zwischen allgemeiner Schule und Sonderschule. Diese Subsysteme haben selektierende Funktion, wodurch die Komplexität innerhalb eines Systems reduziert wird, um vermeintlich eine Homogenität zu erreichen (2009, 120).

Vertreter der Integrations- bzw. Inklusionspädagogik kritisieren die leistungsorientierte Selektion innerhalb des Schulsystems als undemokratisch. Feuser schlug bereits 1989 eine allgemeine Didaktik und somit auch ein gemeinsames Curriculum für alle Schülerinnen und Schüler vor:

„In unserem Erziehungs- und Bildungssystem sind Segregation (Ausschluß Behinderter), Selektion der Schülerschaft (nach Leistung) und Parzellierung der zu lehrenden Inhalte (auch im Sinne reduzierter Curricula) nach Maßgabe einer jeweils gesellschaftlich definierten, fiktiven Normalität für alle Schüler Realität. Damit einher geht eine defekt- und abweichungsbezogene Atomisierung der behinderten Kinder und Schüler mit der Folge z.T. hochgradiger Isolation (…). Im Prinzip haben wir nur Schulen für x-mal ausgelesene Schüler. Die Pädagogiken in diesen Schulformen sind ihrer Natur nach Sonderpädagogiken, d. h. im historischen Prozeß ihrer Entwicklung ohne Einbezug des jeweils anderen, stets aussortierten Schülers zustande gekommen; dies von allen Anfängen wissenschaftlicher Pädagogik an. Behinderung und Sonderschule sind nur ein spezieller Fall dieses Allgemeinen. Schulversagen wird, gleich auf welchem Hintergrund und unter welchen Bedingungen zustande gekommen, noch immer als Versagen des Betroffenen und nicht als das einer Schule an ihm begriffen. Wir delegieren, was ein originäres Problem unserer Pädagogik und von uns Pädagogen und Lehrern ist, an den betroffenen Schüler“ (1989, 20).

gemeinsamer Unterricht

Im Kontext von Unterrichtsplanung stellen sich in der didaktischen, sozialen und methodischen Bewältigung von Heterogenität die Fragen:

● Ist das Vorgehen in der Unterrichtsplanung ein anderes, wenn für eine Lerngruppe von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf geplant wird?

● oder anders gefragt: Gibt es eine spezifische Unterrichtplanung im Förderschwerpunkt geistiger Entwicklung?

● oder ganz konkret: Ist das hier skizzierte Unterrichtsbeispiel auch im gemeinsamen Unterricht denkbar?

Gemeinsamer Unterricht wird nicht grundsätzlich anders geplant als bisher erläutert. Dennoch wird in den folgenden Kapiteln gezeigt, an welchen Stellen der Unterrichtsvorbereitung die heterogenen Lernvoraussetzungen berücksichtigt werden müssen.

Ausgehend von den vorher ausgeführten grundlegenden bildungstheoretischen Überlegungen, die keine Unterscheidung zwischen Regel- und Sonderpädagogik nahelegen, sind unserer Ansicht nach grundsätzlich in jeder Unterrichtsplanung die gleichen Kernpunkte von Bedeutung: die Analyse des Inhalts und der Lernvoraussetzungen, die daraus abgeleiteten Lernchancen sowie die methodischen und medialen Entscheidungen. Dahingehend besteht kein grundsätzlicher Bedarf an einer eigenständigen Didaktik.

Der Ruf nach einer gemeinsamen allgemeinen Didaktik impliziert unseres Erachtens jedoch nicht die Aufgabe bzw. das Wegfallen der Profession Sonderpädagogik. Denn gerade für die Erfassung bzw. Diagnostik der Lernausgangslagen und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Unterrichtsplanung, -durchführung und -evaluation bedarf es sonderpädagogischen Wissens. Über die Diagnostik hinaus sind im Bereich der Kommunikation sowie der Unterstützung von Handlungsfähigkeit und deren methodischen Umsetzung die erarbeiteten und erforschten Erkenntnisse aus den sonderpädagogischen Disziplinen notwendig.

