Winkelsee

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Hubert von Grüneburg, der Hausherr, eilte von der Türschwelle mit schnellen Schritten auf sie zu. Er war ebenfalls edel gekleidet, etwas kleiner als die beiden anderen und wohlbeleibt. Sein freundliches Gesicht mit wachen Augen verlieh ihm große Präsenz.

Mit fröhlicher lauter Stimme wendete er sich an Matthias: „Ich hab’s gesehen, du willst mir wieder meinen besten Knecht abwerben. Sei mir trotzdem willkommen.“

Sie umarmten sich.

Matthias erhob seinen Zeigefinger mit gespielt ernster Miene: „Es ist nicht recht, Hubertus, dass du immer so ein Glück hast, sowohl mit deinen Leuten als auch mit deinen Geschäften. Ich hab’ den Eindruck, die ganze Welt will mit dir Handel treiben. Und dann noch dieser Stallknecht, der das Französische beherrscht!“

„Die Pferde mögen das. Vielleicht ist es das Geheimnis, warum sie ihn so lieben“, meinte der Hausherr und wendete sich um: „Ich grüße dich, Markus.“

Sie schüttelten sich die Hände.

Hubertus strahlte: „Schön, dass ihr da seid. Diese Jagd muss besonders gut organisiert werden. Lord Malcolm ist aus London gekommen, ein ganz großer Fisch. Er hat die größte Papiermühle in England. Und wenn wir hier jetzt etwas brauchen, dann ist es Papier! Es ist die neue Zeit. Egenolff will ganze Bibliotheken von Büchern drucken! Wir müssen einfach mit dem Lord ins Geschäft kommen!“

Matthias wurde lebhaft: „Das sehe ich ganz genauso. Auch Justinians Lateinschule braucht Bücher und Schreibpapier! Ich habe ihm mein Wort gegeben, dass wir mit dem Engländer handelseinig werden.“

Hubertus grinste amüsiert: „Sonst müssen sie eben wieder in Steintafeln ritzen oder zum Papyrus greifen. Kommt, lasst uns ins Haus gehen!“

Sie schritten beschwingt durch das Portal des Palais.

In diesem Moment trat Hans aus dem Stall. Er sah ihnen nach. Dann wanderte sein Blick an der Fassade des gegenüberliegenden Trakts hoch. Am Fenster erschien das Gesicht einer vornehmen Dame. Gloria, die junge Gattin von Hubertus, schaute hinunter zu Hans und nickte fast unmerklich. Hans blickte sich verstohlen um, überquerte den Hof und lief hinüber zu dem Gebäude.

Markus kehrte zurück aus dem Haus, sah sich suchend um, bemerkte Hans und folgte ihm unauffällig. Hans schritt zu einer Tür, die einen Spalt weit geöffnet war und betrat das Haus. Markus hatte sich hinter einer Säule versteckt und beobachtete ihn.

Er schüttelte den Kopf: „Mistkerl“, dachte er.

Aus dem Hintergrund hörte er Matthias’ heitere Stimme: „Markus, wo bleibst du denn! Der Wein wird warm und der Braten kalt!“

Er drehte den Kopf und rief: „Ich komme, Vater, ich hatte nur etwas liegen lassen!“ Er lief los, hob eine Satteltasche vom Boden auf und begab sich ins Haupthaus.

Hinter einer anderen Säule, unbemerkt von den anderen, stand ein weiterer Mann, Anton, der Gehilfe des Oberförsters.

Mit vorgerecktem Kopf beobachtete er, wie Hans in die Gemächer von Gloria schlich: „Der Kerl wird unvorsischtisch“, dachte er bei sich. Seine kleinen Augen verengten sich zu Schlitzen.


Hans betrat beschwingt das Schlafgemach. Die Frau mit den kastanienbraunen Haaren trug ihre kostbaren Kleider mit verführerischer Eleganz.

Hans schwenkte seinen nicht vorhandenen Hut und verbeugte sich dramatisch vor ihr: „Bonjour, Madame Gloria!“

Sie fiel ihm sofort um den Hals und sie küssten sich leidenschaftlich. Glorias kleiner Schoßhund sprang an Hans hoch und freute sich. Circe war ein weißes Wollknäuel. Kein anderer Hund hätte zu ihr gepasst.

Hans streichelte das Hündchen: „Na, du reißende Bestie!“

Gloria sah ihn plötzlich vorwurfsvoll an: „Du hast uns aber lange warten lassen. Was macht Hubertus?“

„Die hohen Herren planen die Jagd für morgen. Wir haben viel Zeit.“ Hans strahlte sie an.

