DNA

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Aus der Reihe: Das Böse hat einen Namen #1
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ZWÖLF

>>Oh Meister Li, ich wollte dich nicht stören<<, Professor Jintao wäre beinahe über Li Song gefallen, der in der schwindenden Abendsonne an einen Baum gelehnt, meditiert.

>>Du störst mich nicht Juan, komm setz dich zu mir.<<

>>Darf ich fragen, wie du mit dem Training von Nicole voran kommst?<<

>>Gut Juan, sehr gut sogar.

Sie wird die Zeit als meine Schülerin bald beenden können, Nicole ist eine sehr gelehrige Schülerin, wofür andere bis zu fünf Jahre benötigen, hat sie in den letzten beiden Jahren geschafft, ich bin sehr stolz auf sie. Sie ist allerdings auch eine sehr ungewöhnliche Person<<, fügt Li Song lächelnd hinzu und spielt damit auf Nicols Mutation an. >>Ich werde ihr nicht mehr viel beibringen können, allerdings überraschte sie mich vor ein paar Tagen mit einer äußerst außergewöhnlichen Fähigkeit, selbst für ihre Verhältnisse<<, fügt er nachdenklich hinzu.

Als Professor Jintao ihn nur fragend ansieht, fährt Li Song fort.

>>Ich wollte Nikols Reflexe testen und schlich mich an sie heran, doch hatte ich nicht die Möglichkeit, mich ihr wirklich zu nähern. Als ich noch mindestens zwei Meter von ihr entfernt war, sie hatte mir den Rücken zugewandt, da spricht sie mich an. Ich weiß was du jetzt einwenden willst, Juan, sie könnte mich gehört haben, ich schwöre dir, das war unmöglich. Beide Hunde, die neben ihr lagen, reagieren sofort auf mich, sobald ich auch nur in der Nähe bin, Nicole war schneller. Kann es sein, dass sie Fähigkeiten hat, von denen du mir nichts erzählt hast?<<

>>Nein Meister Li<<, erwidert der Professor besorgt.

>>Ich habe dir alles über Nicole erzählt, allerdings erwarte ich einen weiteren Mutationsschub bei ihr. Kann es möglich sein, dass Nicole mir nichts davon erzählt hat<<, überlegt er laut?

>>Wovon habe ich dir nichts erzählt „Onkel“?<<

Nicole ist unbemerkt an den Baum herangetreten.

>>Du sollst dich nicht immer so anschleichen<<, empört sich der Professor, >>ich bekomme noch einmal einen Herzinfarkt.<<

>>Tut mir Leid, entschuldige ich mich zerknirscht, es war nicht meine Absicht euch zu erschrecken, auch wollte ich nicht lauschen. Ich war auf der Suche nach Meister Li und dachte mir, dass ich ihn hier finden werde.<<

>>Was gibt es denn mein Kind<<, wendet sich Li Song an mich.

>>Ich bin mir nicht sicher, kann es sein, dass unser Training meine Sinne derart geschärft hat, dass ich Gefahr riechen kann?<<

„Onkel“ Juan, sieht mich überrascht an und Meister Li lächelt. >>Das ist eher unwahrscheinlich Nicole, es gibt Shaolin Mönche, die nach jahrelangem Training die Fähigkeit besitzen, eine nahende Gefahr zu spüren, aber dafür reicht dein Training nicht aus.<<

Verwirrt und fragend sehe ich meinen den Professor an.

>>Kann es sein, dass du einen Schub hattest Nicole? Du weißt, dass ich seit Langem damit rechne, wir sollten am besten in mein Labor gehen, ich möchte dir gerne Blut abnehmen, um deine DNA zu überprüfen<<, bestimmt der Professor aufgeregt.

Langsam und nachdenklich folge ich ihm.

Während er mir Blut abnimmt, steigt mir der Geruch des Blutes derart in die Nase, dass ich mich beinahe übergeben muss und plötzlich fällt mir auf, dass ich auch „Onkel“ Juan riechen kann, obwohl er ungefähr zwei Meter von mir entfernt, an seinem Labortisch steht.