 

Im Vergleich zur allgemeinen Didaktik werden auch in der Didaktik des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung die Unterrichtsmethoden nicht grundsätzlich unterschieden, jedoch durch spezifische sonderpädagogische oder auch therapeutische Konzepte ergänzt. Lernmaterialien und Hilfsmittel werden auf die Entwicklungsvoraussetzungen (Kognition, Emotion, Sozialität, Kommunikation, Motorik, und Wahrnehmung) abgestimmt und müssen daher nicht selten kreativ entwickelt werden (Kap. 6.3.4).

individuelles Lernen

Die Berücksichtigung der individuellen Lernwege hat auch in der Schulpädagogik für die Regelschule an Bedeutung zugenommen. In der Sonderpädagogik allerdings stellen die Unterrichtsprinzipien der Differenzierung und der Individualisierung in Bezug auf alle Planungsschritte aufgrund der stärker heterogenen Lernvoraussetzungen eine grundlegend notwendige Bedingung dar. Für den gemeinsamen Unterricht gilt es, didaktisch individuelle und kooperative Lernsituationen zu ermöglichen, die unterschiedliche Chancen zum Wissens- und Kompetenzerwerb eröffnen und mit deren Hilfe auf die Heterogenität innerhalb einer Lerngruppe konstruktiv reagiert werden kann.

Einzelförderung vs. Lerngruppe?

Eine besondere Herausforderung besteht diesbezüglich darin, dass bei Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung Lernmöglichkeiten zu beachten sind, die vorschulisches Entwicklungsniveau zeigen können. Diese sollen jedoch als Zugangsmöglichkeiten zu schulischen, dem Lebensalter angemessenen Bildungsinhalten genutzt werden. Um dies zu leisten, müssen, wie in der kritisch-konstruktiven Didaktik konzipiert, das Elementare (Gestalt und Strukturierung des Inhaltes) und das Fundamentale (Beziehung des lernenden Subjektes zum Inhalt) in den Blick gerückt werden (Klafki 2007, 152). Eine individuelle, schülerbezogene Abstimmung zwischen Bildungsinhalt und Lernvoraussetzungen steht im Mittelpunkt und führt zwangsläufig zu einem stark binnendifferenzierten Unterricht. Dieser steht vor der Herausforderung, nicht in Sequenzen der Einzelförderung zu zerfallen, sondern die Balance zwischen individuellen Situationen und einem sozialen Kontext in der gesamten Lerngruppe aufrecht zu erhalten. Die Bedeutung des Klassenunterrichts ist immens, da die damit verbundenen Anregungspotenziale eine zentrale Rolle in der Kommunikations- und Identitätsentwicklung des Einzelnen einnehmen. Dies gilt ebenso für die Anregung durch Kinder ohne Behinderung. Hierzu werden in Zukunft noch verstärkt Forschungsbemühungen – durchaus auch kooperativ aus allgemeinpädagogischen und sonderpädagogischen Blickwinkeln – notwendig sein.

2.2.5 Unterrichtsplanung im gemeinsamen Unterricht

Heterogenität

Um Heterogenität als Bereicherung anzuerkennen, ist es notwendig, sich von normativen Vorstellungen vom ,richtigen‘ Lernweg oder Leistungslevel zu verabschieden. Ziel ist die individuelle Sicht auf die einzelnen Kinder und Jugendlichen mit ihren ganz unterschiedlichen Bedarfen in puncto Anregung und Lernunterstützung. Von der Groeben stellt für das Gelingen der Unterrichtsplanung im gemeinsamen Unterricht die These auf:

„Jeder Unterricht, der die Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler ‚bedienen’ und produktiv aufgreifen soll, muss primär von der Verschiedenheit der Lernwege her gedacht und geplant werden und nicht von normierten Anforderungen ausgehend. Je konsequenter wir das tun, umso eher kann es uns gelingen, alle Schülerinnen und Schüler zu individuellen Bestleistungen zu verhelfen. Anders gesagt: Individualisierung des Lernens mit dem Ziel, dass alle Schülerinnen und Schüler in bestmöglicher Weise gefördert werden, ist kein Gegensatz zur Erfüllung von Leistungsansprüchen, sondern der beste Weg dorthin“ (2008, 28).

In dieser Aussage wird die besondere Bedeutung von Differenzierungsmaßnahmen angesprochen, die zum Erfolg des gemeinsamen Unterrichts führen. Diese werden im Rahmen des bereits beschriebenen Planungsrasters in jedem Schritt relevant. Bezüglich des Bildungsinhaltes können mit Blick auf die jeweilige Lebensbedeutsamkeit für einzelne Schülerinnen und Schüler Schwerpunkte gesetzt werden, zu denen dann im Rahmen der Lernchancen unterschiedliche Leistungsansprüche formuliert werden. Diese wiederum können durch verschiedene methodische Vorgehensweisen unterstützt werden.

