Der Stoff, aus dem die Helden sind

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Ein solches Kompendium kann am Ende nicht mehr sein als eine Auswahl, subjektiv und voller Besonderheiten und Eigenheiten. Sie deckt immerhin eine Zeitspanne von knapp dreißig Jahren ab und ist aus nachvollziehbaren Gründen vom geographischen Standort des Autors geprägt. Was im Kontext des internationalen Sports aber keineswegs ein schiefes Bild erzeugt. Denn nach der kreativen Phase im viktorianischen Großbritannien, als die Feudalgesellschaft einer Weltmacht die Kodifizierung und Popularisierung von einer ganzen Reihe von Sportarten vorantrieb, übernahmen die USA im 20. Jahrhundert eine treibende Rolle. Ihre Beimischung, die konsequente Ausrichtung auf Kommerz, Profitmaximierung und eine intensive Mythologisierung, markiert so etwas wie die zweite wichtige Phase eines globalen Ideentransfers im organisierten Sport in alle Teile der Welt.

Man denke nur an die Ruhmeshallen und Sportmuseen. Sie wurden zunächst in den Vereinigten Staaten entwickelt, aber haben mittlerweile auch in anderen Ländern Schule gemacht26. Oder an die wachsende Bedeutung amerikanischer Sportausrüster bei der Inszenierung und Vermarktung von Sport27. An den neuen Statistikwahn.28 An Computerspiele. Oder auch den Kampf gegen Doping, Korruption und sexuellen Missbrauch. Fast überall zeigen amerikanische Akteure seit mehreren Jahren modellhaft auf, wohin die Reise geht. Der Rest der Welt folgt je nach Ressourcen und eigenen Ambitionen irgendwann nach.

Was den Charakter der Texte anbetrifft: Sie nutzen den Formenreichtum, den wir in der alltäglichen journalistischen Arbeit kennen. Es handelt sich hierbei um Reportagen und Stimmungsbilder, um essayistische Betrachtungen sowie um Protokolle von ausführlichen Interviews mit profilierten Gesprächspartnern, die pointiert und substanziell zum jeweiligen Thema Auskunft geben.

Niemanden sollte überraschen, dass man als Journalist im Laufe der Zeit einiges aus dieser Stoff-Sammlung bereits publiziert hat: in meinem Fall in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den drei Programmen von Deutschlandradio, den nicht mehr existierenden Zeitschriften Sports und No Sports (nicht verwandt und nicht verschwägert miteinander), dem Sportmagazin der Schweizer Illustrierten sowie mehreren Büchern.

Um der zeitlichen Einordnung Rechnung zu tragen, erschien es angebracht, die Texte mit Angaben zu dem Jahr zu versehen, in dem sie entstanden sind oder in wesentlichen Passagen entwickelt wurden. Was aus den zentralen Figuren in der Zeit danach geworden ist, wird dort, wo es angebracht schien, in einem kurzen Anhang hinzugefügt.

Das Buch enthält daneben aber auch Texte, die bislang nicht erschienen sind. Und solche, die eigens für dieses Buch geschrieben wurden.

Natürlich reist stets eine Hoffnung mit: dass eine solche Anthologie auf mehr neugierig machen könnte. Deshalb an dieser Stelle noch ein Hinweis auf drei Bücher. Aus zweien habe ich für dieses Projekt jeweils eine längere Passage übernommen: Sowohl Tiger Woods. Charisma für Millionen29 als auch Nichts als die Wahrheit. Der Fall Lance Armstrong und die Aufarbeitung eines der größten Betrugsskandale in der Geschichte des Sports30 und Dirk Nowitzki. So weit, so gut – von Würzburg zum Weltstar. Eine etwas andere Biographie“31 möchte ich an dieser Stelle gerne als weiterführende Lektüre empfehlen.