>>„Onkel“?<<

>>Ja Nicole, es dauert eine Weile, du kannst inzwischen gerne nach oben gehen.<<

>>Ich kann dich riechen<<, ich weiß, wie dumm sich das anhören muss, aber ich bin im Moment so überwältigt von den neuen Eindrücken, dass ich einfach nur staunend die Nase in die Luft halte und definitiv feststelle, dass sich mein Geruchssinn enorm verstärkt hat.

Überrascht sieht „Onkel“ Juan mich an.

>>Du kannst was?<<

>>Ich rieche deinen Körpergeruch bis hierher<<, erkläre ich ihm lachend, >>soll nicht heißen, dass du stinkst<<, ergänze ich kichernd. >>Im Ernst, mein Geruchssinn hat sich enorm gesteigert, mir ist das gerade eben, als du mir Blut abgenommen hast, erst richtig bewusst geworden.<<

>>Li hat mir eben erzählt, was geschehen ist, als er dich vor ein paar Tagen von hinten angreifen wollte, hast du ihn da auch gerochen?<<

>>Das war irgendwie anderes, aber ähnlich<<, erinnere ich mich nachdenklich. >>Ganz plötzlich stellten sich meine Nackenhaare auf und erst dann habe ich etwas gerochen, oder vielmehr bemerkt, es war eine Art Anspannung, die aber nicht von mir kam und mit einem Mal wusste ich, ich werde angegriffen und ein paar Sekunden später, ich wollte mich schon umdrehen, konnte ich Meister Li tatsächlich riechen, du hast recht.<<

>>Er ist sehr zufrieden mit deinem Training, heute sagte er mir, dass er dir nicht mehr sehr viel mehr beibringen kann, du bist eine sehr gute Schülerin, das waren seine Worte.<< Der Professor kann kaum verbergen, wie stolz er auf Nicole ist.

>>Das freut mich sehr, aber da hat Meister Li doch sehr übertrieben<<, lächle ich meinen „Onkel“ dankbar, für das Lob an, >>so gut wie Meister Li werde ich wohl nie werden, ich glaube, wenn er wollte, könnte er über Wasser gehen.<<

>>Na, na, er ist nicht Buddha<<, scherzt der Professor, wird dann aber schnell wieder ernst. >>Ich muss hier weitermachen Nicole, deine Ausführungen bestätigen meine Befürchtungen, du hattest sicher einen Schub, ich möchte aber ganz sicher gehen.<<

>>Ist gut, ich warte oben auf dich.<<

Kaum im Erdgeschoss angekommen, klingelt das Telefon. Ein sehr selten erklingendes Geräusch in diesem Hause, da nur sechs Personen im Besitz der Telefonnummer sind, drei davon befinden sich im Haus, Meister Li, „Onkel“ Juan und ich, Resi würde nicht anrufen, sie kommt vorbei wenn sie etwas mitzuteilen hat, bleiben nur noch Rechtsanwalt Hoffmann oder MAD Major Berger, den ich vor Wochen angerufen hatte und ihn bat, mich bei nächster Gelegenheit, hier in Österreich auf zu suchen.

Es ist MAD Major Berger, der mir kurz mitteilt, dass er morgen mit der ersten Maschine in Salzburg landet und sich eine Wegbeschreibung geben lässt.

Endlich, lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Zunächst hatte ich ihm einen langen Brief geschrieben, das ist einige Monate her, in dem ich ihm mitteilte, was mit meinen Eltern geschehen ist, dass ich von meinem Vater seine Adresse erfahren und über die Zusammenarbeit mit ihm Bescheid wisse. Ferner habe ich ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass ich beabsichtige, die Arbeit meines Vaters fort zusetzen. Worauf er mir dann in einem Brief abriet, mich jedoch kurze Zeit später anrief um mir mitzuteilen, dass er in den nächsten Wochen geschäftlich in Salzburg zu tun hätte und bei dieser Gelegenheit gerne mit mir zusammentreffen würde.