Unter Berücksichtigung der folgenden vier Punkte können didaktische Antworten auf die Frage nach der Heterogenität der Lernvoraussetzungen gegeben werden:

● der Inhalt und dessen Vermittlung mithilfe einer geöffneten Methodik,

● die einzelnen Schülerinnen und Schüler,

● die gesamte soziale Lerngruppe,

● die Reflexion der erwarteten Leistungsnorm.

Differenzierung

Um mit der Heterogenität der Lerngruppe sinnvoll umzugehen, sind Maßgaben der inneren Differenzierung sowie der Einsatz geöffneter Unterrichtsmethodik unabdingbar. Neben der Differenzierung ist der Prozess der Individualisierung des Unterrichts von Bedeutung. Dies meint die Abstimmung der Unterrichtsinhalte und methodischen Vorgehensweisen auf den Einzelnen (Eckhart 2010, 135). Die Verschiedenheit der Lernenden erhält dabei eine besondere Bedeutung. Individuelles Planen im Kontext einer Klasse von 30 Schülerinnen und Schülern fordert eine weitreichende Erfassung der Lernvoraussetzungen und wirkt sich sehr positiv für die Lerngruppe aus.

Der Begriff der inneren Differenzierung ist allgemeiner gefasst und kann nach Klafki / Stöcker in zwei verschiedenen Grundformen berücksichtigt werden:

● beim Gleichbleiben der Lernziele werden Differenzierungen der Methoden und Medien vorgenommen,

● Differenzierung der Lernziele und Lerninhalte

(Klafki / Stöcker 1993 zitiert nach Eckhart 2010, 136).

gemeinsamer Bildungsgegenstand

Im Kontext des gemeinsamen Unterrichts ist die zweite Variante notwendig, um der Heterogenität gerecht zu werden. Nach Feuser ist dabei das Lernen am gemeinsamen Gegenstand von besonderer Bedeutung. Seine Forderung lautet: „Jedem alles auf seinem Niveau!“ (1989, 13).

„Es geht also nicht darum, dass ein schwächerer Schüler das kleine Einmaleins und ein leistungsstärkerer das große Einmaleins und noch bessere Bruchrechnen und die besten z. B. das Exponentialrechnen erlernen, sondern es geht darum – und das würde die Didaktik vom Kopf auf die Beine stellen – wie ein Kind unter seinen individuellen Bedingungen auf seinem Entwicklungsniveau die ihm z. B. im Unterricht dargebotene ‚Welt‘ wahrnimmt und repräsentiert. Letzteres hätte die Unterrichtsplanung unter Gesichtspunkten einer entwicklungslogischen Didaktik primär zu leisten. Dabei kann der Unterrichtsgegenstand dann für viele Schüler unterschiedlicher Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen ein gemeinsamer sein“ (1989, 28).

Was meint Feuser? Impliziert ist die Perspektive der Unterrichtsplanung vom schwächsten Schüler aus, um diesen nachher nicht zurückzulassen (1989, 40). Zentral in der entwicklungslogischen Didaktik Feusers ist es, eine Auseinandersetzung mit einem Bildungsinhalt auf verschiedenen kognitiven Ebenen anzubieten (Wahrnehmungsmöglichkeiten, handelnder Umgang, anschaulicher Umgang und die abstrakt-kognitive Erarbeitung).

Diese Grundannahme halten wir nicht nur für den gemeinsamen Unterricht für sinnvoll, sondern für jeglichen Unterricht, an dem Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung teilnehmen. Bestechend an dieser Idee erscheint uns, dass die Bildungsinhalte dahingehend ausgesucht werden, ob diese möglichst einfach mit allen Sinnen wahrgenommen werden können und wenn dies nicht der Fall ist, die Inhalte auch keine Berücksichtigung finden. Vielmehr steht hinter dem Ansatz der Anspruch alle Inhalte passend für verschiedene Lernzugänge zu machen. Darin liegt die Hauptaufgabe und zugleich die inhaltliche Herausforderung des Lehrberufs: Allen Kindern alles lehren, mit ihren jeweiligen individuellen und dominanten Aneignungsmöglichkeiten.

inklusive Fachdidaktik

Neben allgemeinen Kriterien inklusiven Unterrichts gilt es, spezifische fachdidaktische Konzepte auf die Berücksichtigung heterogener Lernausgangslagen hin zu prüfen und weiterzuentwickeln. Im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wurde durch neue Bildungsplänen (z. B. 2003 Bayern / 2009 Baden-Württemberg) die Fächerorientierung gestärkt. In den Fachdidaktiken gilt es, das Bewusstsein für Lernbedürfnisse von Schülerinnen und Schülern mit kognitiven Beeinträchtigungen und passenden methodischen Vorgehensweisen theoretisch fundiert zu entwickeln und im Unterricht auf der Basis fachdidaktischer und sonderpädagogischer Expertise zu realisieren.

