Spaziergang zum Dschungelkönig. Reisestories aus vier Kontinenten

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In der dritten Nacht ist es kalt, es hat geregnet, Nebel kriecht über den Boden, Frösche quaken. Gegen sechs Uhr früh reißt uns ein tiefes, durchdringendes, schauderhaftes Gebrüll aus dem Schlaf. Auuuuun! Zuerst glaube ich schlecht geträumt zu haben, aber das Gebrüll überdauert das Aufwachen. Es ist markerschütternd. So etwas habe ich noch nie gehört. Der Tiger ist da. Aber wo? Den Dezibel nach zu urteilen, könnte er vor dem Zelteingang stehen. Er ist freilich noch ein sicheres Stück entfernt. Wir machen uns auf. Kerstin wird später sagen, so schnell sei ich noch nie aufgestanden. Tanghan kommt aufgeregt ins Camp gelaufen. Er hat den Tiger gesehen. Vom Waschplatz aus. Im Schlafanzug. Einen Steinwurf von unserem Lager entfernt liegt ein kleiner See mit Steg. Tanghan hörte dort wie wir den Tiger. Und er sah ihn. Aus vielleicht 200 Metern Entfernung. Dann rannte unser Gewehrträger weg, zurück ins Lager, denn ausgerechnet zur Morgenwäsche hatte er sein Gewehr nicht mitgenommen.

Wir machen uns sofort auf. Mit Gewehr und Fernglas. Der Fährtenleser sagt, der Tiger jage einen Sambar-Hirsch. Wir laufen zügig durch flaches, feuchtes Grasland in Richtung des Waldrandes, wo Tanghan das Tier zuletzt gesehen hat. Noushad macht die erste Spur aus. Tiefe Tatzenabdrücke. Eine Tigerin, sagt der Fährtenleser. Das Tigerweibchen habe Junge. Wie in Gottes Namen weiß er das alles? Wir halten Ausschau, finden neue Spuren, hören aber kein Gebrüll mehr. Wir stehen ratlos am Waldrand. Die Tigerin ist im Wald verschwunden. Der Dschungel hat sie verschluckt. Hinterherlaufen oder nicht?

Noushad und Tanghan beraten sich. „Wir gehen nicht weiter“, sagt Tanghan entschlossen. Unser Tigerpfad endet hier. Im Wald ist es zu unübersichtlich. Wenn wir der Tigermutter folgen, könnte sie uns angreifen, weil sie ihre Jungen in Gefahr sieht. Wir drehen ab, packen unsere Sachen. Tanghan hat seinen fünften Tiger gesehen. Uns hat Shir Khan nur geweckt.

Blut, Schweiß und Hyänen

Unter Löwentötern. Leben in einem Massai-Dorf

Niemand bläst zum Halali, keiner hat sich Jagdschale geschmissen, keine Hundemeute wird die Witterung des Wildes aufnehmen. Die merkwürdigste Jagdgesellschaft unter Afrikas Sonne schleicht geräuschlos durch den Kral in Richtung Savanne: drei junge Hausfrauen in Sommerkleidern à la „Woolworth“-Wühltisch, nur mit leeren Getreidesäcken bewaffnet, ein kaum zehnjähriger Bub in Shorts und zerrissenem T-Shirt, der Fährtenleser, an die fünfzig, mit seinem ulkigen Zylinder und abgetragenem dunklen Flickenjacket, Daniel, der siebzehnjährige Oberschüler, im Sonntagsgarn, voran der alte Jäger mit seinem Gewehr, auf dem Kopf eine beige Safari-Kappe.

Die drei Frauen sollen auf dem Rückweg das Fleisch tragen. Fragt sich nur, von welchem Tier. Mich interessiert: „Daniel, can I come with you?“ Niemand hat etwas dagegen. Sieben Schwarze und ein Weißer ziehen in die Savanne Ostafrikas, sieben wegen der Dürre und der schlechten Maisernte im Norden Tansanias, einer aus Neugier. Die Savanne beginnt direkt vor den Lehmhütten und Steinhäusern der dreitausend Massai von Longido und wird nur von der Nationalstraße A 104 zerschnitten, die von Arusha durch das Massailand immer nach Norden führt, bis nach Nairobi.