Als „Onkel“ Juan das Wohnzimmer betritt, möchte ich ihm die Neuigkeit, dass Major Berger morgen kommt sofort mitteilen, aber der Professor hört mir gar nicht zu, sondern drängt mich in sein Labor und ich muss Hirnstrommessungen, EKG und was weiß ich, welche Untersuchungen, über mich ergehen lassen.

Er ist sich ganz sicher, es hat sich ein neuer Mutationsschub eingestellt.

DREIZEHN

MAD Major Michael Berger kommt mit einem gemieteten Wagen gerade rechtszeitig zum Mittagessen. Obwohl nicht in Uniform, sondern in einen zivilen Anzug gekleidet, kann Major Berger seine militärische Ausbildung nicht verleugnen.

Die gerade, um nicht zu sagen stocksteife Haltung, lässt keinen Zweifel aufkommen, wen man vor sich hat. Menschen die es gewöhnt sind, dass man ihren Befehlen Folge leistet, haben eine ganz eigene Art, sich zu bewegen. Jede Bewegung und jeder Blick drücken eine Selbstsicherheit aus, die nicht von jedem Menschen als angenehm empfunden wird. Dieser Eindruck wird noch durch seine stattliche Größe und sein markantes aber nicht unattraktives Gesicht unterstützt. Er hat sehr volles dunkelbraunes Haar, natürlich militärisch kurz geschnitten, einen sportlichen, durchtrainierten Körper und einen sehr vollen, sinnlichen Mund, der seine Gesichtszüge etwas weicher erscheinen lässt.

Die Unterhaltung gestaltet sich zu Beginn sehr schwierig, da Major Berger nicht davon zu überzeugen ist, dass ich die Arbeit meines Vaters weiterführen möchte. Immer wieder führt er die Gefährlichkeit dieses Unternehmens an, vor allem im Hinblick darauf, dass ich eine Frau bin. Hätte nur noch gefehlt und bei ihm hörte es sich tatsächlich so an, als hätte er n u r eine Frau, gesagt.

 

Nachdem ich mich durch Blickkontakt, mit meinem „Onkel“, seines Einverständnisses versichert habe, kläre ich Major Berger auf. Ich erzähle ihm von meiner Mutation und nachdem Meister Li ihm noch bestätigt, dass ich in der Kampftechnik der Shaolin ausgebildet bin, knickt Major Berger endlich ein.

>>Stellen sie sich das nicht so einfach vor, beginnt er immer noch skeptisch. Die illegalen Labore hier in Deutschland sind meist an russische Konsulate angeschlossen, so dass wir keinen Zugriff auf sie haben, oder sie sind so gut getarnt, dass ihnen bis heute nichts nachgewiesen werden konnte. Wir wissen, dass diese Institute mit den Russischen in enger Verbindung stehen, jedoch sind uns die Hände gebunden. Die russische Regierung will in dieser Angelegenheit nicht mit uns zusammenarbeiten, was auch verständlich ist, wenn man davon ausgeht, dass mit diesen „modifizierten“ Leuten, wie man diese Personen inzwischen nennt, der Geheimdienst und das Militär bereichert werden soll und an die, so genannten „Sanatorien“ in Deutschland, kommen wir nicht heran. Nicht ohne Beweise und diese konnten bis heute nicht beschafft werden<<, fügt er resigniert hinzu.

>>Ihr Vater hat sehr viel Geld und Zeit in die Beschaffung von Informationen über die illegalen Labore investiert, aber selbst ihm ist es nicht gelungen, Beweise zu beschaffen.<<

>>Mir wird des gelingen<<, erwidere ich selbstbewusst.

>>Ich bin fest entschlossen, diesen Leuten das Handwerk zu legen und ich habe ganz andere Möglichkeiten als mein Vater. Wenn sie möchten, können sie sich gerne selbst davon überzeugen<<, ich lächle Meister Li herausfordernd an. >>Wollen wir ihm zeigen, was ich kann?<<

Leider lässt Major Berger sich auf keine Demonstration ein.