Ein Ansatzpunkt hierfür kann die Entwicklung fachdidaktischer inklusiver Kompetenzraster sein (→ Kap. 5.1.3 und → Kap. 3.3 zur Bedeutung der Fachdidaktik).

2.3 Bildung und Lernen

Bildungsbegriff

Der Bildungsbegriff stellt in einer langen Tradition seit Wilhelm von Humboldt das Verhältnis des Individuums zur Welt dar. Durch diesen Begriff wird die Frage beantwortet, wie innerpsychisch mit der Welt draußen bzw. außerhalb des eigenen Bewusstseins umgegangen werden kann. Humboldt vertrat eine Bildungstheorie, die sich dem Ziel einer Ausbildung „der Menschheit als ein Ganzes“ verschrieb (1956, 28 f).

Zentral dabei ist die Vorstellung von der Aneignung der Welt durch das Subjekt. Nach Humboldt bedeutet Bildung für den Menschen „(…) soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“ (von Humboldt 1969, zitiert nach Luhmann 2002, 188 f). Diese Verbindung zwischen Individuum und Welt bildet die Grundlage für den Erwerb neuer Kenntnisse.

Der neuhumanistische Bildungsbegriff beruft sich auf einen Kanon von Inhalten und Wissenswertem, der zur Ausbildung des Individuums dient (Scheef 2009, 162). Im Zuge eines gesellschaftlichen Wandels durch Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse ist jedoch die Forderung nach einem allgemeingültigen Bildungskanon aufgrund potenziell verschiedener Lebensformen, Milieus und Zukunftsvorstellungen nicht mehr haltbar.

Lernen

Im Vergleich zur Erziehung wird Bildung nicht als intentionaler Durchgriff auf den Lernenden verstanden. Bildung gilt eher als ein Angebot. Es wird von der Vorstellung, man könne linear kausal auf einen Lernenden Einfluss nehmen, Abschied genommen. Vielmehr wird Bildung als eine Vielzahl von Anlässen zur Selbstbildung expliziert. Luhmann / Schorr ersetzen in ihren Ausführungen zum Erziehungssystem den Bildungsbegriff durch den Begriff des Lernens (Scheef 2009, 163). Lernen umfasst im Kontext der Systemtheorie nach Luhmann jedoch mehr als das Erlernen von Wissensinhalten, sondern meint die Reflexion darüber, wie man dieses Wissen gut erwerben kann. Bildungsinhalte werden nicht nach ihrem inneren Wert ausgewählt, sondern danach, ob sie eine geeignete Gelegenheit darstellen, das Lernen als grundlegende Fähigkeit zu üben bzw. das Lernen zu lernen (Luhmann 2002, 194).

Ermöglichung von Lernen

Während die reine Reproduktion der Bildungsinhalte geprüft werden kann, ist es schwer nachzuweisen, dass und in welchem Ausmaß Lernen ermöglicht und die Lernfähigkeir gefördert wird. Luhmann beschreibt Lernen als einen innerpsychischen Prozess, der als innere Formbildung definiert wird. Erlebtes wird anhand der bereits erlernten sprachlichen Begriffe verarbeitet und behalten. Daraus bilden sich Strukturen, die durch weitere Lernprozesse wiederum verändert werden können. Auf diese innerpsychische Strukturanpassung kann von außen nur bedingt interpretativ geschlossen werden (Terfloth 2010, 192).

 

„Lernen ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie Informationen dadurch weitreichende Konsequenzen auslösen, daß sie in einem System partielle Strukturänderungen bewirken, ohne dadurch die Selbstidentifikation des Systems zu unterbrechen“ (Luhmann 1984, 158).