Wir überqueren die Straße, lassen die Polizeistation und den Gemischtwarenladen an der A 104 hinter uns liegen. Vor uns die Trockensavanne: hüfthohes Buschgras, Schirmakazien, Dorngestrüpp. Achtzig Kilometer westwärts sind es bis zum Natronsee, weitere achtzig bis zum Ostrand der Serengeti, der „unendlichen Ebene“, wie es in der Sprache der Massai heißt, dem „Weltnaturerbe der Menschheit“, das im Westen den Viktoriasee berührt und im Norden bis zur kenianischen Grenze reicht, Weidegrund von 1,3 Millionen Gnus, 500.000 Thomson-Gazellen, 200.000 Zebras, ungezählte Giraffen, Elefanten, Spitzmaulnashörnern und Kaffernbüffeln, Jagdgrund von 2.000 Löwen, 700 Geparden, einem nimmersatten Heer von Leoparden, Hyänen, Wildhunden, Schakalen und anderen Bekannten aus Brehms Tierleben.

Die Serengeti, so groß wie Schleswig-Holstein, ist „der letzte Fleck in Afrika, wo es noch Riesenherden gibt, die über die Steppen stampfen wie einst das Meer der Bisons über die Graswellen der Prärien Nordamerikas“, schrieb Bernhard Grzimek 1959 in seinem Klassiker „Serengeti darf nicht sterben“.

Nur wenige Runddörfer viehtreibender Massai zeugen heute von menschlichem Dasein in der Wildnis zwischen dem Serengeti-Nationalpark und der A 104. Die Nachmittagssonne treibt den Schweiß. Die Furcht, im Buschgras einer aggressiven Schwarzen Mamba über den Weg zu laufen, ist ein treuer Begleiter. Schon nach zehn Minuten Fußmarsch macht der Fährtenleser eine Schar Thomson-Gazellen aus. Aber zweihundert Meter sind eine weite Schußdistanz. Der Jäger pirscht sich allein an die scheuen Tiere heran.

***

Szenenwechsel. Mittwoch in Longido. Es ist Viehmarkt. Massai aus der ganzen Region, etliche aus Kenia, treiben ihre Rinder in den von Steinmauern umfriedeten Auktionspferch. Manche kaufen dazu, andere verkleinern ihre Herden. Vor allem aber ist der wöchentliche Markt Neuigkeitenbörse - für Nachrichten von Geburt und Tod, Heirat und Beschneidungsfesten, für Spekulationen über Regen und das Ende der Dürre. Rinder sind Statussymbol, der Stolz der traditionellen Massai, die sich für Gottes auswerwähltes Volk halten. Gott, so glauben sie, hat das Vieh allein für sie bestimmt. Fremden Vieh zu stehlen, halten sie daher für legitim. Ackerbau und staatliche Autorität aber lehnen sie ab.

Die Herden vermehren sich wie die Menschen. Überweidung und Bodenerosion sind die Folgen. Die Savanne wird zur Wüste. Die Massai selber schlagen Bäume und Büsche ab, wenn sie auf ihren Wanderungen neue Hütten aus Lehm und Dung bauen und Dornwälle um ihre Viehpferche und bomas, ihre primitiven Savannen-Gehöfte, auftürmen. Wo der Boden seinen Schatten verliert, trocknet er aus. Gewöhnlich schlachten die Massai nur ihre Ziegen, zu besonderen Festen auch Rinder - ein Volk, das sich nur von Fleisch, Milch, Tierblut, Wildhonig und Getreide ernährt.

Unter einem Baum schächtet eine Gruppe Massai-Männer seit dem frühen Morgen Ziegen. Es riecht nach Innereien und ausgeleerten Därmen. Ein Messerschnitt durch die Kehle, dann bluten die Böcke aus und werden auf Holzgestellen ausgenommen. In einem Haus wird das Ziegenfleisch mit Reis zubereitet - Mittagessen für die Marktbesucher, Imbißbude à la Massai.

Frauen sind auf dem Viehmarkt nicht zu sehen. Die schlanken, großen, schmallippigen Jünglinge lachen und tratschen. Kaum einer der moranis, der Männer der Kriegerkaste, ist älter als 25, alle tragen die blutrote shuka, das togaartige Umschlagtuch, mit Ockerschlamm gefärbte Haarzöpfe, Ohrgehänge aus bunten Perlen, Gummisandalen, geschnitten aus alten Autoreifen. Einige trinken Coca-Cola aus Flaschen - der Clanchef sieht es ja nicht. Manche stützen sich auf ihre Speere, mit denen die jungen Krieger ihr Vieh selbst gegen Löwen verteidigen. Notfalls verfolgen Massai den Löwen, der ihr Vieh reißt, tagelang - bis es zum Showdown kommt. Der Staat verbietet dieses Mannbarkeitsritual. Stolz sind die Massai auf ihr Vieh, stolz auf ihre stehengebliebenen Quarzarmbanduhren, die für sie Schmuck und nicht Zeitmesser sind.