>>Ich möchte ihre Fähigkeiten nicht schmälern Frau Arnold<<, wendet er sich direkt an mich, >>es ist nur so, ich habe bereits einen guten Freund, ihren Vater, im Kampf gegen diese Verbrecher verloren, ich könnte mir nie verzeihen, wenn auch ihnen etwas geschehen würde. Ihr Vater würde mir dies nie verzeihen, auch wenn er nicht mehr lebt, möchte ich eine solche Schuld nicht auf mich laden.<<

>>Herr Major, ob mit ihnen, oder ohne sie, ich werde den Kampf gegen diese Leute aufnehmen, sie entscheiden, ob sie mir dabei behilflich sind oder nicht<<, widerspreche ich ihm entschieden.

Er sieht mich lange nachdenklich an, bevor er antwortet.

>>Stur wie der Vater. In Ordnung Frau Arnold, wenn sie nach Deutschland kommen, werden ihnen alle Informationen, die mir vorliegen, zur Verfügung stehen. Informieren sie mich einen Tag vor ihrer Ankunft und wir verabreden einen Treffpunkt, an dem ich ihnen die Adressen der Institute übergeben kann.<<

VIERZEHN

Für die Abreise ist alles bereit, mein Koffer ist gepackt, das Zimmer in einem Hotel in München reserviert und ein Motorrad steht zur Nutzung, für mich bereit. Um zügig durch den Münchner Straßenverkehr zu kommen, ist es wesentlich sinnvoller, sich auf zwei, als auf vier Rädern zu bewegen.

Als ich im Alter von 18 Jahren begann, meinen PKW Führerschein zu machen, über-redete mein Vater mich, gleich den Motorradschein anzuschließen. Er war ein begeisterter Motorradfahrer und steckte mich mit seiner Leidenschaft, nach anfänglichem Zögern, an. Ich liebte die Wochenenden, wenn wir uns auf die Maschinen schwangen und kleine Touren unternahmen, die wir vorher bis ins kleinste Detail durchorganisierten. Mein Vater liebte keine Überraschungen, ohne vorherige Planung unternahm er kaum etwas, ein Grund mehr, dass mich seine Bemühungen, um die Vereitelung der illegalen Genforschung, so sehr überraschten. Dies passte nicht in das Bild, welches ich von ihm bis dahin hatte. Kannte ich meinen Vater und meine Mutter denn wirklich? Eine Frage, die ich auch meinem „Onkel“ stelle.

>>Dein Vater hat sich nach bekannt werden deiner Mutation und den Informationen, die er später über die illegalen Versuche an Menschen erhielt, verändert, das ist richtig. Er hat sein Leben verändert, jedoch nicht sein Wesen<<, erklärt der Professor. >>Dein Vater hat mich nicht in alle seine Aktivitäten eingeweiht, wie direkt er sich mit der Suche nach Instituten und Sanatorien beschäftigt hat, habe auch ich erst aus seinem Brief erfahren, doch trotz dem Schrecklichen, das er erfahren hat und der Erkenntnis, wie wenig er dagegen tun kann, ist er der Selbe liebenswürdige, verlässliche und aufrichtige Mensch, Vater und Freund geblieben, der er vorher war. Er war nie verbittert, wenn er wieder einmal einen Rückschlag in seinen Bemühungen erleiden musste, hat die Schuld immer bei sich selbst gesucht, oder die Verantwortung dafür übernommen, so war dein Vater Nicole, darin bist du ihm übrigens sehr ähnlich.<<

Plötzlich erinnere ich mich daran, dass wir noch nicht darüber gesprochen haben, wie es mit meinem „Onkel“ und Meister Li weitergeht, wenn ich Österreich verlasse. Obwohl uns allen dreien seit Tagen klar ist, dass ich nach Deutschland zurückkehre, haben wir das Gespräch immer wieder aufgeschoben. Jetzt lässt es sich nicht mehr vermeiden, ich möchte morgen sehr früh abreisen und mache mich deshalb auf den Weg in den Garten, in der Hoffnung, dort auf Meister Li zu treffen.