„Dann ist mein lieber Gatte ja ganz in seinem Element. Wenn es um Jagd und Handel geht, vergisst er alles, sogar mich.“

Er wurde mitleidig: „Ach, du Arme! Er ist eben ein großer Kaufmann. Und nicht umsonst einer der reichsten Patrizier der Stadt. Und Ratsherr. Aber dich zu vernachlässigen – wie kann er nur? Und dich vergessen, das geht eigentlich gar nicht, meine schöne B..., Gl..., Gloria.“

Sie war irritiert: „Seit wann stotterst du?“

Hans drehte den Kopf zur Seite. „Das frag’ ich mich auch grad“, dachte er. Dann schüttelte er den Kopf. Er umarmte Gloria, zog sie auf das große Bett mit dem Baldachin und küsste sie stürmisch. Er wollte, dass Gloria ihn alles vergessen ließ, hier auf den seidenen Kissen, den arroganten Schnösel Markus, die Schmach seines Standes als Stallknecht ohne Bürgerrechte, die schmerzlichen Geschehnisse der Vergangenheit. Glorias Blick fiel auf das blaue Band an seinem Knöchel.

Sie richtete sich abrupt auf: „Was ist das denn? Was hast du da am Fuß?“

Hans erwiderte mit abfälliger Handbewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen: „Ach, das ist gar nichts. Ich bin von einer Schlange gebissen worden.“ Er zog sie zu sich, aber Gloria wehrte ab.

„Was?? Von einer Schlange! Was denn für eine Schlange?“, fragte sie, setzte sich auf und sah auf den verbundenen Fuß, als knabberte die Schlange immer noch daran.

„Eine Kreuzotter, ein winziges Kreuzotterchen. Ich habe es überlebt. Jetzt komm’ her, mein Schatz!“, meinte er ungeduldig.

„Soll ich es aussaugen?“, fragte sie breit grinsend.

Er hob den Zeigefinger belehrend: „Acker-Gauchheil, auch Weinbergstern oder Wetterkraut genannt, macht man da drauf.“

Sie wunderte sich: „So so, und woher weißt du das?“

Er schluckte und wurde dann überheblich: „So was weiß man eben, wenn man viel Zeit im Wald zubringt, meine Gnädigste.“

Gloria ließ sich nicht davon abbringen, der Sache auf den Grund zu gehen, und griff nach einer kleinen Schere auf dem Nachttisch.

„Lass’ mich erst einmal deine Wunde ansehen und vor allem diesen blauen Fetzen da wegmachen!“, befahl sie.

Hans fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch und legte die Hand auf das Band: „Nein, nicht. Nicht zerschneiden!“ Seine Stimme war plötzlich laut und nervös.

Er fing sich wieder und gab in ruhigem Ton zurück: „Das kann man doch auch aufknüpfen.“

Dann nahm er ihr die Schere aus der Hand, legte sie zurück auf den Nachttisch und küsste Gloria wieder. Das blaue Band war erst einmal vergessen.

Circe hatte sich auf einem Samtkissen am Boden eingekuschelt und schlief.

Die Große Jagd am nächsten Tag

Die meisten saßen auf ihren Pferden. Diener, Stallknechte und Jagdhelfer mit grünen Hüten liefen geschäftig zwischen ihnen hin und her. Die fünf Ratsherren hielten ihre Pferde locker am Zügel, steckten die Köpfe zusammen und besprachen sich. Ihre Tiere waren rassige edle Rösser. Hans wendete sich Gloria zu, um ihr auf das Pferd zu helfen. Plötzlich spürte er einen festen Rempler von der Seite.

Markus stieß ihn ärgerlich weg: „Sieht Er nicht, dass ich meiner Cousine behilflich bin, Stallknecht?“ Der Schnösel reichte Gloria galant den Arm. Mit der anderen Hand hielt er ihre Stute, verbeugte sich und säuselte: „Gräfin!“

Hans zuckte betont lässig mit den Schultern und wandte sich Lord Malcolm zu. Der Lord war einer von zwei Ehrengästen, die als Messebesucher in Frankfurt weilten. Für Hans war der leicht schrullige Engländer mit seinem feinen Humor immer eine Freude. Er hielt dessen Pferd fest, während der Lord sich im Sattel niederließ.

