Recht im E-Commerce und Internet

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Aus der Reihe: Kommunikation & Recht
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VI. Anfechtung des Vertrages

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Ist der Vertrag geschlossen, so sind die Fälle zu betrachten, bei denen bei der Vertragsanbahnung bzw. beim Vertragsschluss Fehler oder Irrtümer auftraten. Diese berechtigen u.U. zur Anfechtung und eröffnen damit dem Anfechtenden die Möglichkeit, sich vom Vertrag wieder zu lösen.148

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Bei der elektronischen Kommunikation sind beispielsweise folgende Fallkonstellationen denkbar:

 – Irrtümer des Bestellers oder des Anbieters (Beispiele: Besteller geht davon aus, Informationen über ein Produkt anzufordern, während er es in Wirklichkeit bestellt; Besteller vertippt sich und bestellt eine falsche Menge bzw. das falsche Produkt; Anbieter nutzt zur Kalkulation seines Angebots eine falsche Datenbasis, z.B. veraltete Preisliste);

 – Fehler bei der Datenübertragung (Fehler bei der Übertragung einer Willenserklärung, der entweder zum Totalverlust, zu nicht entzifferbarem Inhalt [„Datenmüll“], zu einer Sinnentstellung oder aber beispielsweise zu einer nicht gewollten Preisangabe führt);

 – Computerfehler (Hard- oder Softwarefehler; Beispiel: durch fehlerhafte Programmierung wird eine falsche Gesamtsumme für ein Angebot berechnet).

1. Irrtümer des Bestellers oder des Anbieters

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Diese Fälle lassen sich nach den hergebrachten Irrtumsregelungen sachgerecht lösen, weil im Falle von Fehlern bei der Abgabe der Willenserklärung (Vertippen, Verschreiben) der Vertrag gem. § 119 Abs. 1 BGB angefochten werden kann. Irrt der Besteller darüber, dass er mit seinem Mausklick ein rechtswirksames Angebot abgegeben hat, so ist zu differenzieren: Wollte der Besteller prinzipiell eine rechtliche Erklärung abgeben, irrte also nur über die Tragweite, ist § 119 Abs. 1, 1. Alt. BGB einschlägig, weil der Besteller gar kein Angebot abgeben wollte (Irrtum über den Erklärungsinhalt). Im Ergebnis zwar gleich, in der Begründung aber anders zu beurteilen ist der Fall, dass sich der Besteller überhaupt nicht darüber bewusst ist, eine rechtliche Erklärung abzugeben. Dann fehlt es – ähnlich wie im berühmten Trierer Weinversteigerungsfall – bereits am Erklärungsbewusstsein, sodass die Regeln über die Anfechtung nicht direkt passen.149 Es ist eine analoge Anwendung geboten. Hat sich der Besteller bei der Bestellung verschrieben, so ist § 119 Abs. 1, 2. Alt. BGB einschlägig (Irrtum in der Erklärungshandlung).150 Die Probleme einer Irrtumsanfechtung nach § 119 Abs. 1 BGB liegen in der Praxis regelmäßig auf der Ebene der Beweisbarkeit des Irrtums. Im Internetrecht gelten die allgemeinen Grundsätze, wonach sich derjenige, der sich auf die für ihn günstige Rechtsfolge der Irrtumsanfechtung beruft, sämtliche tatbestandlichen Voraussetzungen und damit den Irrtum beweisen muss.151

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Liegt der Irrtum hingegen im Vorfeld der Abgabe einer Willenserklärung, wie z.B. bei der Berechnung eines Angebots auf der Basis falscher Preislisten, so liegt ein verdeckter Kalkulationsirrtum vor, der nicht zur Anfechtung berechtigt. Fehler, die im Vorfeld einer Willenserklärung auftreten und die sich dann auch in der Erklärung niederschlagen, sind unbeachtlich.152