In jedem Fall wünsche ich viel Vergnügen auf dieser Tour d’Horizon, und bedanke mich bei allen Weggefährten, die durch ihre Ermunterung, ihre Aufträge, ihr Wohlwollen und ihre Kritik im Laufe der Jahre mein Schaffen ermöglicht haben.

Jürgen Kalwa West Cornwall, Februar 2022

1 Gerhard Roth: Erkenntnis und Realität – das reale Gehirn und seine Wirklichkeit in: Siegfried J. Schmidt (Herausgeber): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, 1987

2 Das Gehirn weiß wenig von der Wirklichkeit, Interview, Bild der Wissenschaft, Oktober 1998

3 Paul Gallico: Farewell to Sport, New York. Die Anthologie veröffentlichte Gallico, als er aus dem Sportjournalismus ausstieg und sich dem Schreiben anderer Stoffe widmete. So erfand er die Figur des Journalisten Hiram Holliday, der kuriose Abenteuer erlebt, die in den fünfziger-Jahren fürs Fernsehen verfilmt wurden. Viele seiner Romane und Drehbücher wurden zu kommerziellen Erfolgen. Eine seiner Hinterlassenschaften ist der Amateurbox-Wettbewerb Golden Gloves, Durchgangsstation für viele namhafte amerikanische Profis.

4 Turn of the Century Fights, Inc.: Jack Dempsey vs. Luis Firpo for Heavyweight Championship, New York, September 14, 1923, veröffentlicht 1964

5 Der Kampf, der am 14. September 1923 im New Yorker Madison Square Garden stattfand, galt unabhängig von der Vorgeschichte aus dem Trainingslager jahrzehntelang als einer der denkwürdigsten in der Geschichte des Profiboxens. Eine Anspielung auf ihn („I’m telling ya if this guy sat ringside at the Dempsey-Firpo fight, he‘d be tryin‘ to tell us Firpo won!”) in der 1957 veröffentlichten Hollywoodfassung des Fernsehdramas und Theaterstücks Die zwölf Geschworenen demonstrierte seinen besonderen Stellenwert im kulturellen Gedächtnis der USA.

6 Paul Gallico: Farewell to Sport, Seiten 289-290

7 George Plimpton: Paper Lion – Confessions of a Last String Quarterback, New York, 1966. Sein Bericht über seine Zeit im Kader eines NFL-Teams gilt als „das beste Buch, das je über Profi-Football geschrieben wurde” (Saturday Review), weil es den Blickwinkel eines durchschnittlichen Football-Fans repräsentiert. Plimpton führte das gleiche Experiment mehrfach durch und schilderte seine Erfahrungen – darunter im Profi-Eishockey, in der NBA, in Major League Baseball, auf der PGA-Tour der Golfer und im Box-Ring – in insgesamt sieben Büchern. Seine Vorgehensweise nannte er konsequenterweise „participatory journalism“. Aus Teilnahme wird Teilhabe.

8 Steven Fatsis: A Few Seconds of Panic: A Sportswriter Plays in the NFL, New York, 2008

9 Rick Reilly: Who’s Your Caddy? Looping for the Great, Near Great, and Reprobates of Golf, New York, 2004

10 Rick Reilly: Der Mann, der nicht verlieren kann: Warum man Trump erst dann versteht, wenn man mit ihm Golfen geht, Hamburg, 2020