Neben ihm stand sein Diener James, eine stattliche Erscheinung in tadelloser Kleidung. Er reichte seinem Herrn einen Becher hoch. Malcolm griff danach und trank vornehm mit abgespreiztem kleinen Finger daraus. Dann gab er den Becher hinunter zu Hans, bedankte sich freundlich bei beiden Bediensteten und ritt zu den Ratsherren.

„Wünscht mir Glück, Gentlemen!“, rief er fröhlich.

Hubertus flüsterte leise zu Rudolf Rinz, dem Oberförster, der neben ihm stand: „Dass der Monsieur Colbert gestern seinen Rehbock nicht gekriegt hat, kann ich noch verkraften, aber beim Lord muss das jetzt heute klappen!“

Rudolf meinte bedenklich: „Jawohl, Herr von Grüneburg. Aber das wird ned einfach werde.“

Hubertus erwiderte leicht ungeduldig: „Ja, natürlich wird das nicht einfach. Malcolm ist alles andere als ein begnadeter Jäger. Aber ich verlass’ mich auf Euch!“ Er bestieg als Letzter der Ratsherren sein Pferd.

Die bunte Jagdgesellschaft galoppierte aus dem Hof des Grüneburg-Palais. Neben den Reitern liefen die Hunde. James kam mit seinem Tablett. Hans nickte ihm zu und stellte Lord Malcolms Becher darauf. Dann eilte er zum Pferd, stieg auf und ritt als Letzter durch das Hoftor.

Sie galoppierten durch den Wald. Dabei löste sich die Gruppe auf und verteilte sich auf verschiedenen Wegen. Ein Teil bestand aus dem Oberförster, seinem Gehilfen Anton, Hans, Lord Malcolm, Matthias und Markus, Gloria und Hubertus

sowie zwei Jagdhelfern. Hans führte die Gruppe an. Brutus lief neben ihm.

Sie erreichten eine Lichtung. Vor ihnen erschien ein grasender Rehbock. Hans stoppte sein Pferd und drehte sich mit dem Finger vor den Lippen zur Jagdgesellschaft um. Er gab ein Zeichen, abzusteigen. Alle stiegen so leise wie möglich ab.

Matthias nickte dem Oberförster vielsagend zu und deutete mit einer unauffälligen Kopfbewegung zu Lord Malcolm.

Der schaute mit glänzenden Augen zu dem Rehbock: „My God, ein Prachtexemplar!“

Hans lächelte zufrieden und sah fragend zu Matthias. Der nickte anerkennend und hob den Daumen hoch.

 

Hans stellte sich neben Rudolf, der sich besorgt Anton zuwendete: „Das schafft der Warmwassertrinker nie. Und für dich isses zu weit, um zu treffe.“

Anton nickte zerknirscht.

Hans raunte leise zu Rudolf und Anton: „Verzeiht, Ihr Herren. Aber ich schaff’ das! Wirklich! Lasst es mich probieren.“

Rudolf zog erstaunt die Augenbrauen hoch und nickte unmerklich. Anton und sein Vorgesetzter traten unauffällig zur Seite, damit Hans ein freies Schussfeld hatte. Hans studierte jede Bewegung des Lords. Er legte an und ließ Malcolm nicht aus den Augen.

Als der seinen Zeigefinger krümmte, drückte Hans ab. Lautlos sackte der Rehbock zusammen. Gleichzeitig flog einem der Jagdhelfer der Hut vom Kopf. Malcolm hätte ihn um ein Haar getroffen.

Hans, Anton und Brutus liefen sofort zum toten Rehbock und bargen ihn.

Die Ratsherren, Gloria, Markus und der Oberförster gra­tulierten dem Lord zu seinem Meisterschuss.

Dem Jagdhelfer mit dem abgeschossenen Hut stand die Angst im Gesicht und der Schweiß auf der Stirn. Er schüttelte immer wieder den Kopf und deutete auf Malcolm. Ein Kollege beruhigte und stützte ihn. Ein anderer hob den Hut auf und entdeckte entsetzt das Einschussloch. Man reichte dem Schockierten einen Trinkbeutel.

Hans und Anton legten dem Engländer feierlich „seine“ Beute zu Füßen.

Rudolf flüsterte zu Hans: „Respekt!“, und zu Anton: „Da schneid dir da mal eine Scheibe ab, wenn du nach mir hier Wildhüter werden willst!“

Anton hätte Hans nicht feindseliger anschauen können.

