Der Stoff, aus dem die Helden sind

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VORNE WEG

Das Gelbe Trikot der Tour de France ist das berühmteste Stück Stoff im internationalen Sport. Ein knallfarbenes Hemd mit einer scheckigen Geschichte

Die Szene zeigt einen Mann, der sich barfuß, in T-Shirt und in kurzen Hosen betont entspannt auf seinem Sofa ausgestreckt hat. Über ihm an der Wand – ordentlich gerahmt und aufgereiht und von einzelnen Lichtkegeln angestrahlt: sieben Trikots unter Glas.

Alle gelb.

Alle mit ausgebreiteten Ärmeln.

Alle aufgeladen mit ganz viel Symbolwert und Assoziationsmöglichkeiten.

Wer den Schnappschuss aufgenommen hat, ist nicht bekannt. Klar wurde allerdings anhand des Textes, den der Mann auf dem Sofa zusammen mit der Aufnahme im November 2012 auf Twitter hochlud, was mit diesem Bild ausgedrückt werden sollte. Es sollte dem Rest der Welt, darunter den knapp vier Millionen Menschen, die ihm damals auf dem Kurznachrichtendienst folgten, eine selbstbewusste Botschaft vermitteln: Dass er, Lance Armstrong, sich in seinem eigenen Reich noch immer wie der erfolgreichste Teilnehmer in der Geschichte der Tour de France fühlte, obwohl ihn die amerikanische Anti-Doping-Agentur auf Lebenszeit gesperrt hatte. Eigentlich war in dieser Welt nichts Weltbewegendes passiert. „Ich bin wieder zurück in Austin“, hatte er geschrieben „und liege einfach nur rum.“

Was konnte es Besseres geben, um diesen Gefühlszustand mit jenen sieben Trikots zu dokumentieren, die er auf den letzten Etappen jener sieben Rundfahrten getragen hatte, die er zwischen 1999 und 2005 als Erster beendet hatte? Nichts eignete sich besser, als den Mythos eines gelben Stücks Stoffs zu instrumentalisieren, um sich auf diese Weise ein letztes Mal als Held der Landstraße zu feiern. Weshalb noch heute, in seiner Twitter-Bio die Anmerkung zu finden ist: „7 MJ’s“. Eine Anspielung an die französische Vokabel für die berühmteste Textilien im Sport: maillot jaune.

Gelb ist eine warme, aktive, männliche Farbe, sagen die Psychologen. Sie ist so hell wie keine andere Schattierung in der Palette der Natur. Sie wirkt freundlich, heiter, strahlend und regt den Geist an53. Im Fall des Gelben Trikots der Tour de France besteht ihre Ausstrahlung für noch etwas mehr. Sie ist so etwas wie der Leuchtstoff, der seit hundert Jahren den professionellen Radsport im öffentlichen Bewusstsein mit einem irisierenden Prestigeereignis verbindet. Ein Effekt, der weit über das hinausgeht, was sich die Organisatoren der Tour ausgemalt hatten, als sie auf die Idee kamen, dem Spitzenreiter des Rennens Trikot zu verpassen, dass sich farblich deutlich von den anderen absetzt.

Kaum jemand in der Geschichte der Frankreich-Rundfahrt hat diesen Werbeeffekt stärker für sich genutzt als Lance Armstrong. Der sah in diesem Hemd mehr als eine bloße Textilie. Für ihn war es das signalstarke Belegstück für seine Fähigkeit, den Radsport zu dominieren.

Wer heute in den gängigen Statistiken über die Tour nachblättert, wird feststellen, dass der Name Lance Armstrong in ihnen gar nicht auftaucht. Auch nicht in der Rangliste mit den Namen der Träger des Gelben Trikots. Dabei fand sich der, bis seine Resultate getilgt wurden, auf dem zweiten Platz der ewigen Tabelle, gleich hinter dem Belgier Eddy Merckx, dem fünffachen Tour-Sieger, der bei insgesamt 96 Etappen als Spitzenreiter ins Rennen ging. Der Texaner war insgesamt 83 Tage in Gelb unterwegs gewesen. Was besser ist als die Bilanz des Franzosen Bernard Hinault (75) und des Spaniers Miguel Indurain (60). Die Liste umfasst insgesamt die Namen von knapp 300 Radprofis und kommt nicht völlig ohne Ironie daher. Ganz hinten – mit einem einzigen Renntag als Spitzenreiter: der Belgier Johan Bruyneel, der ominöse Sportdirektor in Armstrongs Karriereabschnitt nach der Rückkehr von der Krebserkrankung und einer der Mitverantwortlichen für die Doping-Karriere des Texaners.

