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Kevin hielt sich schützend beide Hände vor die Nase und ging auf dem Beifahrersitz in Deckung.

„Meine Großeltern sind in jungen Jahren hierher ausgewandert, waren aber nach Mexiko zurückgekehrt als die Nazis begonnen hatten, ihr Drittes Reich zu gründen, sagen wir mal so. Meine Eltern zogen mich und meine Schwester Lucìa spanisch auf, unsere Großeltern sprachen Deutsch mit uns. Lucìa hat sogar Deutsch und Spanisch studiert und ist Lehrerin geworden. Nur ich war zu doof um diese grandiose Grundlage beruflich zu nutzen. Ich bin eben ein burro estùpido, ein dummer Esel.“

„Die meisten von uns sind froh, dass du ein burro estùpido bist. Wer weiß, wen sie uns sonst als Boss vor die Nase gesetzt hätten. Vielleicht den launischen Friedman von der Sitte, der auf jeden Chefsessel so scharf ist wie eine Schlange auf eine fette Ratte. Oder diese altbackene Klaringer, die eine ganze Minute braucht um eine Antwort auf eine noch so simple Frage zu geben. Oder…“

„Ruhe!“, unterbrach ihn Rodrigo schroff und drehte das Autoradio um einige Stufen lauter.

„Die Vierunddreißigjährige wurde gestern am frühen Vormittag auf offener Straße in einen weißen Lieferwagen unbekannter Marke gezerrt und seither fehlt von ihr jede Spur. Falls jemand den Vorfall beobachtet hat und von der Polizei noch nicht vernommen wurde, der möge sich bitte dringend bei der nächsten Polizeidienststelle oder unter der Nummer 0555/23896 melden. Und nun zum Wetter. Die Aussichten für…“

Rodrigo drehte wieder leiser und nickte zufrieden. Er hatte den kurzen Text gestern an die interne Pressestelle weitergegeben um noch weitere potenzielle Zeugen zu gewinnen. Irgendjemand sieht immer irgendetwas…

Kevin sah Rodrigo skeptisch an. „Jetzt werden sich wieder die ganz Wichtigen melden und dem Telefondienst die Zeit stehlen“, seufzte er. Rodrigo zuckte mit den Achseln, entgegnete aber nichts. Kevin war mit seinen zweiunddreißig Jahren lang genug bei seiner Truppe um zu wissen, wie es für gewöhnlich lief und dass die meisten Anstrengungen umsonst waren.

5

Bell Springer lag auf dem kahlen Boden eines kleinen Raumes. Es roch ziemlich muffig und vielleicht auch nach Mäuseköttel. Sie hatte bislang noch nie die Exkremente von Mäusen gerochen, stellte sich aber vor, dass sie so riechen könnten. Schwaches Licht drang durch den großen Türspalt hindurch, aber sie konnte nicht sagen, ob es sich dabei um Tageslicht oder um künstliches Licht handelte. Mittlerweile hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.

Die Zeit in diesem winzigen Raum, dessen Wände stets näher auf sie zu rückten und sie irgendwann zwischen sich zerquetschen würden, kam ihr endlos vor. Und doch hatte sie das Gefühl, als wäre sie erst vor kurzem hier gelandet. Ihre blutigen Finger pochten schmerzhaft im Takt ihres Herzens. Sie war so naiv gewesen zu glauben, sie könnte sich mit bloßen Fingernägeln durch den Beton direkt neben der etwas angerosteten Stahltür graben. Der Beton war unversehrt, doch ihre Fingernägel waren bis tief hinein ins Nagelbett eingerissen und pochten nun unablässig schmerzhaft im Takt ihres Herzschlags. Sie hatte geblutet und dennoch versucht, ein paar kleine Steinchen aus dem harten Beton zu lösen; doch ohne jeden Erfolg.

Noch dazu hatte sie sich ihren rechten Fußknöchel verstaucht, als sie unablässig gegen die Tür unter dem Türknopf getreten hatte. Auch hier hatte sie gehofft, dass das verrostete Eisen leicht nachgeben würde und sie sich einen Weg ins Freie verschaffen könnte. Doch sowohl die Mauer als auch die Tür hielten ihren ohnmächtigen und aussichtslosen Versuchen stand.