Die Zeit ist für das Nilotenvolk aber keineswegs stehengeblieben, seit es vor Jahrhunderten von Nordafrika nach Süden zog, sich auf dem langen Weg mit den schwarzen Völkern des oberen Nils vermischte und das Riesental des Großen Afrikanischen Grabenbruchs, das Great Rift Valley, im heutigen Süden Kenias und im Norden Tansanias einnahm. Vor allem britische Siedler nahmen den Massai während der Kolonialzeit ihr Land, dann zerschnitt die tansanisch-kenianische Grenze das Massailand, schließlich wurden sie aus den Nationalparks ausgesperrt.

Jene Massai, die ihre Naturreligion aufgaben und ins Christenlager wechselten, schworen Viehdiebstahl und Polygamie ab. Ein Volk wandernder Hirten blieben sie aber. In Longido treffen Moderne und Tradition aufeinander: Die Massai von Longido sind seßhaft und doch Nomaden. Tagsüber treiben sie ihre Herden durch die Savanne, abends kehren sie in die Hütten und Häuser von Longido zurück. Sogar Mais pflanzen sie an und halten Hühner. Das Wild der Savanne jagen nur die wenigen modernen Massai, jene, die die roten Umhänge gegen Baumwollhemd und Jeans eingetauscht haben.

***

Den Jäger haben wir aus dem Blickfeld verloren. Es ist auch kein Schuß gefallen. Wir irren durch die Savanne, halten nach Jäger und Gejagten Ausschau und hoffen, nicht versehentlich ins Schußfeld zu geraten. Da! Hinter einer Schirmakazie, etwa 250 Meter entfernt, ein langer Hals - eine äsende Giraffe. Ob der Jäger sie auch entdeckt hat? Die Giraffe ist das Wappentier von Tansanias alter Flagge. Auf ihren Abschuß stehen als Strafe einige Jahre Gefängnis. Ohnehin ist Wilderei ein schweres Delikt - auch außerhalb der tansanischen Nationalparks. Aber der Hunger ist stärker als das Gesetz. Die Maisfelder sind abgeerntet, Geld ist rar, nicht jeder hat Vieh, und die kostenlosen Lebensmittelrationen auf Coupon, mit denen die Regierung auf die Dürre reagiert hat, sind knapp kalkuliert.

Die vergangenen Tage war der Jäger vergebens in die Wildnis gezogen. In der Not, das erzählt Daniel mir, habe man auch schon Giraffen erlegt, meist aber Antilopen oder Gazellen. Die Tiere sind extrem scheu, nehmen Reißaus, sobald sich ihnen Menschen auf Schußweite nähern. Der leiseste Mucks kann das Wild verscheuchen. Seit einer halben Stunde ist mir - verdammte Gräser! - zum Niesen zumute. Niesen oder nicht - eine Gewissensentscheidung. Ich unterdrücke es, und der Suchtrupp erspäht kurz darauf einen Kudubock. Vom Jäger dagegen keine Spur. Bis ein Schuß die Stille durchbricht.

***

 

Longido. Es fehlt wieder an Schaufeln, und der Zement geht auch zur Neige. Niemand fühlt sich für den Nachschub verantwortlich. Der Rohbau des Gemeindezentrums von Longido stand schon bei unserer Ankunft. Es geht nicht vorwärts. Workcamp-Frust. Drei Leute arbeiten im Schatten der Schirmakazie an der Steinpresse, der einzigen, zwei mischen Sand, Zement, Schotter und Wasser, zwei räumen die gepreßten Steinquader zum Trocknen beiseite. Die restlichen acht deutschen Jugendlichen starren Löcher in die Luft. Kaum siebzig Steine, Bausubstanz für ein Nebengebäude des Community Center, werden pro Tag fertig. Mittags schwirren alle wie hungrige Heuschrecken aus, grasen das dürregeplagte Longido nach Eßbarem ab. Einheimische verirren sich selten auf die Baustelle, nur drei Schwarze arbeiten mit - gegen Lohn.

Schon drei Tage nach der Anreise klärt der Ersatzreiseleiter die deutsche Gruppe darüber auf, daß das Workcamp von drei auf zwei Wochen gestutzt wird. Last und Nutzen für den Massai-Ort „stehen in keinem sinnvollen Verhältnis“. Es fallen sarkastische Kommentare. Tenor: „Gut, daß wir das hier erfahren.“ Szenen eines absurden Theaterstücks, das „Die Investititionsruine“ heißen könnte, inszeniert von einem nordrhein-westfälischen Jugendreiseveranstalter. Seit vier Jahren wird an dem Gemeindezentrum gebaut. Ein Dritte-Welt-Laden aus Baden-Württemberg kommt für das Baumaterial auf.