Wer sich mit der Geschichte des Gelben Trikots beschäftigt, kommt aber ohnehin an verqueren Sachverhalten nicht vorbei. Genauso wenig wie an der Anekdote über die Versteigerung eines signierten Armstrong-Trikots im Auktionshaus Sotheby’s in London im Sommer 2004. Das erzielte, obwohl er damals noch als unbescholtener Radfahrer zu gelten hatte, mal gerade die bescheidene Summe von 150 britischen Pfund.

Authentische Trikots von Tour-Siegern wie dem Franzosen Louison Bobet oder dem Belgier Eddy Merckx kommen auf dem Sammlermarkt hingegen auf Preise von mehr als 5.000 Euro. Das älteste erhaltene maillot jaune ist das, das der Luxemburger Nicolas Frantz (37 Tage in Gelb, Tour-Gewinner 1927 und 1928) in den Zwanziger-Jahren trug. Dessen Wert dürfte denn auch ein Vielfaches der genannten Summe betragen.

Um einige der Trikots von einst ranken sich faszinierende Episoden, angefangen mit der Geschichte, wie dieses Kleidungsstück 1919 zum ersten Mal bei der Tour eingesetzt wurde und anfänglich wie alle Trikots auch aus Wolle bestand. Bereits vor sechs Jahrzehnten begann damit, es nur noch aus Kunstfasern herzustellen. Die „Kombination aus hochtechnischem Material sowie der anatomische Schnitt gewährleisten eine ausgezeichnete Belüftung und eine gute Körperanhaftung des Trikots während der gesamten Renndauer“, sagen die Veranstalter, die gerne den Sitz und die Passform anpreisen: „Die Ärmel aus einem weichen und nahtlosen Elasthangemisch tragen ebenfalls zum Komfort der Radrennfahrer bei.“

Es handelt sich schließlich nicht um irgendein Leibchen, sondern um eine der bedeutendsten Trophäen aus der Welt des Sports. Allenfalls vergleichbar mit dem Green Jacket, das der Sieger des berühmten Masters-Golfturniers in Augusta erhält. Aber anders als bei diesem Sakko kopierten irgendwann zahllose andere Sportarten die Idee – sei es im Segeln oder in den nordischen Skiwettbewerben, ob bei den Profis oder Amateuren.

Die neuen Fasern aus Chemie waren übrigens dafür mitverantwortlich, dass die Gelben Trikots mit vielen bunten Werbeaufschriften versehen werden konnten. Die Synthetik gestattet anders als Wolle, den Stoff im großen Stil und mit allen möglichen Farben zu bedrucken und zu beflocken. Als Christopher Froome 2013 als Spitzenreiter des Jubiläums-Rennens wie geplant zum Sonnenuntergang auf den Champs-Élysées ankam, ging man noch einen Schritt weiter und verpasste ihm eine mit durchscheinenden Pailletten besetzte Variante, die im Licht der Straßenlaternen von Paris für einen besonderen Glanz sorgen sollte.

Wie alles anfing, ist eine oft erzählte Geschichte, die kurioserweise jahrelang auf widersprüchlichen Quellen basierte. Soviel war immerhin schon immer klar: Bei der ersten Frankreich-Rundfahrt im Jahr 1903 gab es das Trikot noch nicht. Der Organisator Henri Desgrange, ein ambitionierter Radfahrer, Chefredakteur des Magazins L’Auto und Mitbesitzer des Velodroms am Prinzenpark, war schon froh, dass seine Idee von einem Langstecken-Radrennen die ersten Jahre heil überstand. Nur fünfzehn Fahrer nahmen an der Premiere teil. Ein Feld, das ziemlich übersichtlich war.