Hans, der Meisterschütze

„Ja, so war das, Minou, genau so.“ Hans sah die Katze an und brüstete sich: „Ich bin nämlich der beste Schütze weit und breit. Aber was nützt mir das jetzt?! Ach, wie gern würd’ ich noch einmal schießen. Mein lieber Vater hat es mir beigebracht, damals, als ich ein kleiner Junge war ... Was für ein glückliches Leben wir einst hatten ...“

Die Fahne quietschte jämmerlich. Er verzog das Gesicht und schrieb weiter.

Ich war erst 12, als ich mit meinem Vater durch den Wald bei Kranichstein spazierte. Es war im Sommer anno 1542. Ich erinnere mich genau. Die Sonne schien. Die beiden Jagdhunde sprangen um uns herum. Vater war damals Ende 30 – ein großer, braun gebrannter Mann mit vollem Haar. Wir richteten unsere Blicke gen Himmel und erspähten einen Schwarm Wildgänse. Ich griff nach meinem Gewehr.

Doch Vater war dagegen: „Für dich ist das zu weit, Hans. Die fliegen zu hoch.“

Ich wollte es ihm unbedingt beweisen: „Doch, ich schaff das, Vater, lass es mich probieren!!“

Ich schoss und traf. Eine der Gänse fiel auf ein Feld in der Nähe. Die Hunde spurteten los. Mein Herz machte einen Sprung vor Stolz.

Ich strahlte ihn an und rief: „War doch ganz leicht, Vater!“

Er nickte mir anerkennend zu. „Da kann ich dir wohl nichts mehr beibringen. Du bist jetzt schon besser als ich. Hans, du wirst es weit bringen“, meinte er.

Die Hunde kamen zurück. Einer trug die Gans im Maul. Vorsichtig nahm ich sie ihm ab und reichte das Tier meinem Vater. Er sah es an, als wollte er ihm Respekt zollen. Dann gab er es mir zurück.

Wir liefen vergnügt weiter. Vater sah mich ebenfalls respektvoll an und malte mir eine prächtige Zukunft aus:

„Eines Tages bist du mein Nachfolger: Hans Winkel, der allerbeste Wildhüter und Sohn von Heinrich Winkel. Das werde ich deiner Mutter erzählen, wenn sie von Margarethe zurück ist.“

Als wir das Forsthaus fast erreicht hatten, sahen wir die Kutsche vorfahren und anhalten. Maman stieg aus. Ihr Haar war sorgsam frisiert. Ich lief auf sie zu und schwenkte die erlegte Gans in meiner Hand. Die Hunde rannten mit.

„Maman, ich hab’ eine Wildgans geschossen!!“ Ich umarmte meine Mutter überschwänglich. Vater nickte und winkte dem Kutscher zu, der drehte das Gefährt und fuhr davon.

„Marie! Du kannst wirklich stolz sein auf deinen Sohn!“, meinte er.

„Jean, ist das wahr?“, sagte sie lächelnd mit ihrem weichen französischen Akzent. „Dann bist du ja schon ein richtig guter Schütze! Heinrich, ich bin froh, wieder bei euch zu sein.“

Meine Eltern umarmten sich und gaben sich einen Begrüßungskuss.

Die Tür des Hauses öffnete sich und mein kleiner Bruder kam heraus. Max war damals erst 8 Jahre alt. Er hüpfte fröhlich auf uns zu. Seine braunen Locken sprangen lustig mit. Ich seh ihn vor mir mit der groben Hose, die bis übers Knie reichte und in der ein helles Leinenhemd mit hochgekrempelten Ärmeln steckte.

Max strahlte, als er uns alle zusammen sah: „Maman, endlich!“

Marie breitete ihre Arme aus und rief: „Mäxchen!“ Er rannte zur Mutter.

Vater fragte besorgt: „Ging alles gut bei Margarethe?“ Er legte den Arm um seine Frau und sie schritten vor uns her zum Haus.

Hinterherlaufend zeigte ich Max die Wildgans und erzählte von meiner Großtat. Ich deutete zum Himmel und ahmte mit der freien Hand einen Schuss nach. Die Hunde liefen fröhlich neben uns her.

Maman schien so glücklich: „Es ist ein kleiner Edelmann geworden. Hermann soll er heißen. Mutter und Kind sind wohlauf. Aber es war knapp. Es gab einen Moment ... Ach, Henri, ich bin so erleichtert, dass doch noch alles gut gegangen ist! Es war wirklich knapp. Und der stolze Vater hat sich überschwäng­-

lich und großzügig bedankt.“ Sie sprach auf einmal mit tiefer ­Stimme: „Marie, du hast ein Wunder vollbracht. Ich will, dass du von nun an alle meine Kinder auf die Welt holst!“

„Oh, ich fürchte, dann wirst du aber viel zu tun haben!“, lachte mein Vater.