Der tansanische Initiator des Projekts, Estomihi Kinasha Molell, ist seit einem nächtlichen Sturz in eine Grube vor drei Jahren ans Bett gefesselt. Die zwei Meter tiefe Grube ist seitdem nicht verfüllt worden. Esto, 46, Studium der Soziologie in Australien, Vater von fünf Kindern, hat einen Traum: die Menschen von Longido zusammenzubringen, sie aufzurütteln, die drängenden Probleme von heute und morgen anzupacken. Wassermangel. Aids. Überweidung. „In ein paar Jahren haben wir hier eine Wüste. Das Vieh zerstört das Land“, sagt Esto, der als ehemaliger Programm- und Entwicklungschef des tansanischen YMCA-Zweiges, des „Christlichen Vereins Junger Männer“, die Nöte seiner Heimat kennt.

Longidos einzige Wasserquelle während der Trockenzeit ist der 2.629 Meter hohe Mount Longido, an dessen Fuß eine Zisterne Quellwasser speichert. Der Regen aber versickert Jahr für Jahr ungenutzt. Währenddessen tickt unbemerkt die Zeitbombe Aids. Junge Massai-Krieger aus Longido arbeiten als Wachmänner für Villen-, Geschäfts- und Hotelbesitzer in Nairobi und Mombasa, Arusha und Dar es Salaam, bis sie genug Shilling gespart haben, um eine kleine Herde Vieh zu kaufen. Jeder Puffbesuch in den großen Städten ist wie Russisch-Roulette.

In einer der vielen Trinkhallen, spartanisch ausgestatteten Sauf-und-schlag-den-Tag-tot-Treffpunkten mit Juxnamen wie „Vatikan City Bar“, schlürft Longidos Bürgermeister Billigschnaps der allgegenwärtigen Brauereikette „Hinterhof“. Am Jacket seines dunkelblauen Zweireihers trägt er eine Ansteckplakette der allerorts regierenden Revolutionspartei Chama Cha Mapinduzi. Was er von dem Gemeindezentrumprojekt halte, will ich wissen. Er druckst, ist irritiert. „Which community center?“

***

Der ganze Suchtrupp rennt in die Richtung, aus der der Schuß kam. Die drei Frauen strahlen in Erwartung voller Kochtöpfe. Nach etwa fünfhundert Metern finden wir den Jäger. Er stiert auf den Boden. Das Wild ist angeschossen entkommen. Wir folgen der Blutspur und den Hufabdrücken. Immer wieder verliert sich die Spur im Buschgras, immer wieder entdeckt der Fährtenleser neue Tropfen Blut. Aber wir drehen uns im Kreise, verlieren den Jäger erneut aus den Augen. Fast eine Stunde des Suchens und Herumirrens vergeht.

Plötzlich ein zweiter Schuß. Erneuter Galopp durch die Savanne. Minuten später stehen wir schweißnaß am Ort des Geschehens: der zweite Schuß aus dem alten englischen Jagdgewehr saß besser. Unter einem Baum krümmt sich ein ausgewachsener Grant-Gazellenbock waidwund auf dem Boden, streckt alle Viere zur Seite, die Augen drücken Todesangst und Todeskampf aus. Der Jäger steht regungslos daneben. Kein Gnadenschuß - es könnte die Polizei endgültig alarmieren, und Munition ist sowieso kostbar.

Der Bock, in der Seite und am Hals getroffen, zuckt und zappelt noch, er röchelt nicht, er schreit geradezu. Vergeblich versucht er sich aufzurichten. Mit seinen spießartigen Hörnern könnte er jeden von uns schwer verletzen, wenn nicht gar mit ins Jenseits nehmen. Minuten vergehen, bis der Jäger das Tier mit beiden Händen am Gehörn packt und durch das Savannengras zu einem rasch aufgeschichteten Haufen abgeschnittener Zweige schleift. Er beginnt es zu schächten. Mit dem Buschmesser fährt er in den Rumpf der Gazelle, bis hin zu den Geschlechtsteilen. Noch immer ist der Bock nicht tot. Jetzt nimmt auch der Fährtenleser sein Messer und schneidet dem Tier die Kehle durch. Das Zucken hat ein Ende.