Die Aufregung der Entführung, die Auflehnung gegen die starken Arme, die sie ins Auto gezogen und auf den Boden gedrückt hatten, das sinnlose Betteln um Freilassung, die verzweifelten Schreie in ihrem Gefängnis, die heftigen Wein- und Heulkrämpfe, das Hadern mit ihrem Schicksal und die enorme körperliche Anstrengung ihrer erfolglosen Ausbruchsversuche hatten ihr jegliche Energie geraubt. Sie brauchte jetzt dringend Wärme, zärtliche Geborgenheit, vertrauensvolle Sicherheit, etwas zu Essen und zu Trinken. Doch alles, was sie tatsächlich bekam, waren Einsamkeit und eine furchtbare Stille, die sie schon jetzt nicht mehr ertragen konnte.

Während sie in ihrer einsamen Zelle tobte und wütete, hatte sie nicht nach dem Grund ihrer Entführung gefragt. Doch jetzt, völlig erschöpft, verschwitzt, verschmutzt, mutlos, hungrig und durstig begann sie sich zu fragen, ob sie überhaupt die richtige Person war, die hier schmorte. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, hatte kein Geld, keinen Besitz, keinen Einfluss auf die Politik, Wirtschaft oder andere Personen. Als Sexsklavin war sie mit ihren achtunddreißig Jahren auch nicht mehr zu gebrauchen, dafür gab es viel jüngere, hübschere, schlankere und aufreizendere Frauen als sie. Sie war ein Niemand, die es nicht wert war, das Risiko einer Entführung auf sich zu nehmen.

Sie sehnte sich nach Toby, ihrem besten Freund und Ehemann, der sie zwar seit zwei Jahren nicht mehr im Arm gehalten hatte, aber auf den sie sich nach wie vor felsenfest verlassen konnte. Er war immer für sie da, solange es sich nicht um ein sexuelles Thema handelte. Doch in diesem Fall würde auch er nichts unternehmen können, um ihr Wohlbefinden zu steigern oder sie aus ihrem Gefängnis befreien zu können. Er würde zu Hause in sämtlichen Zimmern herumlaufen; panisch, nervlich am Ende, Gott bittend, ihm Versprechen abgebend, obwohl er nie ein gläubiger Mensch war und sich nötigenfalls auch mit dem Teufel einlassen, nur um ihr beschützend und helfend zur Seite zu stehen. Aber der Teufel würde garantiert keinen Deal mit ihm eingehen, denn sein Stellvertreter hatte sich Bell geschnappt und würde sie auch nicht unbeschadet aus seinen Fängen lassen.

6

Nelson-Mandela-Straße, 11 Uhr. Der Verkehrsfluss ist ruhig, keine Besonderheiten auf der Straße oder in den zahlreichen Wohnanlagen. Eine ältere Dame schlendert gemächlich auf dem Gehweg dahin, ihre Einkaufstasche in der linken Ellenbeuge. Sie geht gerne einkaufen, denn dann ist sie nicht allein und einsam in ihrer leeren Zweizimmerwohnung. Vor sich sieht sie einen Einkaufswagen, der quer über dem Gehsteig steht und nur links davon einen schmalen Streifen zum Vorübergehen freilässt. Sie würde ihn der Länge nach hinstellen müssen, um besser daran vorbei zu kommen. Sie fixiert das Hindernis vor sich und beobachtet aus dem Augenwinkel einen Mann, der nur noch wenige Meter bis an den Punkt X hat. Der Mann vor ihr greift jedoch nicht wie erwartet zum Einkaufswagen um ihn aus dem Weg zu räumen, sondern geht einfach links an ihm vorbei, steigt aber nicht auf die Straße hinunter. Nun fixiert sie ihn und grollt ein wenig, weil er ihr die Arbeit überlassen hatte. Doch in genau diesem Moment fährt ein weißer Lieferwagen dicht an den Gehsteig, die Tür schiebt sich mit einem lauten Rollgeräusch nach hinten auf. Ein großer Mann, ganz in schwarz gekleidet, setzt ein Bein hinter den Mann auf dem Gehsteig, packt ihn am Brustkorb und wirft ihn mehr oder minder in den Wagen. Noch während der Fußgänger ins Innere fliegt, schert der Kleintransporter aus und fädelt sich wieder in den losen Verkehr ein. Die ältere Dame hört keine quietschenden Reifen, sondern nur noch das leise, metallene Geräusch der Seitentür, die kraftvoll geschlossen wird.