11 Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung machte im Januar 2020 bekannt, weshalb die Zeitung ein Interview mit dem ehemaligen Fußball-Profi Bastian Schweinsteiger und dem Schriftsteller Martin Suter abgelehnt hatte: Die Gegenseite hatte verlangt – „über die übliche Autorisierung des Wortlauts hinaus“ – sowohl Titel, Vorspann und Bildunterschriften vorab gegenzulesen. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. Januar 2022, Seite 39). Eine Anmerkung zum Stichwort: „Autorisierung”. Keines der Interviews in diesem Buch (und nur ein einziges im Laufe meiner journalistischen Karriere) wurde einem solchen Prozess unterzogen. Dieses Entgegenkommen der Medien ist zwar in Deutschland „üblich”, aber nicht im Rest der Welt. Selbst ein so stark beachteter Rechtsstreit wie der zwischen Janet Malcolm vom New Yorker und einem namhaften Psychoanalytiker (David Margolick: Psychoanalyst Loses Libel Suit Against a New Yorker Reporter, New York Times, 3. November 1994) hat an der Praxis nichts geändert. Ebenso wenig mehrere prominente Fälle junger Journalisten, die frei erfundene Artikel veröffentlichen konnten wie Stephen Glass, dessen Aufdeckung im Hollywood-Film Shattered Glass nachgezeichnet wurde. Währenddessen kommt es in Deutschland schon lange auch und gerade im Sportjournalismus zu Konflikten (siehe auch: David Bernreuther: Zwischen Maulkorb und Meinungsfreiheit: Kritische Interviews von Fußballprofis und ihr Medienecho. Eine Inhaltsanalyse Berlin 2012, Seite 45

12 Norman Mailer: The Fight, New York, 1975

13 Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Die Verlagswerbung für die Box-Anthologie von Wolf Wondratschek (Im Dickicht der Fäuste, Berlin 2021) wirft ein Licht darauf, wie weit die Identifikation gehen kann. Die Texte handeln demnach unter anderem „vom Schriftsteller als ‚einzigem Bruder des Boxers, dem Verbündeten seiner Einsamkeit‘”. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung empfand bei der Bewertung der Erstausgabe des Buchs, das 2005 erschien, solchen Pathos als „dick aufgetragen” und kanzelte die Pose als „Vitalismus” ab.

14 Karl-Heinrich Bette: Sporthelden. Spitzensport in postheroischen Zeiten, Bielefeld 2019, Seite 34

15 Susanne Marschall/Bodo Witzke: „Wir sind alle Menschenfresser“: Georg Stefan Troller und die Liebe zum Dokumentarischen, Norderstedt, 2012)

16 Bertram Job: Schwer gezeichnet. Geschichten vom Boxen. Göttingen, 2006

17 Bertram Job: Der Held rettet die Welt nicht, Taz, 22. November 1996

18 In seinem Artikel Sportjournalismus in der Krise: Lieber irgendwas über Ronaldo (Taz, 10. Dezember 2021) beschreibt der Journalist Martin Krauß die Entwicklung in einem erheblichen Teil der deutschen Medien als dramatisch. Ein Zitat von Tobias Schächter, Sportredakteur der Badischen Neuesten Nachrichten, vermittelt dabei, wie bestimmte Mechanismen wirken: „Immer mehr Redaktionen setzen auf Instrumente wie Readerscan, schauen also ganz genau, was am meisten gelesen, am meisten geklickt wird. Heraus kommt, dass Geschichten über Cristiano Ronaldo im Blatt stehen müssen.“

19 Oliver Franklin-Wallis: Inside the Athletic – the start-up that changed journalism forever, GQ British, Ausgabe März 2020

20 Die jährlich herausgegebenen Anthologien erscheinen seit 1991. Jedes Jahr betreut von einem anderen Gastlektor. Am häufigsten in diese Serie aufgenommen wurden Gary Smith, Wright Thompson, Steve Friedman, S.L. Price, Charles P. Pierce, William Nack, Rick Reilly, Roger Angell, Pat Jordan und Rick Telander. Das Glanzstück dieser Edition ist der 776 Seiten starke Sammelband The Best American Sports Writing of the Century.