Unterscheidungsmerkmale wurden erst wichtig, als Desgrange mit Hilfe eines attraktiven Prämiensystems eine wachsende Zahl von Velo-Abenteurern anlocken konnte. Und so entstand die Idee, den Spitzenreiter optisch deutlich aus dem Feld der Fahrer herauszuheben. Inspiriert hatte ihn die gelbe Papierfarbe seiner Zeitung. Der Tour-Sieger von 1913, der Belgier Philippe Thys, erzählte Jahre später, dass er der erste gewesen sei, der dieses neue Trikot tragen durfte. Falsch, sagt Serge Laget, einer der profiliertesten Kenner der Geschichte der Rundfahrt und Autor des 2018 in Frankreich erschienenen Buchs 100 ans de maillot jaune 1919-2019. Thys muss in seinen Erinnerungen etwas verwechselt haben. „Tatsächlich trug der belgische Meister das gelbe und blaue Peugeot-Trikot.“

Legat ist sicher: Der allererste war der sehr viel weniger bekannte Franzose Eugène Christophe, dem man wegen seiner 34 Jahre den Spitznamen „alter Gallier“ angehängt hatte. Er erhielt das Hemd am 19. Juli, kurz vor Beginn der elften Etappe. „Sie tragen erstmals das gelbe Trikot“, sagte man ihm. „Hoffentlich werden Sie es bis zum Ende tragen“.

Wir wissen, wie die Sache ausging: Christophe verlor nach der vorletzten Etappe in Dünkirchen die Führung an den späteren Sieger, der Belgier Firmin Lambot, abgeben. Dass ihm Christophe auch noch sein eigenes Trikot schenkt, war für Serge Laget eine bemerkenswerte „Geste außergewöhnlicher Ritterlichkeit“. Ein Moment, der das im Grunde sehr schlichte Hemd schon früh mit einer gewissen Emotionalität hätte aufladen können.

Aber dafür brauchte es Zeit. Bei seinem ersten Einsatz galt das Trikot nämlich noch als schlichte Petitesse. L’Auto erwähnte es nur dreimal, wie Claude Droussent für sein Buch Das gelbe Trikot nachzählte.

Lambot gehört übrigens zu einer kuriosen Liste von Fahrern, die es schafften, die Gesamtwertung für sich zu entscheiden, ohne auch nur eine Etappe zu gewinnen. Er war der erste und brachte dieses Kunststück 1922 fertig. Etwas, was danach insgesamt sechs weitere Radprofis wiederholten. Zuletzt Christopher Froome 2017, der in jenem Sommer deshalb nur einmal zum Fototermin in Gelb antrat: bei der Siegerehrung in Paris.

Im Kontrast dazu gab es mehrere Fahrer, denen das maillot jaune zwar zugestanden hätte, die aber ablehnten, es zu tragen. Die Gründe waren unterschiedlich, aber eingefärbt von einem leichten Pathos. Der Schweizer Ferdi Kübler in den fünfziger-Jahren zum Beispiel wollte lieber in den Landesfarben seiner Heimat in die Pedale treten – dem weißen Kreuz auf rotem Grund. Eddy Merckx verzichtete 1971 darauf, in Gelb zu fahren, nachdem der bis dahin führende Luis Ocaña aus Spanien auf der 14. Etappe gestürzt, vom hinterherfahrenden Holländer Joop Zoetemelk angefahren worden war und mit einer Schulterverletzung aufgeben musste.

 

Zwischendurch musste eine Lösung für ein weiteres Problem gefunden werden: Was macht man, wenn zwei Fahrer mit exakt derselben Zeit an der Spitze liegen? Das passierte 1929 zum ersten Mal und dann erneut 1931. Damals entschied man sich für eine faire Lösung: Alle Spitzenreiter, egal wie viele, fahren in Gelb. Je genauer die Uhren maßen, desto pingeliger wurden die Veranstalter. Heute geht das Trikot in einer solchen Situation an den Fahrer, der bis zu diesem Zeitpunkt im Rennen die besseren Etappenplatzierungen errungen hat.

Zwei deutsche Fahrer haben sich übrigens in Frankreich aufgrund ihrer Leistungen bei Liebhabern der Tour de France ebenfalls einen Namen gemacht. Das sind Rudi Altig, der als Rheingold bezeichnet wurde und 1962, 1964, 1966 und 1969 insgesamt siebzehnmal in Gelb unterwegs war. Und Dietrich Thurau, genannt Didi. „Rudi“, sagt Serge Legat, demonstrierte „Schauspiel, Freude, Mut und Anstrengung“. Didi brachte „Jugend und Frische“ mit.