Sie bleibt stehen, achtet weder auf den Einkaufswagen auf dem Weg noch auf ihre volle Einkaufstasche, die ihr vom Ellbogen gleitet und auf den Gehweg fällt. Der Joghurtbecher platzt im Inneren auf, doch auch das registriert sie noch nicht. Sie sieht nur, dass sich der Lieferwagen im gemäßigten Tempo von ihr entfernt und auf den Kreisverkehr zuhält.

Da beginnt sie zu schreien, rudert mit den Armen und muss sich am Zaun festhalten, um nicht umzukippen. „Hilfe! Entführung! Ruft die Polizei! Himmel, da wird gerade ein Mann entführt! So helft ihm doch!“

Eine junge Frau schießt mit ihrem Kinderwagen aus dem Spielplatz heraus direkt auf die alte Dame zu. Sie hat bereits ihr Handy gezückt und den Notruf gewählt.

„Sind sie sicher?“, fragt sie hektisch und viel zu laut. Die zitternde Dame am Gartenzaun nickt heftig. „Ja, aber ja doch!“, ruft sie aus. Das Adrenalin pumpt beinahe pur in ihren Adern und lässt sie heftig keuchen.

Innerhalb nur weniger Sekunden strömen Menschenmassen aus den Kaufhäusern, den Wohnungen und dem Bürogebäude, um die Entführung live mit zu erleben. Doch sie kommen genauso zu spät wie die alarmierte Polizei. Sie sehen nur noch die ältere Dame, die jemand auf den umgedrehten Einkaufswagen gesetzt hat, damit sie nicht umkippt. Ein junger Mann mit langer Schürze trabt mit einem Glas zuckerhältigen Limonade aus der Bar und reicht es ihr. „Das wird Ihnen guttun. Trinken Sie!“, forderte er die Dame auf und sie setzte ihre faltigen, leicht zitternden Lippen an den Rand des Glases.

Kurz danach ist der Tatort abgesperrt, die Spurensicherung verständigt und die Dame auf dem Weg zum örtlichen Polizeirevier. Die Schaulustigen werden gebeten, sich zu melden, wenn sie irgendetwas gesehen oder gehört haben oder wieder zu gehen, wenn sie keinen Beitrag zur Klärung des Falls leisten können. Wenige Stunden später ist der Tatort wieder ein ganz normaler Gehweg neben einer ganz normalen Straße und einem ganz normalen Zaun. Nur das Leben des entführten Mannes hat sich soeben schlagartig geändert.

7

Rodrigo lenkte den Dienstwagen auf den Parkplatz vor dem Dezernat und ärgerte sich, weil er wieder in der letzten Reihe parken musste. All die anderen Parkplätze waren bereits besetzt und er hatte trotz mehrerer Ansuchen bislang noch keinen personalisierten ergattert. Der oberste Boss meinte bei meiner letzten Anfrage lachend, dass er sich durch den täglichen Fußmarsch von gut zwölf Metern bis zum Polizeirevier fit halten könne; er solle es doch positiv sehen! Rodrigo betrieb Sport, ja, natürlich. Er lief zweimal die Woche rund eine ganze Stunde, spielte zweimal im Monat eine Stunde Squash und er schwamm zumindest einmal pro Woche eine Stunde. Auf diese Weise hielt er sich zumindest so fit, dass er einem Flüchtigen gut folgen konnte. Es sei denn, derjenige war ein junger Sprinter, was aber ohnehin sehr selten vorkam. Die meisten Entführer und Einbrecher waren nicht sonderlich gut zu Fuß unterwegs und kämpften meist schon nach wenigen hundert Metern mit der Luft und Seitenstechen. Deshalb sagte Rodrigo immer scherzhaft, dass man die sportlichen Verdächtigen eher hintanstellen könne.