2. Fehler bei der Datenübertragung

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Treten Fehler bei der Weiterleitung der Bestellung auf, so sind verschiedene Konstellationen denkbar. Wird die E-Mail nicht weitergeleitet, erfolgt kein Zugang und mithin kein Vertragsschluss. Wird die E-Mail unter Abänderung des ursprünglichen Inhalts weitergeleitet, so ist § 120 BGB einschlägig, der wiederum auf § 119 BGB verweist.153 Einen rechtlich ähnlich gelagerten Fall hatte das OLG Frankfurt a.M. zu entscheiden.154 Ein Händler wollte auf seiner Seite einen Computer zum Verkauf einstellen. Er speicherte in seine Datenbank die Ware und den von ihm festgesetzten Preis richtig ein, um diese auf seiner Internetseite zum Kauf anzubieten. Auf seiner Internetseite wurde der Warenpreis aufgrund eines Softwarefehlers seines Providers mit dem Faktor 100 multipliziert. Das Gericht entschied, dass auch eine von einer Software erstellte Erklärung den Regeln der Willenserklärungen unterliegt (Computererklärung, siehe oben Rn. 5ff.), weshalb es einen nach § 120 BGB anfechtbaren Übermittlungsfehler annahm.

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Bei der Kommunikation ohne Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur besteht die Möglichkeit der Manipulation, weil es denkbar ist, dass ein Dritter die Erklärung auf dem Weg zum Empfänger verändert, sodass sich ein anderer Sinngehalt ergibt. Der Fall, dass tatsächlich eine Bestellung bewusst verändert wird, also z.B. statt einem Gegenstand angeblich 10 Gegenstände bestellt werden, ist nach den Regeln über die Vertretung ohne Vertretungsmacht (vgl. §§ 177ff. BGB) sachgerecht zu lösen. Danach wäre z.B. ein Vertrag nur mit Genehmigung wirksam (§ 177 Abs. 1 BGB). Bei unbewusster Veränderung durch Dritte gilt hingegen, dass dann ein Anfechtungsrecht nach § 120 BGB gegeben ist.

3. Computerfehler

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Treten Computerfehler auf, z.B. aufgrund fehlerhafter Programmierung, so war der Vertrag nach einer älteren Ansicht nicht anfechtbar.155 Die fehlerhafte Programmierung lag dabei im Vorfeld der Abgabe der Willenserklärung, sodass hier ein Motivirrtum vorliegen sollte, der nicht zur Anfechtung berechtigte.156 Mittlerweile hat der BGH einen Sachverhalt entschieden, in dem durch einen Softwarefehler der richtig eingegebene Preis einer Ware oder Dienstleistung fehlerhaft abgespeichert bzw. bei einem Abruf per Internet auf dem Bildschirm fehlerhaft dargestellt wurde.157 Auf der Grundlage seiner Erkenntnis, dass das Bereitstellen von Waren auf der Internetseite noch kein gemäß § 145 BGB verbindliches Angebot, sondern eine bloße Aufforderung zur Abgabe von Angeboten darstellt, bejaht er die tatbestandlichen Voraussetzungen des Erklärungsirrtums nach § 119 Abs. 1, 2. Alt. BGB. Er leitet dies aus § 120 BGB ab, indem er den Fall der durch Software falsch übertragenen, ursprünglich richtig eingegeben Daten mit dem Fall einer durch eine Person falsch übermittelten Willenserklärung gleichsetzt. Denn aufgrund fehlerhaften Datentransfers ist ein Übermittlungsfehler vor dem Zeitpunkt des Verlassens des Bereichs des Erklärenden eingetreten. Es handelt sich nicht um einen unbeachtlichen Fehler bei der Willensbildung bzw. in der Erklärungsvorbereitung. Der Erklärende hat seinen Erklärungswillen fehlerfrei gebildet.