Hingegen ruft die Armstrong-Episode im Historiker der Tour de France noch immer ein Gefühl „großer Traurigkeit“. wach. Der Amerikaner habe „die Organisatoren, den Weltverband und alle Liebhaber der Tour und das Gelbe Trikot“ verspottet und die Hemden selbst „entheiligt“, nachdem er laut verkündet hatte, er würde ihren Symbolwert respektieren. Leider habe niemand den Mut gehabt, ihn aufzufordern, die Trikots zurückzugeben, klagt Legat. „Da haben die Instanzen versagt“ und so „ein großes schwarzes Loch in der Saga rund um das Gelbe Trikot“ produziert. „Schlimmer als die Unterbrechungen aufgrund des Zweiten Weltkrieges“.

Weshalb es nur recht und billig wäre, wenn die Veranstalter die ausgegebenen Trikots wieder einzufordern. Eine Idee, die nach seinem Ausschluss vom Sport 2012 gelegentlich öffentlich erörtert wurde. Doch wer so etwas umsetzen will, muss sehr viel mehr tun, als nur darüber zu reden. Der Internationale Radsportverband hatte so etwas 2007 bereits versucht, als Bjarne Riis zugab, dass er in seinen besten Zeiten, darunter bei seinem Tour-Sieg 1996, den Blut-Booster EPO genommen hatte. Als er erfuhr, dass die Organisation Ansprüche auf die Memorabilie erhebt, ließ er sie wissen: „Das Hemd liegt bei mir zu Hause in einer Pappschachtel. Das können sie sich gerne abholen.“

Das scheint das letzte Wort in der Angelegenheit gewesen zu sein.

(2019)

53 Im Kontrast dazu wird in Deutschland Gelb seit Jahrhunderten auch als Farbe der Missgunst betrachtet („gelb vor Neid”).

FARBSTOFF – DIE DUNKLE SEITE

MIT GEBALLTER FAUST

Einst geächtet, heute geachtet: Tommie Smith und John Carlos waren die Protagonisten der symbolträchtigen Black-Power-Demonstration von Mexico City 1968. Zwei Interviews mit zwei bemerkenswerten Figuren der Sportgeschichte

Das Bild

Es gibt andere Aufnahmen aus der Geschichte des Sports, die sich konturenscharf ins Gedächtnis eingeprägt haben. Aber kein Motiv ist so wie das, das am 16. Oktober 1968 entstand. Der Endlauf hatte tagsüber stattgefunden. Kurze Zeit nach einem starken Regenschauer. Inzwischen war es Abend geworden, und die Siegerehrung für die 200 Meter unter dem nachtdunklen Himmel des Estadio Olímpico Universitario von Mexiko-City war nur ein Programmpunkt unter vielen.

Der New Yorker Fotograf John Dominis drückte damals eher routiniert und pflichtbewusst auf den Auslöser, als die Hymne erklang und die Medaillengewinner sich den Flaggenmasten zuwandten. Denn das war sein Job. „Ich habe nicht gedacht, dass es ein Ereignis werden würde, das Schlagzeilen produziert“, sagte er Jahre danach. Er hatte allerdings „beim Fotografieren kaum mitbekommen, was passiert“.

Schon gar nicht die einprägsame Signifikanz des Augenblicks: Dass die beiden Amerikaner, die den ersten und dritten Platz belegt hatten, in schwarzen Socken auf dem Podest standen, den Kopf gesenkt und eine Hand im Handschuh zum Black-Power-Gruß erhoben.

Dominis, der in seiner Laufbahn im Vietnam-Krieg im Einsatz und später beim Woodstock-Festival gewesen war und der als sehr guter Reportage-Fotograf galt, bewertete die eigene Schwarz-Weiß-Aufnahme „als kein besonderes Foto“.

So kann man sich irren. Denn wenn man nur die Gestaltungsästhetik der Abbildung bewertet, mag diese Einschätzung angebracht sein. Die New York Times berichtete damals, die Protestaktion habe vor Ort im ausverkauften Olympia-Stadion „keine große Beachtung“ gefunden.

Trotzdem wirkt die von ihm eingefrorene Szene aus einer Reihe von Gründen nachhaltig. Einer dieser Gründe: Sie enthält einen Aspekt, der den Protest der beiden Hauptakteure auf subtile Weise verstärkt. Der dritte Mann im Bild, der Australier Peter Norman auf dem vorderen Podestplatz des Zweiten, kann nämlich nicht sehen, was die beiden Sportler hinter ihm tun. Er wirkt unbeteiligt, ahnungslos und noch wichtiger: Norman ist weiß.

Einen Tag nach der Siegerehrung wurde vielen die Symbolik klar. Allen voran den schlagzeilenversessenen, angereisten Journalisten, die mit ihrem Echo mit einiger Verzögerung auf den stummen Protest ein lautes Crescendo einleiteten und das Bild nutzten, um die Menschen in den Vereinigten Staaten aufzustacheln.