 

Als er seinen Fuß auf die erste Stufe stellte, klingelte sein Handy und gleichzeitig rief jemand aus dem ersten Stock beim Fenster hinaus. Es war der oberste Boss, dessen Stimme unverkennbar über den Parkplatz donnerte. „Ein bisschen mehr Einsatz, wenn ich bitten darf! Hopp, hopp!“ Dann lachte er und zog schnell seinen Kopf vom Fenster zurück.

Rodrigo sah Kevin an, verzog sein Gesicht und schüttelte kaum vernehmbar den Kopf. Kevin zuckte die Schultern und betrat hinter ihm das Gebäude. Am Handydisplay erschien die Nummer seines Chefs und ihm wurde klar, was er mit seinem Ruf gerade gemeint hatte. Beeilung, pronto, ràpido! Es musste wirklich dringend sein, also nahmen die beiden Polizisten immer zwei Stufen auf einmal und liefen den Gang entlang bis zum Besprechungszimmer.

Wie erwartet hatten sich dort bereits alle zur Verfügung stehenden Beamten versammelt und sahen Rodrigo erwartungsvoll an. Rasch ließ er seinen Blick durch die Runde schweifen und auf Ralf Penz, dem grauhaarigen Oberboss liegen.

„Wir haben gerade die Meldung über eine weitere Entführung von der Stadtpolizei erhalten. Ein Mann um die vierzig wurde vor einer knappen viertel Stunde in der Nelson-Mandela-Straße 11 in einen weißen Lieferwagen gezerrt. Ganz unspektakulär. Tür auf, Mann rein, Tür zu. Und weg war der Wagen mit einem zusätzlichen und vor allem unfreiwilligen Passagier mehr an Board. Eine Zeugin, die mit ihrem Kinderwagen im Park unterwegs war, hat die Polizei verständig. Dieses Mal gibt mehrere Zeugen und einer von ihnen kennt sogar die entführte Person; zumindest vom Namen her.“

Er ließ seine Worte etwas wirken, sodass jeder auch wirklich begreifen konnte, was geschehen war. Er wusste, dass er seine Leute nicht mit einem gewaltigen Informationsfluss zumüllen durfte, auch wenn er noch Kenntnis von etlichen Details mehr hatte.

Rodrigo stieß hörbar die Luft aus. „Natalie Springer und er haben den gleichen Entführer?“, sagte er mehr als er fragte, denn für ihn lag diese Tatsache eigentlich schon auf der Hand. Ralf Penz nickte. „Es sieht zumindest ganz so aus, im Moment spricht alles dafür. Deshalb bekommst du auch diesen Fall. Ich möchte keine Paralleluntersuchungen von einem anderen Team laufen lassen. Dabei kommt ihr euch nur in die Quere und dass mit dir nicht gut Kirschen essen ist, wenn es um Ermittlungen geht, weiß nicht nur das gesamte Universum, sondern auch noch jede einzelne Gottheit außerhalb.“

Die Truppe lachte und Rodrigo zielte mit seiner zu einer Pistole geformten Hand auf den Oberboss.

Einer der Gründe, weshalb Ralf Penz den großgewachsenen Mexikaner als Abteilungschef eingesetzt hatte, war dessen lockerer Umgang mit den Mitarbeitern. Penz setzte auf einen legeren, lockeren, vertrauensvollen, intensiven Umgang miteinander und dafür war Rodrigo genau der richtige Mann. Eine Frau eignete sich dafür keinesfalls; zumindest kannte er nicht eine einzige legere, lockere Frau. Und falls er jemals eine kennen lernen würde, so gäbe er auf der Stelle sein Junggesellenleben auf.

Rodrigo stand auf und stellte sich vors Whiteboard, auf dem die Daten von Natalie Isabell Springer in roten Lettern prangten.