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Eine andere Lösung bietet das OLG Düsseldorf für den Fall, dass aufgrund eines Computerfehlers ein Preis ausgewiesen wird, der nur 1 % des Marktwertes beträgt. Erkennt der Käufer dies, der in dem zu entscheidenden Fall sogleich 10 Exemplare eines Generators zum Preis von je 24 € erwarb, so kann – wenn eine Anfechtung nicht wirksam erklärt wurde, weil der Anfechtungsgrund nicht konkret benannt wurde und daher auch ein nicht zur Anfechtung berechtigender Kalkulationsirrtum zu der Preisangabe hätte geführt haben können – der Verkäufer die Abwicklung gleichwohl verwehren. Das ergäbe sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, wenn der Käufer die fehlerhafte Preisangabe erkannt habe und dem Verkäufer das Festhalten am Vertrag nicht zumutbar sei.158 Dies dürfte aber nicht richtig sein, weil auch hier das Risiko einer fehlerhaften Preisabbildung der Sphäre des Verkäufers zuzuordnen ist, zumal für diese Fälle das Anfechtungsrecht zugunsten des vom „Irrtum“ nachteilig Betroffenen konzipiert ist. Hierdurch steht der Erwerber noch schlechter als bei der für ihn ohnehin nachteiligen Anfechtung, da § 122 Abs. 1 BGB nicht eröffnet wäre. Man nehme nur an, er hätte seinerseits die Generatoren schon weiterverkauft und würde dadurch schadensersatzpflichtig werden, obwohl der Fehler des Vertrages nicht auf ihn zurückzuführen ist.

4. Rechtsfolgen

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Zu beachten ist bei einer Anfechtung immer, dass der Anfechtende, häufig der Kunde, der über das Internet etwas bestellt, dem Anbieter bei einer erfolgreichen Anfechtung den Vertrauensschaden gem. § 122 BGB zu ersetzen hat. Dieser Anspruch soll jedoch nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) dann entfallen, wenn der Anbieter seinen Aufklärungs- und Informationspflichten nach den §§ 312i, 312j BGB nicht nachkommt, also z.B. dem Anwender keine Korrekturmöglichkeit hinsichtlich der Bestellung einräumt.159

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Diese Rechtsfolge kann vermieden werden, wenn der Anfechtende ein Verbraucher ist, ein Widerrufsrecht gem. §§ 312g Abs. 1, 355 BGB besteht und innerhalb der Widerrufsfrist widerrufen wird, statt die Anfechtung zu erklären. Dabei ist zu beachten, dass sich die Frist des dem Verbraucher zustehenden Widerrufsrechtes auf zwölf Monate und 14 Tage verlängert, sofern der Unternehmer nicht oder nicht ordnungsgemäß entsprechend den Anforderungen des Art. 246a § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB über das Widerrufsrecht informiert hat (§ 356 Abs. 3 S. 2 BGB).160

5. Anfechtung bei Fernabsatzverträgen

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In der Praxis steht die Anfechtung eines über das Internet geschlossenen Vertrags in aller Regel nicht im Vordergrund, weil für Verträge, die Verbraucher (§ 13 BGB) abschließen, die Regelungen über Fernabsatzverträge gem. §§ 312c ff. BGB einschlägig sind. Ist dies der Fall, besteht ein Widerrufsrecht gem. §§ 312g Abs. 1, 355 BGB, sodass in den genannten Irrtumsfällen keine Notwendigkeit besteht, hier den Vertrag anzufechten. Wenn man den Vertrag widerrufen kann und er infolgedessen rückabgewickelt wird, besteht keine Veranlassung zur Anfechtung, weil das Widerrufsrecht an keinen besonderen Grund geknüpft ist und auch keine Schadensersatzansprüche auslöst.161

 

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Nur in Einzelfällen muss auf die Regelungen des Anfechtungsrechtes zurückgegriffen werden. Denkbar sind verschiedene Konstellationen:

 1. Die Regelungen über Fernabsatzverträge gem. §§ 312c ff. BGB sind nicht einschlägig, weil es sich etwa um ein B2B-Geschäft handelt.

 2. Die Regelungen sind zwar einschlägig, jedoch besteht kein Widerrufsrecht gem. § 312g Abs. 2 BGB, so z.B. bei individuell angefertigten Waren oder dann, wenn das Widerrufsrecht gem. § 356 Abs. 4 S. 1 BGB erloschen ist, weil bei einer Dienstleistung der Unternehmer diese vollständig erbracht hat und mit der Ausführung der Dienstleistung erst begonnen hat, nachdem der Verbraucher dazu seine ausdrückliche Zustimmung gegeben hat und gleichzeitig seine Kenntnis davon bestätigt hat, dass er sein Widerrufsrecht bei vollständiger Vertragserfüllung durch den Unternehmer verliert.