Bereits seit dem ersten Tag, als Li Song hier angekommen ist, meditiert er jeden Abend, kurz vor Sonnenuntergang, bei Wind und Wetter, unter der alten Linde, dieses Bild hat sich seit zwei Jahren in meinen Kopf eingeprägt und ich fühle bereits jetzt, wie sehr ich es vermissen werde. Dieses Bild der Ruhe im Einklang mit der Natur. Der buddhistische Mönch, in tiefer Meditation versunken, den Rücken an die Linde gelehnt und zu seinen Füßen die beiden Hunde. Selbst mir sehen die zwei misstrauisch entgegen, wenn ich in die Nähe dieses Ortes komme, als wüssten sie genau, dass Meister Li im Moment angreifbar ist und sie ihn beschützen müssen. Ich habe es nie herausgefordert, zu testen, wem die Loyalität meiner Hunde wirklich gehört, aus Respekt vor dem Meister und um die Beiden nicht in Gewissenskonflikte zu bringen, wenn man bei Hunden überhaupt von Gewissen reden kann, habe ich darauf verzichtet, mich zu dieser Zeit dem Meister zu nähern.

In den vergangen zwei Jahren habe ich Meister Li sehr ins Herz geschlossen. Nicht nur, dass er mich für meine Mission perfekt ausgebildet hat, er hat mir auch sehr in meinem Schmerz über den Tod meiner Eltern hinweg geholfen. Ich erinnere mich noch, wie er, ich war wie anfangs so oft, tieftraurig in Gedanken versunken allein auf unserem Grundstück unterwegs, als er plötzlich, wie aus dem Nichts neben mir steht und mir das Prinzip des „Loslassen“, im Buddhismus erklärt.

Diese Erinnerung zaubert ein leichtes Lächeln auf mein Gesicht. Ich war anfangs richtig sauer, hörte ihm nicht zu, alles was ich damals verstand war – lass den Schmerz an deine Eltern los, vergiss sie. So hatte ich seine Worte verstanden und konnte damit nicht falscher liegen.

„Loslassen ist der Schlüssel zum Glück“.

Dies ist ein Leitsatz von Buddha dem alle Buddhisten versuchen zu folgen. Sehr einfach und doch unsagbar schwer, es geht im Grunde um die Vermeidung von „Leid“. Wir Menschen schütten uns zu mit Konsumgütern, hängen uns an Menschen die manchmal gar nicht gut für uns sind, vielleicht nur, um nicht allein zu sein. Wir streben nach Macht, Erfolg und Geld. Doch was passiert, wenn wir alles oder eines dieser Dinge verlieren, oder unsere hoch gesteckten Ziele nicht erreichen. Wir leiden.

Im Buddhismus bedeutet der Begriff „Leid“ auch Ärger, Missgunst, Neid, Trauer und noch etliche weitere negative Emotionen. Indem wir „loslassen“ verringern, oder vermeiden wir Leid. Am einfachsten geht das noch mit Konsumgütern. Jeder der schon einmal in einer Ausnahmesituation war, eine schwere Krankheit überstanden hat, arbeitslos war, den Verlust eines geliebten Freundes zu beklagen hatte, oder ähnliches, hat sicherlich festgestellt, dass es viel wichtiger Dinge gibt, als Geld, Macht und Einfluss. Im Grunde brauchen wir Menschen ein Dach über dem Kopf, genug zu Essen und Kleidung damit wir nicht frieren. Gut etwas Kunst und Kultur kann auch nicht schaden, doch wenn wir wirklich ernsthaft darüber nachdenken was wichtig in unserem Leben ist, sind es meist nicht die Dinge denen wir täglich nachlaufen und die wir unbedingt zu erreichen versuchen.

Das verursacht „Leid“.