„Danke, wir werden diesen Fall mit links lösen. Du kannst das andere Team in den Urlaub schicken“, witzelte er, lachte dabei jedoch nicht. Seine Gedanken waren bereits bei der zweiten Entführung.

„Wir wiederholen unsere Arbeit genau so, wie sie der Täter wiederholt hat. Jeder von euch kennt seinen Aufgabenbereich und jeder weiß, dass er auch hier sein Bestes geben muss. Wenn wir den Fall innerhalb einer Woche lösen, gebe ich einen aus.“

Die Kollegen applaudierten, standen währenddessen auf und gesellten sich zu ihren kleinen Einheiten, die sie bereits zur Auffindung von Bell gebildet hatten. Ohne zurückzublicken verließen sie den kleinen Besprechungsraum, denn sie waren schon völlig in ihren neuen Fall vertieft.

Rodrigo war auch schon im Türrahmen, als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte. Ralf sah ihn aus müden Augen an und seufzte. „Wird das jetzt so weitergehen? Müssen wir uns alle zwei Tage um eine neue Entführung kümmern? Wie siehst du das? Ich habe so etwas von anderen Dezernaten noch nie gehört und auch selbst noch nicht erlebt.“

Rodrigo sah ihm tief in die Augen, als ob er darin die Lösung finden könnte.

„Es tut mir echt leid, aber ich kann derzeit noch gar nichts sagen. Ich fühle zu dem Fall noch nichts, denke noch nicht an übermorgen und spiele auch noch nicht mit einem Täterprofil. Zuerst muss ich etwas über den Mann wissen, dann können wir uns gerne darüber unterhalten. Aber fang schon mal zu beten an, dass wir bei den beiden eine gemeinsame Grundlage finden, die außergewöhnlich und eine Entführung wert ist.“

Ralf nickte und steuerte sein Büro an. Fälle weit jenseits der Routine bereiteten ihm seit jeher grauenvolle Magenschmerzen. Er war schon viel zu alt und viel zu ausgebrannt, um sich noch solchen Herausforderungen zu stellen. Mit einem weiteren Seufzen ließ er sich in seinem Drehstuhl nieder und starrte den Kunstdruck von Salvador Dalí an der Wand an. Es war eine gute Entscheidung, auch diesen Fall Rodrigo zu überlassen, dachte er und widmete sich wieder seinem Bericht.

Rodrigo steuerte die für die Erstaufnahme der Entführung zuständige Polizeidienst-stelle an und parkte seinen Wagen frech auf dem reservierten Parkplatz des zuständigen Kommandanten. Niemand konnte ihm deshalb etwas anhaben, denn hierher kam er vermutlich nicht so rasch wieder. Er wies sich vor der Tür an der Kamera aus und ließ sich direkt zur Hauptzeugin in den Vernehmungsraum, der eigentlich ein recht kleiner Pausenraum des Personals war, bringen. Sie saß eingeschüchtert vor einer Tasse Kaffee, umklammerte die Henkel ihrer Handtasche, die sie auf dem Schoß stehen hatte und zuckte leicht zusammen, als sie Rodrigo durch den Türrahmen treten sah. Seine Statur schien ihr Angst einzuflößen, obwohl er sie noch im Türrahmen breit anlächelte. Er schätzte sie auf Mitte bis Ende sechzig, pensioniert, alleinstehend in einer kleinen Mietwohnung und auf kurze Gespräche auf der Straße angewiesen. Sie machte den Eindruck, als hätte sie in ihrem nun doch schon recht langen Leben noch nicht vieles gesehen, das von der Norm abwichen war; und dann rückte das Schicksal gleich mit einer Entführung in nächster Nähe an. Das nannte man echt die Härte des Lebens.

In dem kurzen Vorgespräch bestätigte die ältere Dame ziemlich genau Rodrigos Einschätzung ihre Person betreffend. Etwas triumphierend lächelte er und kam dann auf den Vorfall direkt zu sprechen.