„Ja, das mag schon sein. Aber das hat er gesagt, der Herr Landgraf.“ Sie wurde plötzlich ernst. „Aber Margarethe sollte besser keine Kinder mehr bekommen. Man sollte das Glück nicht herausfordern. Ich weiß nicht, ob das noch einmal gut ginge!“

„Ach, Margarethe, die wird sich erholen. Zur Abwechslung ist erst mal Philipps richtige Frau, die Landgräfin dran.“

„Stimmt. Da hast du tatsächlich recht. Christine ist in der Tat auch schon wieder in glücklichen Umständen.“

„Dieser Philipp, das ist vielleicht ein Kerl, zwei Frauen gleichzeitig. Aber hat sich unser Platzhirsch, ich meine, hat sich Philipp ‚der Großmütige‘ denn auch großzügig gezeigt?“

„Ja, das hat er.“ Sie holte ein zugeschnürtes Beutelchen aus der Rocktasche und schüttelte es, dass die Münzen darin klimperten. „Aber er hat noch etwas anderes getan, das mich sehr gerührt hat.“ Sie wurde ernst und intonierte erneut kurz Philipps dunkle Männerstimme: „,Marie‘, hat er gesagt, ,das werde ich dir nie vergessen!‘ Und, Henri, du weißt doch, wie sehr er immer mein Amulett bewundert hat.“

Sie griff sich an ihre Halskette. „Marie Winkel, hat er gesagt, zum Dank und zum Gedenken an die Rettung meiner ­geliebten Margarethe und meines Sohnes will ich von nun an deine schöne französische Lilie in unser Stadtwappen aufnehmen. Darmstadt soll auch eine Lilie bekommen, genauso eine wie die um deinen Hals.“

Der Schlossbrand

Hans griff sich an den Hals, als wollte er eine Kette berühren. Er schrieb weiter.

Das Lilienamulett meiner Familie, ein Erbstück der französischen Vorfahren, das Einzige, was von ihnen übrig geblieben war, das hat Mutter später mir geschenkt. Es sollte mich im Wald beschützen. Und dann ist es mir abhandengekommen. Kein Wunder, dass ich jetzt hier im Kerker gelandet bin.

Er stockte kurz, schaute zur Decke, lachte bitter und dachte: „Ich muss das mit dem Amulett Jakob erzählen. Und der muss dafür sorgen, dass es Maman wieder zurückbekommt. Das macht er bestimmt. Und das wird Mutter trösten, falls ich ... wenn ich ...“

Er schenkte Wasser aus einem Krug in ein kleines Schälchen, das er der Katze hinschob. Er kraulte Minou und schrieb weiter.

Wir hatten auch eine Katze, als ich klein war. Und die Jagdhunde. Als ich ein Kind war, dachte ich, mein Schicksal sei vorbestimmt: Ich werde in die Fußstapfen meines Vaters treten und Forstmeister werden.

Sein Gesicht hellte sich auf.

Vater war ein begnadeter Waidmann und ich war auserkoren, ihm zu folgen. Mein Leben war geregelt. Aber dann kam alles anders, damals in Darmstadt, im Winter vor vier Jahren, kurz vor Weihnachten. Es war später Nachmittag. Max und ich kamen von der Jagd mit drei erlegten Rebhühnern. Vater war neben der Kutsche vor dem Haus.

Er eilte uns aufgeregt entgegen: „Gott sei Dank, dass ihr wieder da seid! Es ist etwas Schreckliches passiert. Hans, spann die Pferde an! Max, hilf deinem Bruder! Wir müssen sofort nach Darmstadt. Eure Mutter ist in Gefahr!“

„Was ist los, Vater?“ Max stand die Angst im Gesicht geschrieben.

„Unsere schlimmsten Feinde kommen! Die kaiserlichen Truppen wollen das Schloss erobern. Und dort ist eure Mutter, bei Margarethe! Und die Kaiserlichen sind nicht zimperlich. Ich war oben auf dem Frankenstein.“

Jetzt bemerkten wir erst das Feuer in der Ferne.

„Ich muss den Menschen im Schloss zu Hilfe kommen. Und wir müssen eure Mutter da rausholen und dann so schnell wie möglich auf die Burg Frankenstein. Dort werden sie uns aufnehmen.“

Hans ahnte nicht, was derweil im Schloss vor sich ging.