Wir sind gestresst, haben keine Zeit für unsere Freunde oder Familie, was weiteren Streit und Ärger verursacht. Zeit, ein unheimlich wichtiger und in unserer heutigen Welt unbezahlbarer Faktor. Denken wir darüber nach, wie viel Zeit wir in unserer täglichen Arbeit verbringen. Wir arbeiten teilweise 10 Stunden täglich, oder sind doch mit An- und Abfahrt zur Arbeitsstelle ungefähr solange außer Haus. Bei genauer Betrachtung leben wir fast ausschließlich für die Wochenenden und Urlaube. Vielleicht stecken wir auch noch in einem Job fest, den wir nicht wirklich mögen, er uns aber viel Geld einbringt. Wir werden immer unzufriedener, wir beginnen zu Kompensieren. Die Wochenenden müssen für einen Ausgleich der stressigen Woche sorgen. Manche stürzen sich in sportliche Aktivitäten, die meisten jedoch konsumieren. Shoppen gehen, sich in welche Abenteuer auch immer stürzen, oder sich mit Alkohol die Situation schön trinken. Jeder hat seine eigene Strategie, doch es ist was es ist – Kompensation.

Eine Freundin meiner Mutter hat einmal einen sehr wichtigen Satz gesagt, den ich seit dem nie mehr vergessen habe. Sie arbeitete ehrenamtlich als Sterbebegleiterin und erzählte meiner Mutter in einem Gespräch von ihren Erfahrungen, dabei erwähnte sie, sie hätte in den letzten Stunden eines jeden Menschen, den sie begleitet habe schon so einiges gehört, doch niemals den Satz.

Ich hätte viel mehr arbeiten sollen“.

Meister Li erklärte mir an einem Beispiel, dass „Loslassen“ auch mehr Freiheit bedeuten kann.

>>Den Jugendlichen und Heranwachsenden in den Industrienationen wird ein PKW als Freiheit verkauft. Sieh dir nur die Werbung der Automobilindustrie an und du musst mir recht geben. Nehmen wir also einmal an, du bist eine alleinstehende Frau im Berufsleben. Allein um ein Auto zu finanzieren müsstest du, wenn du, mal angenommen du bist keine Akademikerin, mindestens einen gut dotierten Ganztagsjob haben um ein Fahrzeug zu finanzieren. Du könntest es dir nicht leisten, den Arbeitsplatz einfach zu kündigen, oder dir einen Job zu suchen der dir vielleicht besser gefällt, aber nicht so viel Gehalt einbringt. Du bist abhängig.

Du hast dich selbst in diese Abhängigkeit begeben, allein dadurch, dass du unbedingt ein Auto benötigst, welches dir angeblich alle Freiheiten bietet. Ein Trugschluss, dem leider sehr viele Menschen unterliegen. Davon mal ganz abgesehen, dass du ohne dieses Fahrzeug deine Arbeitszeit vielleicht sogar noch reduzieren könntest und somit noch mehr Freizeit und damit Freiheit hättest.<<

Es hat etwas gedauert, bis ich verstanden habe, was Meister Li mir vermitteln wollte. Abhängigkeiten steigen mit der Zunahme an angeblich unverzichtbaren Gütern mit dem Versprechen auf mehr Freiheit und/oder Bequemlichkeit. Bei genauerer Betrachtung aber, schränken sie meinen freien Willen ein und machen mich abhängig.

Nun kann man das „Loslassen“ von Dingen noch nachvollziehen und probiert man es einmal aus, stellt man tatsächlich fest, es stimmt. Doch wie ist das mit Gefühlen, denn Buddha schließt auch das „Loslassen“ von Gefühlen, ja sogar das „Loslassen“ von Menschen und Beziehungen mit ein.

Meister Li erklärte es mir so.

>>Die Trauer um jemanden den man geliebt hat ist ebenso schwer zu ertragen, wie auch das Ende einer Beziehung sehr leidvoll sein kann. Daran ist nichts Schlechtes, im Gegenteil, Trauer ist ein sehr wichtiger Bestandteil unserer vielfältigen Emotionen. Was jedoch schädlich sein kann, ist das Verhaften, das Verweilen in der Trauer. Manche Menschen verlieren sich darin und das hängt oft daran, dass sie nicht „Loslassen“ können. Oft setzen die Menschen „Loslassen“ mit Vergessen gleich, doch das stimmt nicht. Auch du hast verärgert reagiert, als ich dich bat, deine Trauer loszulassen<<, setzt der Mönch lächelnd hinzu.