„Ich bin da der Straße lang gegangen, nich? Und da war der junge Mann da vor mir. Er is links direkt am Ende vom Gehsteig gegangen, nich? Weil da is so ein Einkaufswagen von dem Supermarkt quer übern Gehsteig gestand und der Mann ist nach links ausgewichen, ging ja so auch gar nich anders. Und dann kommt da so‘n Auto, ein großer Wagen, so ein Kastenwagen, reißt die Seitentür auf, die geht so nach hinten auf, nich? Und zieht den armen Kerl mit einem Satz hinein. Der Wagen fährt los, die Tür knallt zu und das wars auch schon. Aus die Maus.“

Sie sah ihn mit großen Augen erwartungsvoll an. „Erkannt hab ich so niemanden und der Mann in dem Wagen der war total ganz schwarz angezogen. Auch die Haube war so schwarz und der Rollkragen bis zur Nase hochgezogen, nich? Da war nur‘n kleiner Spalt Haut frei aber die war weiß. Aber so richtig weiß. Hellweiß, sie kapieren, nich?“

Rodrigo nickte zufrieden. Es handelte sich ganz offensichtlich um denselben Täter, davon konnten sie jetzt ausgehen.

Er bedankte sich für ihre Kooperation und zollte ihr für ihre grandiose Beobachtungsgabe aufrichtigen Respekt. „Ach“, winkte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Ich hab zwei Kinder großgezogen und alle zwei beide sind Autisten. Da lernt man, so auf alles achtzugeben, nich? War eine harte Schule aber ich liebe die beiden alten Deppen noch immer. Sind ja doch meine Jungs und bleiben auch meine, nich?“ Sie zwinkerte ihm zu. Nun war sie nicht mehr die verschüchterte ältere Dame. Jetzt zeigte sie eine Menge an Selbstbewusstsein, das sie für ihre Kinder immer haben musste.

Rodrigo unterhielt sich noch kurz mit ihr, doch es war nichts mehr zu holen. Sie hatte alles erzählt, was sie wusste.

Der Mann, der den Namen des Entführten kannte, wartete im Vorraum und wurde noch in den Pausenraum geführt, ehe die Dame weg war. Die beiden sahen einander an, kannten sich aber offensichtlich nicht. Die Polizisten waren offensichtlich nur noch darauf aus, die Vernehmung hinter sich bringen und wieder unter sich sein. Einen Fremden in ihrem Polizeiposten zu haben, war ihnen unangenehm, denn er störte die Routine, die sie allesamt heiß liebten.

„Der Mann heißt Mike Cooper und arbeitet als Security bei Held & Partner, bei dieser Anwaltskanzlei in der Nelson-Mandela-Straße. Ich liefere dort immer Pakete aus und wir haben hin und wieder ein paar Worte miteinander gequatscht. Die ganzen Securities dort tragen Schilder mit dem vollen Namen drauf und meine Schwägerin Emilie ist auch eine geborene Cooper, deshalb habe ich mir den Namen gemerkt. Sind aber nicht miteinander verwandt die zwei.“

Der Mann sah Rodrigo an, als würde er für diese Auskunft einen fetten Orden erwarten.

„Worüber haben sie beide denn gesprochen, wenn Sie die Pakete ausgeliefert hatten?“, wollte er wissen und notierte sich erst jetzt den Namen des mutmaßlich Entführten.

„Ach, wir haben einfach nur so gequatscht. Übers Wetter, die miesen Löhne, Urlaube und hin und wieder über Sport, wenn es etwas Erwähnenswertes gab. Wie gesagt, kenne ich ihn nicht wirklich, aber er war immer nett und hat mir hin und wieder sogar ein paar Pakete in die Halle getragen, damit ich nicht zweimal laufen musste. Eigentlich ein feiner Kerl, der Mike.“

Rodrigo notierte ein paar Stichworte und fragte, ohne den Mann anzusehen: „Hat er vielleicht auch einmal etwas völlig Ungewöhnliches erzählt? Von einem fetten Lottogewinn, dass ihm eine berühmte Persönlichkeit nahestand? Ein Politiker, ein Schauspieler, ein Wissenschaftler, ein Firmenboss oder sonst jemand?“