***

Staub wirbelt auf, johlend jagen die Jungen auf dem Schulhof einem mit Kordel zusammengehaltenen Lumpenklumpen nach - dem Fußball. Die Mädchen stehen abseits. Pause an der Internats- und Dorfschule von Longido, dem mit 25 Beschäftigten größtem Arbeitgeber im Ort. Die fast fünfzig Schüler der siebten Klasse strömen in die Baracke. Geschichtsstunde. Auf dem Lehrplan steht der Erste Weltkrieg. Amossy Ngereza doziert über General Paul von Lettow-Vorbeck und den Krieg im damaligen Deutsch-Ostafrika, die 100.000 Toten, die der deutsche Ostafrika-Feldzug hinterließ, den Sieg der Briten 1918 und die Hungersnöte nach dem Krieg.

Der 42jährige Lehrer für Swahili, Erdkunde und Geschichte schreibt nichts an die Tafel, schaut in kein Buch und kein Manuskript. Er ist blind. Den Schülern diktiert er Verlauf und Folgen des Krieges in Stichworten, aber die wenigsten schreiben mit. Es fehlt an Schreibheften, eine Welt- oder Geschichtskarte gibt es auch nicht. Die Geschichte Europas wird in Longido neu geschrieben. Während des Ersten Weltkriegs, so lernen die Schüler, sei Bismarck deutscher Reichskanzler gewesen, und außer Großbritannien habe das deutsche Kaiserreich keine Kriegsgegner gehabt.

Amossy ermuntert die Klasse, den Gästen aus Deutschland Fragen zu stellen. Erst traut sich niemand. Dann halb geflüsterte Wortmeldungen: Leben in Deutschland auch so viele Bauern und Hirten wie in Longido? Ist es flach oder bergig in Europa? Gibt es Löwen in Deutschland?

***

In Minutenschnelle zieht der Jäger der Grant-Gazelle das braun-weiße Fell ab. Den Kopf hackt er mit dem Buschmesser vom Rumpf ab, Darm und Magen des Tieres werden aufgeritzt und entleert. Ich sichte derweil den Horizont. Vorläufig sind keine vierbeinigen Grasverächter zu sehen. Es stinkt nach Blut, Gedärmen und unverdautem Savannengras. Die anderen beginnen die Nieren der Gazelle roh zu essen, brechen die schlanken Beine des Bocks mit bloßen Händen entzwei und pulen mit Stöckchen das nahrhafte Knochenmark heraus.

Nach dem Stehimbiß wird die Beute zerlegt. Es ist bald sechs Uhr. Wann kreuzen die ersten Hyänen, die wenig furchtsamen Gesundheitspolizisten der Savanne, am Tatort auf? „We're not afraid of hyenas“, meint Daniel trocken. Fast jeden Abend ist das eigenartige Kichern der Hyänen in Longido zu hören, die Löwen halten etwas mehr Abstand zu ihren Erzfeinden, den Massai.

Die Getreidesäcke sind voll blutiger Brocken Gazellenfleisch. Fünfzig bis sechzig Kilo dürfte die Ausbeute wiegen. Die Frauen schleppen am schwersten. Nur der Kopf der Gazelle samt Hörnern, der Magen- und Darminhalt und ein großer Blutfleck bleiben am Schlachtplatz zurück. Es dämmert. Am Äquator ist die Dämmerstunde kurz. Zwei, drei Kilometer legen wir raschen Schrittes zurück. Der Mount Longido ist unser Kompaß. Jetzt könnte ruhig der Fernseh-Daktari mit seinem Landrover aufkreuzen und uns nach Hause fahren. Aber von Ferne ist schon Ziegengemecker zu hören. Im Dunkeln erreichen wir die Nationalstraße. Nervöse Blicke nach links und rechts. Es ist aber kein Auto in Sicht, Polizei schon gar nicht.

Später erfahre ich, daß vor wenigen Tagen aus einem Viehpferch vor unserem Haus ein Kalb gerissen worden ist, vermutlich von einem der Leoparden, die den Mount Longido unsicher machen. Wer nicht hungern will, der wildert.

***

Jahre später. Esto ist längst tot. Unter der Schirmakazie, wo die Ziegelsteine gepreßt wurden, liegt er begraben. Noch lange hat er sich auf der Ladefläche seines Toyota-Pickups herumchauffieren lassen, um seine Projekte in Longido voranzutreiben. Unermüdlich suchte er Sponsoren, Spender, Helfer. Am Dorfeingang steht sein Erbe. Das Community Center - ein unauffälliges Informationszentrum über die Massai, ihre Nomadenkultur und das langsame Verschwinden ihrer Lebensweise. Ein paar junge Einheimische bieten Schmuck und Souvenirs für Touristen an: Kalebassen, ausgehöhlte und getrocknete Flaschenkürbisse, bunte Perlenketten und anderen Massai-Schmuck. Und Lehrwanderungen zu den bomas. Ausflüge zu den traditionellen Massai, Ausflüge in eine Welt von gestern.