„Glauben Sie, dass die Olympischen Spiele der richtige Ort sind, um so etwas zu machen? Um die Weltbühne zu nutzen?“, fragte ein BBC-Reporter die beiden Amerikaner Tommie Smith, der das Rennen in der Höhe von über 2000 Meter über dem Meer in neuer Weltrekordzeit für sich entschieden, und John Carlos, der die Bronzemedaille gewonnen hatte. Sein Kollege vom amerikanischen Fernsehsender ABC spitzte das Ganze zu einer platten Provokation zu: „Sind Sie stolz darauf, Amerikaner zu sein?“

Ihr symbolischer Akt hatte die Rassenpolitik der USA bloßgestellt. So etwas jedoch durfte nicht sein, konnte nicht sein, erzwang eine harsche Reaktion der Verantwortlichen. Und also wurden beide Sportler zwei Tage nach der Siegerehrung vom nationalen amerikanischen Olympischen Komitee geächtet und nach Hause geschickt.

Zu den wenigen Sympathisanten der beiden Athleten gehörte der amerikanische Fernsehreporter Howard Cosell, der die Verantwortlichen des NOK im Sender ABC scharf kritisierte. Bei ihnen handele es sich „im Wesentlichen um eine Gruppe aufgeblasener, arroganter, mittelalterlich gesinnter Männer, die die Spiele als eine private soziale Einrichtung für ihre kleine Clique betrachten. Sie betrachten die Teilnahme an den Spielen als ein Privileg, nicht als ein Recht, das man sich im Wettbewerb verdient hat. Sie sagen, die Spiele seien Sport, nicht Politik, etwas, das von den Realitäten des Lebens getrennt und getrennt ist. Der schwarze Sportler sagt, er führe eine Revolution in Amerika an, eine Revolution, die dem schwarzen Mann Würde geben soll, und dass er ein Mensch sei, bevor er ein Sportler sei. Er sagt, dass sein Leben in Amerika voller Ungerechtigkeit ist und dass er überall Gleichheit will, nicht nur in der Arena. Er sagt, dass er sich nicht alle vier Jahre im Namen einer Gruppe instrumentalisieren lassen will, die ignoriert, was ihm jeden Tag in all den Jahren widerfährt. Er sagt, dass er sich die Teilnahme verdient hat, dass er fair gewinnt und dass er seine in der Arena erworbene Prominenz nutzen wird, um seine Lage außerhalb der Arena zu verbessern…Und so sind die Olympischen Spiele für die Vereinigten Staaten von Amerika zu einer Art Mikrokosmos geworden, ein zerrissenes Land.“

Die politische Dimension

Man kann die Geschichte dieses einen Moments übrigens nicht erzählen, ohne zu erwähnen, was ein Jahr davor in den Vereinigten Staaten passiert war. Im Juni 1967 waren Unruhen sowohl in Atlanta, Boston und Cincinnati als auch in Buffalo und Tampa ausgebrochen. Einen Monat später waren Aufstände in Birmingham und Chicago aufgeflackert und nach New York City, Milwaukee und Minneapolis übergesprungen. Doch das war nichts gegen die aufgestaute Wut der Menschen, die sich in Newark und Detroit entzündete. Es handelte sich um einen gewalttätigen Protest, bei dem ganze Straßenzüge in Flammen aufgingen und es zu Plünderungen kam. Mehr als 7000 Menschen wurden festgenommen. 43 Menschen starben, als tausende von Soldaten eingesetzt wurden, um die Revolte niederzuschlagen. In amerikanischen Geschichtsbüchern wurde diese Phase später der „long, hot summer of 1967“ genannt.54

Der Aufstand der unterdrückten schwarzen Minderheit in den Vereinigten Staaten hatte eine alltägliche Erfahrung bloßgelegt: das Gefühl von Ohnmacht angesichts von alltäglichem offenen Rassismus und von Diskriminierung, Armut und Massenarbeitslosigkeit.

Eine Situation, die die Weltklasse-Leichtathleten, die im Herbst 1967 an der Universität San Jose State die Bekanntschaft eines jungen Soziologie-Professors namens Harry Edwards machten, aus eigener Erfahrung kannten. Mit einem Unterschied zu vielen anderen ihrer schwarzen Landsleute: Sie besaßen als Studenten ein stärker entwickeltes Politikverständnis. Weshalb sie das Olympic Project for Human Rights gründeten und eine Idee vorantrieben: den Boykott der Olympischen Spiele in Mexiko-City. Es kam dann allerdings anders.