Der Mann starrte an die Decke und dachte lange nach. „Nein, so etwas hat er nie erwähnt. Und ich glaube kaum, dass er solche Bekannte hatte, sonst wäre er nicht an der Tür vor der Anwaltskanzlei gestanden. Die hohen Tiere haben doch immer einen Job für ihre Verwandten oder Freunde, wo unsereins gar nicht hinkommt.“

Rodrigo nickte zustimmend und stellte noch einige unbedeutendere Fragen, doch der Mann hatte bereits alles erzählt, was er wusste. Diese Quelle war schon eindeutig versiegt, noch bevor sie gesprudelt hatte. Rodrigo war das gewohnt und somit bohrte er nicht mehr weiter.

Nachdem er sich bedankt und ihn nach Hause geschickt hatte, blieb er noch kurz in dem kleinen Raum und rieb sich mit den Handflächen übers Gesicht. Er fühlte sich ein wenig frustriert, müde, kraft- und auch mutlos. Doch schon bald streckte einer der diensthabenden Polizisten und sah ihn mit trauriger Miene an „Tut mir leid, aber die Fahndung ist bis jetzt ergebnislos verlaufen. Der weiße Transporter mit der mutmaßlich entführten Person ist weg, wir konnten bis jetzt nicht die geringste Spur finden. Aber vielleicht bringen die Straßensperren etwas, die vor allen Ausfahrten errichtet wurden. Alles andere müssen jetzt Sie veranlassen.“

Rodrigo sah den jungen Polizisten prüfend an und fragte sich, ob er jetzt richtig gehört hatte. „War das jetzt eine Aufforderung ihrerseits, meine Arbeit zu tun? Wollten Sie mir gerade Vorschriften machen, wie ich meinen Job zu erledigen habe?“, keifte er den Beamten an und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

Der Polizist streckte ihm beschwichtigend die leeren Handflächen entgegen, zog sofort instinktiv schützend den Kopf ein und ging als Zeichen seiner Unterwerfung ein wenig in die Knie.

 

„Nein, auf gar keinen Fall!“, verteidigte er sich kleinlaut. „Ich wollte damit nur sagen, dass wir getan haben, was wir konnten und alles andere in Ihrem Zuständigkeitsbereich liegt. Dass Sie der Fachmann für die beiden Entführungen sind und an unsere Arbeit anknüpfen können, weil wir nichts mehr dazu beitragen können.“

Rodrigo nickte und sah ein, dass er überreagiert hatte. „Ist in Ordnung, ich habe es falsch aufgefasst. Entschuldigen Sie bitte meinen Ausbruch.“

Der Polizist lächelte nur schwach und war echt froh, dass der riesige Kriminalbeamte sein Revier verließ und er unbeschadet davongekommen war. Gleich darauf tippte er die Protokolle der beiden Zeugen, damit er sie von ihnen unterschreiben lassen konnte und wieder Ruhe in seiner Dienststelle einkehrte. Er konnte den Rummel nicht leiden und hasste es, wenn fremde Menschen in seinen Dienstbereich eindrangen.

Rodrigo saß noch eine ganze Weile vor der Polizeidienststelle im Wagen und starrte vor sich hin. Zwei Entführungen innerhalb von lediglich drei Tagen nach genau dem gleichen Schema und mit dem gleichen Fahrzeug. Die beiden Opfer mussten eine signifikante Gemeinsamkeit haben und genau diese galt es nun so schnell als möglich herauszufinden.

Nach etlichen Minuten riss er sich aus dem nie versiegenden Gedankenstrom und rief kurzerhand den Kriminalpsychologen an, ohne sich mit den üblichen Begrüßungsfloskeln aufzuhalten. „Hast du schon mit der Familie von Cooper gesprochen?“, fragte er ohne Begrüßungsfloskeln. Diese ersparte er sich meist, da sie wirklich völlig unnötig waren, wenn man jemanden erst vor einer Stunde gesehen hatte. Er war der Ansicht, dass eine einzige Begrüßung für den ganzen Tag zählte und auch völlig ausreichte.