Die Begriffe Bildung und Lernen beschreiben demnach den Entwicklungsprozess eines Individuums im Austausch mit der ihn umgebenden Welt, indem das Individuum seine Erkenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten erweitert. Im Kontext geistiger Behinderung wird kein eigenes spezielles Verständnis von Bildung und Lernen entwickelt.

grundsätzliche Annahmen

Vielmehr gelten die grundsätzlichen Annahmen, welche jedoch vor dem Hintergrund der jeweiligen aktuellen Lebenssituation, dem Entwicklungsstand sowie der Biografie der Lernenden individuell betrachtet werden müssen. Welche Aspekte bei der Realisierung dieser Aussage von Bedeutung sind, wird in den folgenden Kapiteln erläutert:

● Lernen als Tätigkeit: Tätigkeit, z. B. in Form von Wahrnehmung, aktivem Tun und kognitiver Verarbeitungsleistung, wird als grundsätzliche Prämisse für die Beschreibung, aber auch als Maßgabe für die Unterstützung von Lernprozessen vorgestellt (→ Kap. 2.3.1).

● Lebenspraxis und Fächerunterricht: Es spielen dabei die Lebenspraxis wie auch der Fachunterricht gleichermaßen eine zentrale Rolle, um Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung eine adäquate und sinnvolle Bildung zu ermöglichen (→ Kap. 2.3.2).

● Schulalltag empirisch beobachtet: Anhand empirischer Untersuchungen soll gezeigt werden, dass im Schulalltag von Schülerinnen und Schülern mit schweren und mehrfachen Behinderungen teilweise noch Handlungsbedarf zur Weiterentwicklung didaktisch-methodischer Konzepte besteht (→ Kap. 2.3.3).

● Bildung mit ForMat: Hier wird ein Ansatz vorgestellt, in dem die Umsetzung des kategorialen Bildungsverständnisses Klafkis für alle Schülerinnen und Schüler methodisch konzipiert wird – unabhängig davon, ob eine Behinderung vorliegt oder wie schwer diese ist (Lamers / Heinen 2006, 2011) (→ Kap. 2.3.4).

2.3.1 Lernen als Tätigkeit

Wie vollzieht sich Lernen? Auf diese Frage sind in der didaktischen Diskussion zahlreiche Antworten formuliert worden, denen ganz unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Strömungen wie z. B. der Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus zugrunde liegen. In der Entwicklung der Reformpädagogik wurde das handlungsbezogene Lernen betont und in Form von unterrichtsmethodischen Ideen kultiviert. Der Ansatz des handlungsorientierten Unterrichts hat sich daraus für alle Schultypen entwickelt.

Kulturhistorische Schule

Inspiriert und geprägt durch das Lernverständnis der Kulturhistorischen Schule (Leontjew 1977 und Wygotski 1993), deren Sichtweisen in Deutschland durch die materialistische Behindertenpädagogik Jantzens und Feusers Eingang in die Geistigbehindertenpädagogik fanden, werden wir im Folgenden den Zusammenhang von Lernen bzw. Aneignung und Tätigkeit darstellen und daraus weitere Ableitungen für die konkrete Unterrichtsplanung treffen. Einerseits geschieht dies mit Blick auf die Lernvoraussetzungen sowie andererseits im Hinblick auf die methodischen Entscheidungen der Lehrperson hinsichtlich der Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten.

Tätigkeit

Menschliches Verhalten lässt sich als Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt beschreiben (Pitsch / Thümmel 2005, 33), mittels derer das Individuum ein inneres Abbild der äußeren Welt, eine eigene Vorstellung von den Gegenständen, Personen und Zusammenhängen entwickelt (Feuser 1989). Dies wird als Prozess der Interiorisation (Verinnerlichung) bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit der personalen und dinglichen Umwelt, die als Lernprozess bzw. im Rahmen der Kulturhistorischen Schule als Aneignung bezeichnet werden kann, setzt die Tätigkeit des Subjekts voraus (Siebert 2011, 26). Der Begriff Tätigsein beschreibt somit „alle Arten der weitestgehend bewussten Wechselwirkung eines Menschen mit seiner Umwelt und mit sich selbst; gesteuert durch ein Motiv“ (Pitsch / Thümmel 2005, 36).

In der Auseinandersetzung mit einer Sache, einem Thema oder einem Menschen werden Wahrnehmungs- und Handlungserfahrungen gemacht, die aktiv verarbeitet werden und die Grundlage und den Motor der Entwicklung kognitiver Strukturen bilden. Aktivität, z. B. in Form der Wahrnehmungsverarbeitung, des konkreten Tuns sowie der gedanklichen Auseinandersetzung, ist ein maßgebliches Merkmal von Tätigsein. Darüber hinaus erfordert eine Tätigkeit – laut Leontjew – im Kindesalter die kulturelle Vermittlung durch einen Erwachsenen und geschieht somit in Kooperation (Pitsch / Thümmel 2005, 109).