DIE INTERVIEWS
1. JOHN CARLOS

Vierzig Jahre nach der Protestaktion ergab sich im Sommer 2008 in Palm Springs, dem damaligen Wohnsitz von John Carlos, die Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch. Die Fragen drehten sich nicht nur um die Hintergründe und die Folgen der Aktion, sondern auch um ein Ereignis, das nur wenige Wochen danach stattfinden würde: die Olympischen Spiele in Peking, die wegen der Menschenrechtssituation in China eine ähnliche Dimension hatten wie die von 1968. Auch von Boykott war in jenen Tagen gelegentlich die Rede. Carlos war damals 63 Jahre alt und noch immer ein energiegeladener, selbstbewusster Gesprächspartner.

Wie war die Stimmung Ende der sechziger-Jahren unter den schwarzen Sportlern in den Vereinigten Staaten?

Das waren sehr provokative Zeiten. Wir waren mit dem Vietnam-Krieg konfrontiert. Wir haben gesehen, wie Menschen wie Robert Kennedy und Dr. Martin Luther King ihr Leben verloren haben. Es war die Ära, in der es um Menschenrechte ging. Die Athleten mussten erkennen, dass sie das sehr wohl auch betraf.

Um was ging es Ihnen damals konkret?

Wir waren alarmiert wegen des Vietnam-Kriegs, wegen der Behandlung von Muhammad Ali, dem sie am grünen Tisch den Weltmeister-Titel abgenommen hatten, weil er den Kriegsdienst verweigert hatte. Wir hatten Forderungen bezogen auf die Gleichbehandlung von Schwarzen und Menschen anderer Hautfarbe im Bildungswesen, beim Zugang zu Wohnmöglichkeiten und in der Arbeitswelt.

Wie sah es für die schwarzen Leichtathleten in der Nationalmannschaft aus? Noch 1956 hatten die Vereinigten Staaten bei den Olympischen Spielen die Rassentrennung praktiziert. Fühlten Sie sich gleichwertig?

Es war alles auf den weißen Athleten ausgerichtet. Zum Beispiel die Produkte, die sie uns im Kulturbeutel gaben. Ich habe gesagt: „Warum geben Sie uns das?“ Ich brauche keine Sonnenschutz-Lotion. Was ich brauche ist vielleicht ein Afro-Kamm oder ein Afro-Gel für die Haare. Etwas, das dafür sorgt, dass ich mich wohl fühle, wenn ich die Vereinigten Staaten repräsentiere. Als die erste Bahn mit Synthetikbelag in San Jose gebaut wurde, war klar, weshalb sie uns die gegeben haben. Wir waren die besten Sprinter im Land, auf der Welt, wenn man es genau nimmt. Aber als es um die Werbung ging, wollten sie nur Weiße vor die Kamera stellen. Wir haben gesagt: „Was ist das Problem? Wir brechen die Weltrekorde.“ Sie haben uns gesagt: „Ihr seid Amateure, ihr könnt nicht einfach Geld nehmen.“ Ich habe erwidert: „Nun, meine Frau war kein Amateur, nimm meine Frau für die Werbespots. Nimm meinen Bruder, meine Schwester, nimm irgendeinen Farbigen.“ Wir haben uns schlecht gefühlt, dass wir Druck machen mussten. Wir sind für Amerika gelaufen, weil wir Amerika lieben. Aber Amerika hat uns auf vielerlei Weise gezeigt, dass es nicht die gleiche Liebe für uns empfand.

Es kam vor den Spielen 1968 zu einer Diskussion unter den schwarzen Athleten darüber, ob es besser sei, geschlossen nicht nach Mexico City zu fahren. Was war der Tenor der Diskussionen?

 

Wir hatten einige heiße Debatten. Das fing schon damit an, dass nicht jeder den gleichen Wissensstand besaß. Es gab welche, die gesagt haben: „Warum wollt ihr die Spiele boykottieren? Für mich ist alles in Ordnung.“ Also mussten wir erst einmal diesen Leuten erklären: „Wisst ihr eigentlich, was Rassismus ist? Wisst ihr, wie das ist, wenn man in aller Öffentlichkeit boy oder nigger genannt wird? Denkt ihr, wenn ihr das oft genug erlebt habt, das sei ganz normal?“ Wir mussten einigen erst begreiflich machen, dass man diese Beschimpfungen nicht einfach akzeptieren durfte.