 3. Es liegt ein Anfechtungsgrund nach § 123 BGB vor. Dieser berechtigt einen Vertragspartner, ein Rechtsgeschäft anzufechten, wenn es durch arglistige Täuschung oder widerrechtliche Drohung zu Stande gekommen ist. Bei diesem Anfechtungsgrund besteht eine Anfechtungsfrist von einem Jahr.

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Wird hingegen die Widerrufsfrist nach den Regelungen über Fernabsatzverträge versäumt, so kann nur dann noch nach § 119 Abs. 1 BGB angefochten werden, wenn die Anfechtung „unverzüglich“, d.h. ohne schuldhaftes Zögern erfolgt. Bei Versäumung der Widerrufsfrist ist diese Voraussetzung bei Warenlieferungen in den meisten Fällen nicht mehr gegeben, weil man spätestens zum Zeitpunkt der Lieferung den Irrtum erkennt. Wird dann noch bis zum Ablauf der Widerrufsfrist mit der Anfechtungserklärung gewartet, so erfolgt die Anfechtung nicht mehr „unverzüglich“.

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Handelt es sich hingegen um Verträge, die einen Verbrauchsgüterkauf zum Gegenstand haben, der auf die regelmäßige Lieferung von Waren über einen festgelegten Zeitraum gerichtet ist oder um Verträge, die eine nicht in einem begrenzten Volumen oder in einer bestimmten Menge angebotene Lieferung von Wasser, Gas oder Strom, die Lieferung von Fernwärme oder die Lieferung von nicht auf einem körperlichen Datenträger befindlichen digitalen Inhalten zum Gegenstand haben, so sind Fälle denkbar, in denen der Irrtum erst nach Ablauf der Widerrufsfrist erkannt wird, weil bei diesen Vertragstypen die Widerrufsfrist schon mit Vertragsschluss bzw. dem Erhalt der ersten Ware (§ 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. d sowie Nr. 2 BGB) beginnen kann. Beginnt die Widerrufsfrist bereits zu diesem Zeitpunkt, so ist der Irrtum möglicherweise erst dann offensichtlich, wenn die Widerrufsfrist abgelaufen ist. Zu beachten ist dabei aber, dass das Mängelgewährleistungsrecht nach der Leistungserbringung grundsätzlich Vorrang hat, insbesondere ein auf Mängeln begründeter Eigenschaftsirrtum über die Kaufsache i.S.d. § 119 Abs. 2 BGB verdrängt wird.

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Grundsätzlich sind Irrtumsanfechtungen nicht nur seitens des Käufers möglich; auch der Verkäufer kann sich bei der Abgabe seiner auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung über wesentlichen Inhalt seiner Erklärung geirrt haben. Wird etwa in einem Internetshop ein falscher Preis eingegeben (199,00 € anstatt 1.999,00 €), kann nach § 119 Abs. 1, 2. Alt. BGB angefochten werden. Wird aber nach Kenntniserlangung über das Auseinanderfallen von äußerem Erklärungswillen und innerem Geschäftswillen auf der die fehlerhafte Preisangabe enthaltenen Produktbeschreibung ein Angebot eines Kunden mit der fehlerhaften Preisangabe einen Tag später bestätigt, so liegt schon kein bei Abgabe der Willenserklärung vorhandener Irrtum mehr vor. Ein Überschreiten der Anfechtungsfrist nach § 121 BGB braucht dann gar nicht mehr geprüft zu werden.162