Im Schlafgemach der Margarethe von der Saale herrschte eine bedrückende Stimmung. Die morganatische Zweitfrau des Landgrafen lag wieder einmal hochschwanger auf dem Bett. Was Marie befürchtet hatte, war eingetreten. Jede Schwangerschaft war für die junge Frau schwieriger geworden und im Winter 1546 schien ihr körperlicher Zustand mehr als besorgniserregend. Sie nahm alles um sich herum wie durch einen Schleier war.

Der Priester Gisbert von Tauern, die Hebamme Theresa und eine Zofe waren damit beschäftigt, der schweißgebadeten Margarethe die letzte Ölung zu erteilen. Bei jeder Wehe war sie ohnmächtig in die Kissen gesunken. Jetzt war Margarethe völlig entkräftet. Gisbert murmelte lateinische Gebete.

Marie stürmte herein. Sie stieß mit der Zofe zusammen, die den Raum mit blutigen Tüchern auf dem Arm verließ.

„Ich wurde aufgehalten. Was macht Ihr? Wie geht es ihr?“ Ihre Stimme überschlug sich. „Um Gottes willen, was tut Ihr da? Sie braucht Hilfe! Und zwar sofort!“

Sie schob Gisbert unsanft beiseite und sah der Schwangeren in die Augen: „Margaux, ich bin es, Marie! Margaux, habt keine Angst, ich bin jetzt da. Hört Ihr mich? Ihr schafft es! Ich seh’s! Margaux, denkt an Euren Sohn!“

Margarethes Antlitz glänzte vor kaltem Schweiß. Die Haare klebten ihr auf Stirn und Wangen. Sie verdrehte die Augen, als wäre sie wieder einer Ohnmacht nah.

Gisbert herrschte Marie an: „Moribundus! Sie ist des Todes. Geh, Weib, sie bedarf der letzten Ölung, wir retten ihre Seele!!“

Margarethe schlug kurz die Augen auf und flüsterte kraftlos: „Marie, Marie, bist du da? Marie, bist du das?“

„Ja, meine Liebe, ich bin es. Ich bin da. Alles wird gut. Denkt an Euren Sohn. Erinnert Ihr Euch? Das war auch keine leichte Geburt. Und jetzt ist der kleine Hermann vier Jahre alt und putzmunter. Und wünscht sich ein Geschwisterchen! Und das holen wir ihm jetzt, ihm und dem Herrn Landgrafen!“

Marie drückte Margarethes Hand und strahlte sie an.

Theresa schaltete sich ein: „Was willst du hier, wer hat dich geholt?“, keifte sie.

„Theresa, ich verstehe! Landgraf Philipp ließ mich holen“, antwortete Marie laut und drehte sich zum Priester: „Gisbert von Tauern, was geht hier vor?“

Theresa ließ nicht locker: „Ich bin jetzt ihre Hebamme. Du hast hier nichts zu suchen.“ Ihr Mund war schmal wie ein schwarzer Strich im bleichen Gesicht. Ihr stechender Blick traf Marie mit voller Wucht. Die gab sich unbeeindruckt.

Sie schrie zurück: „Ihr bringt beide um. Sie und das Kind. Sie muss wach bleiben. Ich schaffe das! Geht oder helft!“ Sie beugte sich über Margarethe: „Seht mich an! Um Himmels willen, seht mich an. Euer Kind will auf die Welt!“ Dann richtete sie ihre Augen auf den Priester. „Und Ihr, von Tauern, aus dem Weg. Schnell! Macht mir Platz“, befahl sie Gisbert barsch.

„Kein Weib darf so mit mir reden, wer glaubt Ihr, dass Ihr seid?“, schimpfte er.

Marie wurde sachlich: „Ich bin Margarethes einzige Chance gegen Eure Torheit. Ich sag’s, wie’s ist! Macht Euch keine ­Gedanken, jeder macht mal Fehler. Auch ich bin manchmal ­töricht. Aber nicht jetzt. Jetzt gilt’s! Theresa, hilf mir. Wenn du eine Hebamme sein willst, dann hilf mir jetzt.“

 

Gisbert wurde puterrot im Gesicht. „Das hat ein Nachspiel!!!“, brüllte er.

Margarethe schloss die Augen und gab keinen Mucks mehr von sich.

Plötzlich war er im Raum. In einer Ecke gegenüber vom Spiegel saß eine elegante männliche Gestalt mit übereinandergeschlagenen Beinen. Er sah amüsiert zu Marie. Als sie ihn entdeckte, erstarrte sie für einen Moment.