Kerzen für den Teufel

Guatemala. Zur Karwoche im Land der Mayas

Wer in Guatemala Himmel und Hölle nah sein will, der steigt auf einen Vulkan. Denn dort ist man Gott und den Geistern nahe. Und auch dem „Weltpräsidenten“ - dem Teufel. Aber nur kurz vor Ostern, am Tag des Heiligen Josef, wenn sich katholischer Glaube und indianischer Aberglaube in Nebelwolken und Rauchschwaden verquirlen, wenn für tausend Toyotas gebetet wird und wenn der „Weltpräsident“ etwas zu hören bekommt: nämlich ein paar Chinakracher.

Alles fing so unverdächtig an: Rolando Herrera mußte zum ungefähr fünfzigsten Mal in seinem Leben den Vulkan Santa Maria besteigen. Der spuckt nur selten Asche, und den Gipfel in 3.772 Meter Höhe erkraxelt man locker in ein paar Stunden - denn der Fuß des Vulkans liegt schon zweitausend Meter höher als die Wellen des nahen Pazifiks. Rolando ist Direktor einer Spanisch-Sprachschule in Quetzaltenango im Hochland von Guatemala. Alle drei Wochen steigt er mit Sprachschülern aus aller Welt auf das Dach Guatemalas. Nicht um den „Weltpräsidenten“ auf der Vulkanspitze zu treffen, sondern weil eine Vulkanbesteigung im Wochenendprogramm seiner Spanischschule der Renner ist.

Früh um halb sechs lädt uns Rolandos uralter Kleinlaster zu Füßen der Heiligen Maria ab. Der Blick auf den Bergwald und seine Nebelkronen ist unheimlich - imposant. Nur Mike, ein Sprachschüler aus den USA, hatte eine Vorahnung. Oben auf dem Vulkan, da müßten wir ein paar Hühner opfern. Beim Aufstieg flattern uns aber nicht entfleuchte Hühner, sondern Miniatur-Helikopter um die Ohren: schillernd dunkelgrüne Kolibris, die im Flug Nektar aus Blütenkelchen saugen.

Laufend überholen uns Indios auf der Trampelpiste, sogar Frauen mit Kleinkindern auf dem Buckel. Die Maya-Nachfahren sind die dünne Luft gewohnt. Einer schleppt sogar einen Maissack den Vulkan hoch. Darin sind die Opfer für den „Weltpräsidenten“, wie sich noch herausstellen wird. Gegen Mittag ist die Spitze erreicht. Den Blick auf den nahen Krater verstellen die Wolken. Aber das macht nichts. Unser Blick fällt auf etwas viel Interessanteres: Zwei Indios zelebrieren auf dem Vulkangipfel einen Kult - den Opferkult für den „Weltpräsidenten“ am Tag des Heiligen Josef.

Die Indios, beide um die vierzig, beide in ärmliches Räuberzivil gewandet, haben auf der Vulkanspitze ein Lagerfeuerchen entzündet. Der eine hebt beschwörend die Hände und murmelt wie in Trance allerlei Beschwörungsformeln, der andere hockt mit seiner Pudelmütze andächtig daneben. Wir rücken näher und lauschen andächtig mit. Der Zeremonienmeister ist auf den Berg gestiegen - nicht als Prophet, sondern als Bittsteller. Er wirft Kerzen ins Feuer, die roten für Gott, den der Christen, die schwarzen für den „Presidente del mundo“, den „Weltpräsidenten“, den er mit bebender Stimme anruft. Der „Weltpräsident“ ist der Teufel, erzählt uns Rolando, der um die Vermischung von Christentum und Geisterglaube in seinem Land weiß.

Die Guatemalteken, zur Hälfte katholisch, zu einem Drittel mittlerweile evangelisch-freikirchlich, sind stockfromm, der Papst ist den Katholiken ein Heiliger, Maria die unbefleckte Empfängnis, und die Ostertage sind sakrosankt. Die Semana santa steht an, die Heilige Woche, die Karwoche. Aber die blutige Christenmission der spanischen Konquistadoren im 16. Jahrhundert hat nie die alten Bräuche und den Geisterglauben der Indios, der Ureinwohner im Maya-Land Guatemala, ganz auslöschen können.

Viele Mayas haben sich ihre eigene Religion gebraut: einen Mix aus Katholizismus und Aberglaube. Viele sind in die Fänge evangelikaler Sekten aus den USA geraten, deren Klatsch- und Schunkelgottesdienste Karl Marx’ Wort vom „Opium des Volkes“ Aktualität verleihen.