Bedürfnisse und Motive

Tätigkeit wird als grundlegendes menschliches Merkmal beschrieben, welche in jedem Menschen – unabhängig von der Schwere der Behinderung – angelegt ist, jedoch der weiteren, sogar lebenslangen Entwicklung bedarf (Pitsch 2002b, 69). Der zentrale Motor für die Aneignung bzw. für den tätigen Lernprozess liegt in den Bedürfnissen und Motiven des jeweiligen Individuums. Gelerntes erlangt eine subjektive Bedeutung für die Person. Angeeignet wird nur das, was für den Lernenden eine Bedeutung hat (Feuser 1989, 28).

Ein weiteres zentrales Moment des tätigen Lernens liegt darin, dass Wissen nicht übertragbar ist, sondern im Kontext des jeweiligen lernenden Systems neu auf der Basis der eigenen Tätigkeitserfahrungen aufgebaut werden muss.

handelndes Lernen

Die Realisierung von längerfristigen Tätigkeiten ereignet sich über Handlungen. Diese wiederum bilden die kleinste Einheit willentlich gesteuerter Tätigkeit (→ Kap. 6.4.2). Jeder Handlung liegt ein Motiv (Nähe, Nahrung, Veränderung etc.) zugrunde, welches eingelöst werden soll (Mühl 1993, 410). Daher lassen sich Handlungen durch einen Anfangs- und Endpunkt begrenzen.

Handlungsorientierter Unterricht: Um dem Prozess des tätigen Lernens auf den Grund zu gehen, ist daher der Blick auf die Handlungskompetenz des Lernenden einerseits und andererseits auf die Möglichkeit von Handlungsfreiräumen, die durch die Lehrperson geschaffen werden, unerlässlich. Diese Sichtweise ist als Unterrichtskonzept und -prinzip nicht neu. Der handlungsorientierte Unterricht (verbunden in den Ursprüngen mit den Namen Rousseau, Pestalozzi, in der Reformpädagogik geprägt von Dewey und in der aktuellen Rezeption von Gudjons 2008) setzt auf die aktiv-handelnde und möglichst selbstbestimmte Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit dem jeweiligen Thema und somit auch auf die Erweiterung deren Handlungskompetenzen.

Handlungsbezogener Unterricht: Innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik hat Mühl ab 1986 den handlungsbezogenen Unterricht geprägt, dessen Anspruch – im Vergleich zum handlungsorientierten Unterricht – an die Handlungsplanung, die vornehmlich von der Lehrperson durchgeführt werden soll, reduziert wurde. Als Grund dafür führt er die verminderte Selbsteinschätzung und die eingeschränkte Fähigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung an, Handlungen zu planen, zukünftige Ziele zu antizipieren und sich von Stereotypien zu lösen etc. (1993, 414). Mühl übernimmt somit die dem handlungsorientierten Unterricht immanente Gliederung: Ausgangs- und Problemstellung, Formulierung eines Handlungsziels und Planung der dazu notwendigen Schritte, Durchführung der Handlung bzw. Problemlösung sowie Kontrolle, ob das Ausgangsziel erreicht wurde. Dennoch liegt in seinem Ansatz des handlungsbezogenen Unterrichts die Verantwortung dafür hauptsächlich bei der Lehrperson. Die Schülerinnen und Schüler sollen die einzelnen Schritte kennenlernen und nachvollziehen, eine selbstverantwortete Übernahme hält er für unwahrscheinlich.

Auch mit Blick auf Schülerinnen und Schüler mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung halten wir es für sinnvoll, die einzelnen Phasen einer Handlung bewusst zu machen und sie daran teilhaben zu lassen. In diesem Kontext finden wir es auch unabdingbar, die Hilfestellungen der Lehrperson bezüglich der Unterstützung von Handlungen im Unterricht immer wieder zu hinterfragen und, wenn möglich, systematisch auszublenden, um den Lernenden aktuell oder perspektivisch die Möglichkeit zu bieten, selbstverantwortlich zu handeln.

Handlungsbezug im Unterricht

Für die Unterrichtsplanung lässt sich daraus folgern:

● Im Unterricht müssen vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten durch unterschiedliche Tätigkeitsformen und Handlungsmöglichkeiten angeboten werden.

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