„Ja, hab‘ ich, aber viel konnte ich nicht in Erfahrung bringen Er ist ledig, hat keine Kinder, keine Freundin und so weit ich bis jetzt recherchieren konnte, auch keine näheren Freunde. Nur Arbeitskollegen und eher oberflächliche Bekannte. Für mich war nicht wirklich etwas zu holen, damit fange ich nichts an. Tut mir leid, aber das reicht für eine Analyse absolut nicht aus. Aber ich kann vielleicht aus den Ergebnissen der Kollegen etwas herauslesen, mal sehen. Wie sieht’s bei dir aus?“

„Ich hab‘ so viel wie du, fahre jetzt aber zur Kanzlei Held & Partner um den Sicherheitschef zu befragen. Wir sehen uns.“

Damit legte er auf und lenkte den Wagen in gemäßigtem Tempo zum Arbeitgeber des Opfers. Er wollte noch etwas Zeit haben, um sich auf das Gespräch vorzubereiten. Er wusste, dass solche Gespräche weniger gut liefen, wenn er gestresst war.

Am weitläufigen Empfangstresen legte er seinen Dienstausweis vor und verlangte mit dem Personalchef sowie mit dem Chef der Security zu sprechen. Einen Anruf später wurde er in den neunten Stock verwiesen, wo er bereits am Aufzug von den beiden Männern in Empfang genommen wurde. In ihren Gesichtern konnte er nicht nur Überraschung, sondern auch eine gewisse Furcht, vor allem aber Anspannung sehen. Sie schienen etwas auf dem Kerbholz zu haben, weshalb er sich Hans Gruber an seiner Seite wünschte.

Er entschuldigte sich, wählte die Nummer des Psychologen und sagte nur: „Es wird etwas später“, dann legte er auf und sah den beiden mit einem strahlenden Lächeln ins Gesicht.

Der Psychologe ließ alles liegen und stehen und machte sich im Höllentempo auf zum Gebäudekomplex, in dem Rodrigo mit der Befragung auf ihn wartete. ‚Es wird etwas später’ war der interne Code für ‚Schwing deinen Hintern zu mir, und zwar so rasch als möglich!’

Da der Verkehr ziemlich flüssig war, kam der Psychologe schon nach knapp zehn Minuten an den Empfangstresen gehetzt und fragte nach dem Chef der Security. Er wurde ebenfalls in den neunten Stock gebeten.

Rodrigo hielt die beiden Männer bis zum Eintreffen seines Kollegen mit oberflächlichen, nicht verwertbaren Fragen hin, lobte das teure Interieur, interessierte sich für die Arbeit der Firma und versicherte, dass der Job eines Securitys sehr anspruchsvoll sei.

Als Hans kam, überließ er ihm zum Großteil die Gesprächsführung und speicherte die Informationen vorerst nur in seinem Kopf. Er würde im Anschluss an dieses Gespräch nicht nur das Protokoll schreiben, sondern auch noch Ergebnisse herausholen müssen. Er musste die beiden Entführten finden und zwar so rasch als möglich. Ralf Penz, sein Oberboss, machte ihm schon jetzt ziemlich Feuer unterm Hintern.

Doch der Einsatz bei den Rechtsverdrehern war ein Schlag ins Wasser. Hans vermutete, dass die beiden durchaus etwas mit Unterschlagung oder mit sonstigen finanziellen Ungereimtheiten zu hatten, aber nichts mit der Entführung. Mike wurde als sehr zuverlässiger, ruhiger, pünktlicher, gepflegter Mann beschrieben, der einen sehr guten Umgang mit den Kunden der Firma und mit seinen Kollegen pflegte. Er war stets korrekt, verschwiegen und behielt selbst in prekären Situationen den Überblick und einen kühlen Kopf. Sie hatten auch keine Ahnung von seiner Entführung und somit waren sie für die Ermittlungen wertlos.

Nachdem sich die beiden Kommissare verabschiedet hatten, fuhren sie ins Dezernat, um ihre dürftigen Erkenntnisse mit den anderen Kollegen zu teilen.

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