 

Der merkwürdige Bergpriester blättert in einem Gebetbuch, klappt es wieder zu, ruft eine halbe Hundertschaft Heiliger an und spricht auf Spanisch das „Vater unser“ und das „Gegrüßet seist Du, Maria“.

Der Mann mit der Pudelmütze entpuppt sich als eine Art guatemaltekischer Nikolaus. In seinem Maissack hat er die Geschenke für Gott und den Teufel hochgeschleppt: Fleisch, Schnaps, Zigaretten und Kerzen. Alles, was zischt und qualmt. Wie ein Meßdiener reicht er seinem Priester die Brandopfer dar. Im Feuer landet ein Brocken Fleisch - um den Teufel, die Inkarnation alles Fleischlichen, gnädig zu stimmen. Als nächstes gehen die Zigaretten, Marke „Rubios“, in Flammen auf. Weil der „Weltpräsident“ offenbar eine Schwäche für Hochprozentiges hat, landet auch der Schnaps aus dem Flachmann im Feuer. Doch zuerst nimmt er selbst noch einen Schluck.

Weiter geht es mit der Austreibung böser Geister. Wie bei uns zu Silvester. Ein lautes Knallen erschreckt uns. Ein paar Sträucher in der Umgebung scheinen zu explodieren. Fängt die Heilige Maria zu spucken an? Nein, der Vulkanpriester hat eine Ladung Chinakracher im Gestrüpp gezündet. Die Vulkanspitze ist jetzt geisterfreie Zone. Der „Weltpräsident“ ist nicht erschienen.

Es ist Zeit, Gott anzurufen. Ein paar rote Kerzen - ab in die Flammen! - stellen den Kontakt her. Unser Vulkanmann hat einen langen Wunschzettel. Pathetisch wirft er die Arme hoch. Jetzt fordert er Quetzal. Es geht um viel Geld. Erst bittet er den Allmächtigen um tausend Quetzal. „Heute noch, großer Gott, oder morgen.“ Er redet sich in Rage. Jetzt will er auf einmal Milliarden Quetzal. Denn er habe doch so viele Kerzen geopfert. Wie viele eigentlich? Frage an den Pudelmützen-Meßdiener. Aber der weiß es auch nicht.

Macht nichts, jetzt verlangt der Bergpriester Häuser, für sich und seine Familie. Und Autobusse - aber nur die billigen camionetas, die alten Klapperkisten. Und noch mehr: Gott solle auch Toyotas und ein paar Karossen mit dem Stern spendieren. Dann zündet der Zeremoniar sich eine Zigarette an. Allmählich können wir das Lachen nur noch schwer unterdrücken. Aber die beiden Indios nehmen uns anscheinend gar nicht wahr. Es folgen weitere Fürbitten. Für den Meßdiener: Auch ihn möge der Herr mit vielen Toyotas und Quetzal segnen. Schließlich habe er doch stets sein Haus reingehalten.

Wir machen uns auf zum Abstieg. Ein paar einheimische Jugendliche äffen den „Gottesdienst“ nach. Der Herrgott möge doch auch ihnen eine Milliarde Toyotas überlassen. Wir müssen zurück nach Quetzaltenango. Fünfzehn Kilometer sind es mindestes zu Fuß. In einem Favela-Dorf hält plötzlich ein Pick-Up neben uns an. Ob wir nach Quetzaltenango wollen? Mitfahrgelegenheiten in Guatemala sind selten, und oft ist ihnen nicht zu trauen. Ein paar Jugendliche aus der Favela steuern den Wagen. Sie wollen kein Geld. Auf Englisch sagen sie: „That’s common sense“, das ist Gemeinsinn - in einem Land, wo Mord, Hunger und der „Weltpräsident“ das Sagen haben. Das Fahrzeug ist ein Toyota - wie von Gott geschickt.

Tage später in Quetzaltenango. Vermummte Gestalten werfen Nägelbretter auf die Straße und zwingen die Autofahrer, anzuhalten. Wer noch keine Plakette an der Windschutzscheibe kleben hat, wird von den maskierten Gestalten zur Kasse gebeten. Auf den Straßen von Quetzaltenango ist der Teufel los, der „Weltpräsident“. Der hat viele Maskengesichter: die des Militärs, der Polizei, des irdischen Präsidenten, der Großgrundbesitzer und natürlich das von Uncle Sam. Andere haben Ku-Klux-Klan-Kostüme angelegt. Einige Häuserfassaden wurden mit Pech beschmiert, auch das Gebäude des Rotarier-Clubs. Der hatte die „Spende“ an die Vermummten verweigert.