 

>>Niemand erwartet, oder verlangt, dass man nicht mehr an den geliebten Menschen denkt, doch wieso muss ich mich in Trauer an ihn erinnern? Lass die Freude wieder zu, denke an die schöne Zeit. Freue dich darüber, dass du Zeit mit ihnen verbringen durftest. Lass die schönen Moment die Überhand gewinnen. Weine um den geliebten Menschen, aber halte dich nicht an dem Leid fest.<<

Ich habe es ausprobiert und es war genauso wie Meister Li es gesagt hat. Es benötigte etwas Zeit, aber heute falle ich nicht mehr in ein tiefes Loch, wenn ich an den Verlust meiner Eltern denke. Ich vermisse sie ja, doch viel höher wiegt heute das Glück sie als geliebte Menschen gekannt zu haben und die Zeit die mir mit ihnen geschenkt wurde.

Buddha sagt:

Glaube nichts, hinterfrage und teste alles, auch das was ich euch erzähle.

Deshalb ist Buddhismus nichts für Feiglinge, wie ich es auch gerne ausdrücke und deshalb liebe ich diese Weltanschauung, denn eine Religion ist es für mich nicht. Ich darf alles was Buddha gelehrt hat auf seine Richtigkeit überprüfen und muss nichts glauben.

Heute sitzt Meister Li mit dem Professor unter der Linde, sie unterhalten sich, absichtlich schirme ich mein Gehör ab, ich möchte nicht lauschen und mache mich deshalb von Weitem, durch lautes Rufen bemerkbar.

>>Hallo ihr zwei, ich habe gehofft euch hier zu treffen.<<

Meister Li und „Onkel“ Juan sehen mir erwartungsvoll entgegen. Mit einem tiefen Seufzer nehme ich zwischen den Beiden Platz. >>Ich werde morgen abreisen<<, komme ich sofort zur Sache, unangenehme Dinge aufzuschieben, war noch nie meine Sache und dieses Gespräch habe ich wirklich lange genug hinaus gezögert. >>Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr hier in unserem Haus bleiben würdet. Erstens kann ich mich dann auf jemanden freuen, wenn ich wieder zurück bin und zweitens habe ich hier die Gewissheit, dass ihr in Sicherheit seid.<< Beinahe flehentlich sehe ich von einem zum anderen und hoffe inständig, dass sie auf meinen Vorschlag eingehen.

>>Ich habe nichts weiter vor<<, wendet sich Meister Li an meinen „Onkel“, >>du etwa?<<

Verschmitzt lächelt der Professor mich an, >>wir bleiben sehr gerne hier, wenn du das möchtest<<, fügt allerdings dann ernst hinzu, >>obwohl ich einige Tage mit mir gerungen habe, erst wollte ich dich nach Deutschland begleiten, aber Li hat mich überredet, es nicht zu tun.<<

>>Ihr wisst seit Tagen, dass ihr hier bleiben wollt und lasst mich die ganze Zeit im Unklaren?<< Empöre ich mich künstlich, mit einem breiten Lächeln.

>>Seit Tagen laufe ich mit Trauermine herum, weil ich nicht weiß, wie ich euch dazu überreden kann hier zu bleiben, ganz davon abgesehen, wie schwer mir die Trennung, wenn auch nur auf Zeit, fällt.<<

Überglücklich falle ich abwechselnd „Onkel“ Juan und Meister Li um den Hals.

>>Ich liebe euch Beide, ihr wunderlichen alten Männer<<, scherze ich, was uns herzlich zum Lachen bringt.

***

Der Abschied am nächsten Morgen ist, wie meinerseits erwartet, sehr tränenreich, ich werde die Beiden, die inzwischen wie eine Familie für mich geworden sind, schmerzlich vermissen.

Nachdem ich mich zum wiederholten Male bei dem Professor rückversichert habe, dass Resi jeden zweiten Tag nach dem Rechten sehen wird, gelingt es mir endlich, mich ins bestellte Taxi zu setzen, welches mich nach Salzburg zum Flughafen bringt.

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