Wie gingen die Debatten zu Ende?

Wir hatten eine regelrechte Abstimmung. Aber zu dem Zeitpunkt haben viele gesagt, dass sie ihren Eltern, ihrer Kirche, ihren Freunden versprochen hatten, an den Start zu gehen. Wir konnten diesen Leuten nicht sagen, sie hätten gefälligst ihren Traum wegzuwerfen. Alles was wir tun konnten, war die Karten auf den Tisch zu legen und die Notwendigkeit eines Boykotts zu erklären.

Sie waren für den Boykott?

Ja, ja.

Weshalb?

Wenn man sich anschaut, wie viele schwarze Amerikaner in wie vielen Kriegen für die Vereinigten Staaten gekämpft haben, fragt man sich: Wenn wir gegen Krieg sind, wo wäre Amerika eigentlich, wenn wir nicht mitmachen und wenn wir nicht unsere Kinder schicken? Das gleiche gilt für die Olympischen Spiele. Wenn wir sagen: Nein, wir machen nicht mit. Wir erlauben unseren Kindern nicht, an den Qualifikationen teilzunehmen. Wo wären die Vereinigten Staaten dann? Wir sind ein bedeutender Teil dieses Landes. Aber dann von der Front zurückzukehren, ob aus dem Krieg oder von den Spielen, und zu Hause nicht einfach jedes Restaurant betreten zu können und nicht zu jedem Vermieter ins Büro gehen zu können, weil du schwarz bist – das war ein Thema. Das wollten wir kommunizieren, auf eine friedliche Weise. Wenn du etwas boykottierst, dann bombardierst du niemanden und du schießt auf niemanden.

Was hätten Sie durch einen Boykott gewonnen?

Anders herum gefragt: Was gab es zu verlieren? Wollen wir doch mal realistisch sein: Die Medaille, das war eine Mohrrübe. Diese 15 Minuten in der Sonne.

Aber viele ihrer Mannschaftskollegen sahen das anders.

Ja, im Rückblick würde ich keinen Boykott mehr billigen. Aber aus einem anderen Grund. Das 68er Team wurde mit einem so negativen Image belegt, nur weil wir ernsthaft die Möglichkeit eines Boykotts diskutiert haben. So viele Sportler haben darunter gelitten. Das möchte ich nicht noch einmal erleben. Also, wenn man etwas tun muss, dann auf eine andere Art und Weise.

So blieb Ihnen nur eine persönliche Protestaktion.

Ja, tief in mir wusste ich: Es brauchte eine Demonstration. Ich wollte etwas tun, was außergewöhnlich wirkt und das – noch viel wichtiger – gewaltfrei ist. Ich habe Tommie Smith angesprochen. Und der Rest ist Geschichte.

Waren Sie auf die Gegenreaktionen und die persönliche Diskriminierung nachher vorbereitet?

Ich wusste, dass es stürmisch wird. Was ich nicht kommen sah, war die Ächtung, die meiner Familie widerfuhr. Die hatte einen größeren Einfluss auf mich als die Schläge, die ich abbekommen habe. Ich persönlich hatte Schwierigkeiten, gute Jobs zu finden oder sie zu behalten. Denn wenn sich nach ein paar Wochen oder Monaten herumsprach, wer ich war, wurde ich entlassen. Ich musste sehr lange in mich gehen, um das alles zu verstehen. Das bringt dich zum Glauben. Gott wird dich nicht verlassen. Glauben und Familie, das wurden meine Schutzschilde, wenn man das so nennen will.

Worin bestand eigentlich konkret der Vorwurf an Ihre Adresse?

Meine Schuld bestand darin, dass ich schwarz bin. Ich hatte nichts Falsches getan. Als David Wottle 1972 in München auf dem Siegespodest stand und seine Mütze aufbehielt und sich abwandte, hat man das entschuldigt. Er hatte nichts falsch gemacht, außer der amerikanischen Flagge den Respekt zu verweigern. Das wurde akzeptiert. Als Weißer hätte ich nicht annähernd soviel Aufregung verursacht. Ein Schwarzer aber hat in Amerika gefälligst nicht zu demonstrieren.

Auf dem berühmten Bild sieht man: Sie tragen einen Handschuh und Sie halten Ihre Schuhe in der Hand.