148 Dazu Glossner, in: Leupold/Glossner, MAH IT-Recht, 2013, Teil 2, Rn. 52ff.; Koitz, Informatikrecht, 2002, S. 24ff.; Pierson/Seiler, JurPC Web-Dok. 217/2003, Abs. 1, Abs. 25ff. 149 Diesbezüglich keine Unterscheidung machend Kitz, in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimedia-Recht, 2021, Rn. 275f.; ebenso nicht Dörner, in: Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 119 Rn. 13; zu Recht, wenn auch nur in der Fußnote auf eine analoge Anwendung hinweisend Feuerbach, in: NK-BGB, 3. Aufl. 2016, § 119 Rn. 33 Fn. 99; korrekt auch Spindler, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2019, BGB, §§ 119, 120 Rn. 12. 150 Vgl. hierzu OLG Nürnberg, Urt. v. 9.10.2002 – 12 U 1346/02, CR 2003, 769; Ellenberger, in: Palandt, BGB, 2021, § 119 Rn. 10. 151 Ellenberger, in: Palandt, BGB, 2021, § 119 Rn. 32. Zur Irrtumsanfechtung des Anbieters auch AG Fürth, Urt. v. 8.10.2009 – 360 C 2779/08 (unveröffentlicht), und AG Fürth, Urt. v. 30.7.2008 – 340 C 1198/08 (unveröffentlicht). 152 Vgl. Kitz, in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimedia-Recht, 2021, Kap. 13.1, Rn. 260f.; BGH, Urt. v. 28.2.2002 – I ZR 318/99, WRP 2002, 839; OLG Düsseldorf, Urt. v. 9.2.2016 – I-21 U 100/15, BeckRS 2016, 115264, Rn. 50f. 153 Vgl. Hoffmann, Beilage zu NJW 2001, Heft 14, 1, 9; LG Köln, Urt. v. 16.4.2003 – 9 S 289/02, MMR 2003, 481 m. Anm. Mankowski, EWiR 2003, 853; BGH, Urt. v. 26.1.2005 – VIII ZR 79/04, K&R 2005, 176. 154 OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 20.11.2002 – 9 U 94/02, EWiR 2003, 953. 155 Vgl. Hoffmann, Beilage zu NJW 2001, Heft 14, 1, 9. 156 BGH, Urt. v. 7.7.1998 – X ZR 17/97, NJW 1998, 3192; Spindler, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2019, BGB, §§ 119, 120 Rn. 10. 157 BGH, Urt. v. 26.1.2005 – VIII ZR 79/04, K&R 2005, 176. 158 OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.5.2016 – I-16 U 72/15, MMR 2016, 593. 159 Vgl. Begründung zum Regierungsentwurf Schuldrechtsmodernisierung, BT-Drs. 14/6040, S. 400; Spindler, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2019, BGB, §§ 119, 120 Rn. 13. 160 Vgl. Dörner, AcP 202 (2002), 363, 381; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 2021, § 356 Rn. 8; Ring, in: Dauner-Lieb/Langen, BGB, 2021, § 356 Rn. 24. 161 Ausführlich zum Widerrufsrecht Kap. 5. 162 AG Fürth, Urt. v. 8.10.2009 – 360 C 2779/08 (unveröffentlicht), und AG Fürth, Urt. v. 30.7.2008 – 340 C 1198/08, K&R 2008, 770.

VII. Haftung für Handeln Dritter bei Missbrauch

von Zugangsdaten

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Nutzt ein Dritter fremde Zugangsdaten und führt so einen Vertragsschluss im Internet herbei, ist zu betrachten, wer durch diese Handlung vertraglich gebunden ist und damit haftbar gemacht werden kann. Zum einen kommt der Dritte in Betracht, aber auch eine Haftung des Inhabers der Zugangsdaten scheint nicht ausgeschlossen.

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Werden fremde Zugangsdaten ohne Bevollmächtigung genutzt und mithilfe dieser ein Vertragsschluss herbeigeführt, so erweckt der Dritte für den Rechtsverkehr den Anschein, der Inhaber der Zugangsdaten habe sich vertraglich binden wollen. Der Dritte gibt keine Erklärung für einen anderen ab, sondern tritt bewusst mit einem falschen Namen auf. Eine solche Erklärung, die den Anschein eines Eigengeschäfts hervorruft, ist nach den Regeln für die Stellvertretung gem. §§ 164ff. BGB in entsprechender Anwendung zu beurteilen.163 Etwas anderes kann dann gelten, wenn die verwendeten Zugangsdaten und die damit verbundene Täuschung für den Abschluss des Geschäfts irrelevant ist. Dies wird in Abgrenzung von der Identitätstäuschung als bloße Namenstäuschung bezeichnet. In diesem Fall kommt der Vertrag mit dem tatsächlich Handelnden zustande.164 Regelmäßig wird dies aber im E-Commerce nicht der Fall sein, weil der eine Vertragspartner auf die „Online-Identität“ des anderen vertraut.