Alles kam ihr vor wie in Zeitlupe, die Bewegungen der anderen, die den Mann offensichtlich nicht wahrnahmen. Dann schien die Zeit stillzustehen. Alles um Marie wurde unscharf, da waren nur sie und er.

Der in erlesenem Schwarz gekleidete Mann schmunzelte diabolisch und erfreut: „Willst du dich mit dem Klerus anlegen? Willst du das wirklich riskieren? Lass die beiden ‚Gottesfürchtigen‘ lieber gewähren!“

Er zwinkerte ihr zu, als wohnte er der Aufführung einer köstlichen Komödie bei.

Maire fand endlich Worte: „Luzifer! Du wieder! Du hast mir gerade noch gefehlt! Warum nur hab’ ich die Gabe, dich zu sehen? Und das auch noch im falschen Moment. Das ist ein Fluch! Du willst wohl, dass ich sie einfach sterben lasse, hm? Niemals! Hau ab!“ Sie überlegte einen Moment. „Oder nein, warte. Komm, zeig dich ihr. Ja, tu das! Das macht ihr Angst und bringt ihre Lebenssäfte wieder in Fluss.“

Marie nahm ein Fläschchen aus ihrer Tasche. Sie hielt es Margarethe unter die Nase. Die Gepeinigte kam unmittelbar wieder zu sich und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu dem Stuhl, auf dem Luzifer saß.

Der sah für einen Moment grauenhaft aus. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten sich seine Augen in glühende Kohlen verwandelt. Es war wie ein Blick in die Hölle.

Marie sah Margarethe erleichtert an: „Meine Liebe, ich bin es, Marie, ich bin bei Euch. Alles wird gut. Habt keine Angst!“, dann meinte sie beeindruckt zu Luzifer: „Merci, diable!“

Er war belustigt: „Keine Ursache. Solch ein Schauspiel lass ich mir nicht entgehen. Der Pfaffe schäumt vor Wut, der alte Heuchler.“

Gisbert und Theresa hatten offensichtlich etwas bemerkt und beobachteten Margarethe mit aufgerissenen Augen. Die Hebamme schrie auf und bekreuzigte sich. Sie und Gisbert flohen beide aus dem Raum, als wäre der Teufel hinter ihnen her.

Marie wandte sich zur Schwangeren: „Margarethe, Ihr wisst doch schon, wie es geht. Wir machen es einfach wie beim letzten Mal. Alles ist gut.“

Margarethe gab unvermittelt einen hellen Schrei von sich. Die Geburt konnte losgehen.

Luzifer war verschwunden.

Keine halbe Stunde später legte Marie der Mutter das in ein Tuch gewickelte Baby in die Arme. Man sah Margarethe die Erschöpfung und das tiefe Glück gleichermaßen an.

„Es ist wieder ein Junge. Bildschön und kerngesund. Euer Gemahl wird begeistert sein! – Wie soll er heißen? – Margaux, wir haben es geschafft! Wie soll er heißen?“

Margarethe hauchte: „Albrecht. Danke, Marie. Albrecht soll er heißen. Verständigt den Landgrafen!“

In diesem Moment kam eine Zofe hereingestürmt.

Ihre Stimme überschlug sich: „Die kaiserlichen Truppen sind im Anmarsch. Man sieht schon die Pferde ... und Feuer, überall soll Feuer sein!!!!“

Maries Stimme war leise und klar: „Margarethe und das Kind müssen sofort in Sicherheit gebracht werden!“

Die Zofe wusste: „Ihre Kutsche steht bereit. Sie wird geholt. Auch Eure Familie ist da, Madame Marie. Kommt mit!“


Marie eilte mit der Zofe durch das Schloss zu einem großen Raum mit vielen Menschen. Sie schrien durcheinander. Unter ihnen waren Gisbert und Theresa. Marie erkannte Heinrich und die Kinder in der anderen Ecke des Raumes. Als sie loslief, erschütterte eine Kanonenkugel den ganzen Raum. Plötzlich breitete sich Feuer aus. Der Weg war ihr versperrt. Alle Menschen versuchten, davonzulaufen, aber überall fielen brennende Deckenteile zu Boden.

Marie schrie: „Heinrich!!!“

Theresas Stimme war schrill: „Das ist alles ihre Schuld!“ Sie deutete auf Marie. „Sie ist schuld! Sie ist mit dem Teufel im Bunde!!! Sie ist eine Hexe. Sie hat den Priester beschimpft, und sie hat eine Tote erweckt. Das war böser Zauber. Ich hab’s mit angesehen.“

Marie sah Luzifer in den Flammen, in seinem Element. Er hob die Arme in Richtung der Decke. Genau da löste sich ein brennender Holzbalken.