Okay. Lassen Sie uns darüber reden. Warum der Handschuh? Diese Spiele wurden zum ersten Mal in Farbe im Fernsehen übertragen. Wir wollten keinen Zweifel daran lassen, wen wir repräsentieren: den schwarzen Mann. Also haben wir schwarze Handschuhe angezogen. Ich habe eine Halskette getragen, um zwei Dinge zu zeigen: meine Liebe zur Gesellschaft und zugleich, dass Schwarze im Süden der Vereinigten Staaten gelyncht worden waren. Warum schwarze Socken und keine Schuhe? Wir wollten die schwarze Armut illustrieren. Die Puma-Schuhe: Ich habe als Junge in New York beim amerikanischen Puma-Vertrieb gearbeitet. Die Puma-Leute haben Schuhe kostenlos an Kinder verteilt, die sich keine leisten konnten. Sie haben vielleicht gedacht: „Wir helfen ihnen und irgendwann helfen sie uns.“ Meine Vergangenheit mit Puma hat mir das Gefühl gegeben, wir sollten deren Schuhe auf dem Podest dabei haben. Und dann hatten wir den Button angesteckt vom Olympic Project for Human Rights, weil wir klar machen wollten, dass es nicht nur um schwarz und weiß geht. Sondern um die gesamte Menschheit. Aber die Presse hat eine Art, die Dinge schief darzustellen, um Leute das glauben zu machen, was sie selbst glaubt.

Es war eine spontane Aktion?

Die Idee entstand erst nach dem Semifinale. Da habe ich Tommie Smith gesagt, was ich vorhabe. Die Demonstration war mir wichtiger als das Rennen selbst. Aber ich wusste auch, dass Herr Smith nicht mitmacht, wenn ich das Rennen gewinne. Und das wäre nicht halb so wirkungsvoll gewesen.

Aber Sie mussten mindestens Dritter werden, um überhaupt aufs Podest zu kommen. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie in den Startblöcken saßen?

Während meiner Laufbahn hatte ich viele Partner überall im Land, die auf meine Rennen gewettet haben. Ich habe mir ihretwegen Sorgen gemacht und viele angerufen und sie gewarnt: „Hey, wettet nicht. Ich weiß nicht, was ich machen werde.“ Was ich vorhatte, war, bis zum Ende der Kurve volles Tempo gehen, um allen zu zeigen, dass ich gewinnen kann, und dann zu drosseln. Die Überraschung war Tommie. Der hatte sich angeblich vorher einen Oberschenkel gezerrt, aber zuckte nicht mal mit der Wimper. Er schoss an mir vorbei. Die letzten zehn Meter habe ich über Peter Norman nachgedacht. Aber ich habe nicht geahnt, dass ich Dritter würde. Nach dem Zieleinlauf habe ich mich trotzdem für ihn gefreut. Ein weißer Junge, der exakt 20 Sekunden gelaufen war. Ich mochte Peter. Er war ein draufgängerischer Typ, selbstbewusst und ein verdammt guter Läufer. Als ich sah, dass ich ebenfalls exakt 20 Sekunden gelaufen war, war ich noch stärker beeindruckt. Ich wusste, ich hatte an diesem Tag 19,3 Sekunden drin – und zwar leicht – und hatte nicht durchgezogen.

Der Mann mit der bis dahin schnellsten Zeit über 200 Meter hatte sein Rennen verschenkt.

Richtig. Es war meine Entscheidung. Ich laufe nicht für die Mohrrübe. Ich bin nicht der Typ, der sagt: Leichtathletik ist mein Leben. Es ist einfach nur gut, dass ich dabei war und dass ich ein Vermächtnis hinterlassen habe. Als ich zum Siegespodest ging, sah ich, wie Peter und Tommie die Reißverschlüsse ihrer Trainingsjacken zugemacht haben. Ich habe meine Jacke absichtlich offen gelassen. Ich wollte Arbeiter wie meinen Vater, einen Schuhmacher, repräsentieren. Das waren die Menschen, die ich kannte: den Eisverkäufer, den Elektriker, den Straßenarbeiter, den Mann, der im Park das Laub zusammenharkte. Die ganz gewöhnlichen Arbeiter, die dafür sorgen, dass sich die Erde dreht, die aber nie eine Anerkennung dafür erhalten. Sie haben Familien. Sie haben Ideale. Und die meisten von ihnen sind Angehörige von ethnischen Minderheiten.

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