Quetzaltenango und seine 140.000 Bewohner erleben den berüchtigten Huelga de Todos los Dolores del Pueblo de Guatemala, den „Schmerzensstreik“ der Studenten. Jedes Jahr zwei Wochen vor Ostern demonstrieren verkleidete Jugendliche mit Lärm, Umzügen, Theater und sanftem Terror gegen die soziale Schieflage in ihrer Heimat. „Land des ewigen Frühlings“ heißt die Reiseführeretikette für Guatemala. „Land der ewigen Diktatur“ nannten es seine Einwohner lange Jahre.

35 Jahre Bürgerkrieg, Krieg um Land und Gerechtigkeit, Krieg zwischen rechtsgerichteten Militärdiktaturen und einer linken Rebellenallianz, haben Guatemala fast zum Grab werden lassen. Zur Jahreswende 1996/97 wurde Frieden geschlossen. Aber die Armut blieb, vor allem die der Indios. Von den 12,7 Millionen Einwohnern Guatemalas sind fast zwei Drittel Indigene.

Das erpreßte „Schmerzensgeld“ geht an Altenheime und Krankenhäuser. Der „Schmerzensstreik“ der Studenten ist bitterer Ernst in einem Land, in dem die Vorhänge zugezogen werden, bevor man Fremden ein Video über Guatemalas Friedensnobelpreisträgerin, die Maya-Christin Rigoberta Menchú, zeigt. Oder über die Habenichtse, die auf den Mülldeponien von Guatemala-Stadt vegetieren. Kein Student würde ohne Maske bei den Streikumzügen eine Collage tragen, die den Präsidentenkopf auf einem Affenrumpf zeigt. Aus Angst, für immer zu verschwinden in einem Land, in dem die Justiz mit der impunidad, der Straflosigkeit, noch immer ihre schützende Hand über die Militärs und ihre Häscher hält.

Dem „Schmerzensstreik“ folgt wenige Tage später eine Parade der Frömmigkeit. Am Palmsonntag. Luis Ramírez, mein Spanischlehrer, erzählte mir eine traurig-komische Geschichte. Auch in Quetzaltenango, sagte Luis mir, seien die Menschen sehr fromm, die Ladinos - die Mischlinge - wie die Indios.

Einmal zu Palmsonntag sah Luis durch die Straßen und Gassen von Quetzaltenango eine Marienprozession ziehen. Die schwere, mit Blattgold und Nippes behangene Marienstatue schwankte über den Schultern zweier kräftiger Männer. In einer Gasse stieß die Mutter Gottes plötzlich gegen eine tiefhängende Stromleitung, und das Gewand der Marienstatue fing Feuer. Und auch die beiden Männer, die sie trugen, standen im Nu in Flammen. Unter den Teilnehmern und Zuschauern der Prozession entstand Panik: Die Heilige Mutter Gottes brannte! Ein Pulk von Menschen stürzte sich auf die Madonna und versuchte, mit Kleidungsstücken oder dem eigenen Körper den Madonnenbrand zu löschen. Für die beiden Träger aber interessierte sich erstmal niemand. Das irdische Leben zählt nicht viel in Guatemala, die Symbole einer späteren, einer himmlischen Welt zählen alles.

Wenn ich aber die Palmsonntagsprozession Guatemalas sehen wolle, riet mir Luis, dann müsse ich nach Antigua, in die alte koloniale Hauptstadt, kaum eine Autostunde von der Hauptstadt Guatemala-Stadt entfernt.

Palmsonntag in Antigua. „Hosianna“-Rufe werfen mich aus dem Bett. Morgens um acht zieht eine erste kleine Prozession durch die Stadt. Jesus auf einem Esel. Der richtige Jesus kommt aber erst noch, dies war nur ein inoffizieller Heiland. Antigua, die Stadt zwischen den drei Vulkanen, ist die ideale Kulisse für das biblische Spektakel. Der Sinn für katholischen Protz, für Prachtbauten mit Barock- und Renessaince-Fassaden hat alle Erdbeben überdauert, immerhin sechzehn seit der Gründung der Stadt im Jahr 1543. Einige Kirchen- und Klostenruinen erinnern an das vorerst letzte Beben, das von 1976.

Elf Uhr morgens. Antigua bebt wieder: vor Menschen, vor Frömmigkeit. Man könnte meinen, auf den Straßen werde ein monumentaler Passionsfilm gedreht. Aber kein Pier Paolo Pasolini führt hier Regie, keine Hollywood-Sternchen geben den Jesus, den Pilatus und die Maria. Die 35.000 Einwohner Antiguas feiern Oberammergau auf Lateinamerikanisch.