Darunter stand Theresa und keifte ihre Verwünschungen gegen Marie. Luzifers Fratze bekam ein Lächeln. Seine brennenden Augen waren kurz normal.

Marie sah die Katastrophe kommen: „Theresa! Pass auf, komm her, schnell weg, der Balken!!!“

Sie eilte auf sie zu und streckte die Arme nach ihr aus. Heinrich kam von der anderen Seite herbeigeeilt. Luzifer bäumte sich auf, mit einer weit ausholenden Handbewegung lenkte er den brennenden Balken auf ihn. Das Holz krachte unerträglich laut und begrub Heinrich unter sich.

Hans riss entsetzt die Augen auf. Er zog Max zu sich und drehte ihn vom Anblick des erschlagenen Vaters weg.

Marie war nicht mehr zu halten: „Henri! Heinrich! Heinrich! Nein!“

Sie lief trotz der Feuersbrunst um sie herum zu ihm, beugte sich über ihn, versuchte, ihn aufzurichten. Seine Augen waren geschlossen.

„Heinrich, mein Heinrich. Bitte, bleib bei mir!“ Marie nahm ihren Mann in den Arm.

Fassungslos starrte sie durch die Flammen zu Luzifer. Er schaute unbeeindruckt und kalt zu ihr zurück. Alles um Marie herum brannte, aber sie saß da mit dem Toten im Arm, einer Pieta gleich, wie durch ein Wunder unversehrt.

Gisbert schrie: „Da war es wieder. Ich hab’s gesehen. Seht alle hin!!!!!! Du Hexe! Sogar das Feuer weicht vor dir zurück, nur weil dich der Leibhaftige schützt. Du willst uns vernichten, du niederträchtiges Weib! Es wird dir nicht gelingen. Man wird dich richten. So wahr, wie ich hier stehe. Ich werde dafür sorgen. Ich werde dich verfolgen. Das heilige Gericht soll dich verur­teilen. Du bist verdammt.“

Die Menschen im brennenden Raum riefen durcheinander.

Einer skandierte: „Sie ist eine Hexe. Sie ist eine Hexe. Gott steh’ uns bei. Tötet sie!“

Max war zu jung für diese Veranstaltung. Er weinte und schrie.

Hans war gefasster: „Maman, viens! Vite! Komm!“ Er kämpfte sich mit Max zu Marie durch.

Sie stand unter Schock und völlig neben sich. Sie reagierte nicht. Erst als Hans und Max sie vom toten Heinrich wegzogen, kam sie wieder zu sich.

„Wir müssen hier weg, Maman. Los, schnell! Raus hier! Los, Max, komm’, wir können für Vater nichts mehr tun.“

Weitere Balken lösten sich und stürzten auf die Menschen. Sie schrien auf.

Hans zog seine Mutter und Max Richtung Ausgang. Da wurde Marie von einem herunterfallenden Holz getroffen. Sie taumelte, bewegte sich aber weiter. Hinter ihnen rieselten brennende Hölzer herunter, wie ein Vorhang aus Feuer. Es sah aus, als ob die Flammen sie vollends erfasst hätten.

Jemand rief: „Das ist die gerechte Strafe. Der Teufel hat sie alle geholt.“ Geschützt vom Feuervorhang flohen sie bis auf die Straße. Sie erreichten die Kutsche.

„Wo sollen wir denn hin?“, jammerte Max.

„Ich weiß es nicht. Komm, Hauptsache weg hier, los, schnell, die wollen Mutter totschlagen.“

Max öffnete die Kutschentür. Hans beförderte die verletzte Marie vorsichtig hinein. Sie blutete am Kopf. Max setzte sich zu ihr.

Hans stand an der geöffneten Tür: „Wir müssen hier weg, Maman.“

Marie hatte sich wieder gefasst. Sie flüsterte kraftlos: „Hans, wir können nicht mehr zum Frankenstein. Wir müssen weiter weg. Fahr’ nach Frankfurt! Wir verstecken uns bei Anne.“

Er versicherte ihr: „Keine Sorge. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich kenne den Weg.“

Dann sprang er auf den Kutschbock und griff die Zügel. Die Kutschpferde galoppierten davon. Und sie verschwanden unbemerkt in die Nacht hinein.

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