1. Anscheinsvollmacht

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Im Falle des Handelns unter fremdem Namen165 gilt es zunächst zu untersuchen, ob der Dritte im Rahmen einer sog. Rechtsscheinvollmacht gehandelt hat. Im Rahmen der Rechtsscheinvollmachten ist zwischen der Duldungs- und der Anscheinsvollmacht zu differenzieren. Während der Vertretene bei der Duldungsvollmacht in Kenntnis, dass ein anderer für ihn als Vertreter auftritt, ein solches Verhalten bewusst geschehen lässt, kommt es bei der Anscheinsvollmacht entscheidend darauf an, dass der Vertretene fahrlässig verkennt, dass er durch einen Scheinvertreter vertreten wird.166

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So kann eine Haftung des Inhabers der Zugangsdaten zum einen dadurch zustande kommen, dass der Inhaber der Zugangsdaten Kenntnis von dem Handeln des Dritten hat, dieses duldet und der Geschäftspartner dieses Dulden dahingehend versteht, dass der Inhaber der Zugangsdaten als Vertragspartner gelten soll.167

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Eine Haftung nach den Grundsätzen über die Anscheinsvollmacht kann hingegen dann in Frage kommen, wenn dem Inhaber der Zugangsdaten die Erklärung zugerechnet werden kann und das Verhalten des Dritten von gewisser Dauer und Häufigkeit ist.

2. Voraussetzungen für eine Zurechnung

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Sodann stellt sich die Frage, wann eine Zurechnung des Verhaltens zulasten des Inhabers der Zugangsdaten anzunehmen ist. Eine Einstandspflicht des Inhabers der Zugangsdaten kann sich nur dann ergeben, wenn der Geschäftspartner schutzwürdiger als er selbst erscheint.168 Während eine Zurechnung der Erklärung des Dritten bei einer bewussten Weitergabe der Zugangsdaten immer anzunehmen ist, kann ein bloßer Fahrlässigkeitsvorwurf im Umgang mit den Zugangsdaten noch keine Zurechnung begründen.169 Es fehlt an einem zurechenbaren Rechtsschein immer dann, wenn die Zugangsdaten sorgfältig aufbewahrt werden oder auch, wenn ein nicht leicht zu erratendes Passwort verwendet wird.170 Im Einzelfall muss aber abgegrenzt werden, wann eine fahrlässige Aufbewahrung der Zugangsdaten einer bewussten Weitergabe gleichkommen könnte.171 So ist eine Zurechnung dann anzunehmen, wenn der Inhaber der Zugangsdaten dem Dritten ohne große Schwierigkeiten eine Zugangsmöglichkeit eröffnet und die Verwendung der Daten seitens des Dritten somit voraussehen kann oder den Missbrauch des Dritten erkennt und diesen weiter gewähren lässt.172

3. Abgrenzung zur Halzband-Entscheidung

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Anders beurteilte der BGH die Voraussetzungen der Zurechnung eines Verhaltens in seiner „Halzband-Entscheidung“.173 Danach sei ein Verhalten dann zuzurechnen, wenn der Inhaber der Zugangsdaten diese bereits unsorgfältig aufbewahre. Grundsätzlich bestehe eine generelle Verantwortung des Inhabers von Zugangsdaten, seine Daten so aufzubewahren, dass die Möglichkeit der Kenntnisnahme Dritter ausgeschlossen ist. Anders als mit der Zurechnung fremder Willenserklärungen beschäftigte sich der BGH in dieser Entscheidung aber mit einer Unterlassungshaftung im Urheber- und Markenrecht. Dort thematisiert er als Grund für eine solche Verantwortlichkeit die ansonsten drohende Gefahr für den Rechtsverkehr, dass sich Unsicherheiten in Bezug auf den Vertragspartner und seine Inanspruchnahme, die rechtsgeschäftlich oder deliktisch ausgestaltet sein kann, ergeben. Auf die rechtsgeschäftliche Bindung durch einen Dritten sind diese Grundsätze allerdings nicht übertragbar.174

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