 

21 Steve Henson: Bryant and His Accuser Settle Civil Assault Case. Los Angeles Times, 3. März 2005

22 Nils Minkmar: Idealisierung von Stars – Perfektion ist keine menschliche Kategorie, Spiegel Online, 2. Februar 2020

23 Ulrich Bröckling: Postheroische Helden – Ein Zeitbild, Berlin, 2020. Interviewzitate aus Deutschlandfunk, Büchermarkt, Ulrich Bröckling im Gespräch mit Miriam Zeh, 5. März 2020

24 Karl-Heinrich Bette: Sporthelden. Spitzensport in postheroischen Zeiten, Seite 22ff.

25 Howard Bryant: Novak Djokovic is a profile in selfishness, and sports leaders are failing us all, ESPN.com, 12. Januar 2022

26 Siehe Denkmalpflege auf Seite 40ff.

27 Siehe Das Trendbrett auf Seite 250ff.

28 Siehe Wo nur noch Zahlen zählen auf Seite 263ff.

29 Tiger Woods. Charisma für Millionen, Berlin, 1998

30 Nichts als die Wahrheit. Der Fall Lance Armstrong und die Aufarbeitung eines der größten Betrugsskandale in der Geschichte des Sports, Norderstedt, 2019

31 Dirk Nowitzki – So weit, so gut: Von Würzburg zum Weltstar – eine etwas andere Biographie, Hildesheim, 2019

WERKSTOFF – DER STOFF, AUS DEM DIE LEGENDEN SIND

THE SPIRIT

Das Koordinatensystem einer Sportwelt, die Helden produziert, weil sie Helden braucht

Es gibt Menschen, die jede Zurückhaltung ablegen, wenn sie ihn entdecken. Sie betasten seine Arme und Beine. Reden auf ihn ein. Und versuchen auf eine hypnotische Art, mit ihm zu kommunizieren.

Den Annäherungsversuchen ist er wehrlos ausgeliefert. Denn der Sockel, auf den ihn der Bildhauer gestellt hat, damit er mit ausgestrecktem Arm und einem Ball in der Hand für immer und ewig zu einem imaginären Korb fliegt, ist nur etwas mehr als 1,50 Meter hoch. Michael Jordan in Bronze – ein Denkmal des amerikanischen Sports mit dem Titel The Spirit – hat auf diese Weise sehr menschliche Dimensionen behalten.

Er ist zum Greifen nah.

Der Platz, an dem er aufgestellt wurde, ist gut gewählt. Es ist der Bereich vor Tor 4 des United Center in Chicago, einer der Kathedralen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Jordan, der in dieser Sporthalle mit den Chicago Bulls manchen Meisterschaftserfolg errungen und einen Klub zurückgelassen hat, der seitdem nie wieder auch nur in die Nähe der alten Erfolge kam, wird auch in Zukunft ihre bedeutendste Ikone bleiben. Die Stimmung des Jahres 1995, als er nach einem Baseball-Intermezzo in Alabama32 nach Chicago zurückkehrte, hat diesen Status gleichsam zementiert. Die Szenen von damals blieben unvergessen. „Es war verrückt“, sagte Bulls-Center Will Perdue. „Es gab Leute, die vor seiner Statue gebetet haben. Sie haben gebetet, dass er zurückkommt.“

Der beste Basketballer der Welt hat in jenen Tagen nicht nur seine Fans in eine ungewöhnliche Begeisterung versetzt. An der New Yorker Börse stiegen die Aktien der Firma Nike, des Herstellers der Air-Jordan-Schuhe.

Gerade weil seine Popularität so enorm war, ist sein Stellenwert nur schwer zu messen. Keine Statistik vermag zu erfassen, was der Mann aus North Carolina auslöste, als er zum Aushängeschild einer Stadt wurde, deren bekanntester Einwohner einst ein Gangster namens Al Capone war. Aber sein Einfluss auf die Umwälzungen in der Beziehung zwischen kommerziellem Sport und der modernen westlichen Gesellschaft lässt sich durchaus beschreiben. Michael Jordan, ein leichtfüßiger Spieler mit fast balletthaften Bewegungen und einem unbändigen Willen zum Sieg, war Symbol und Wegbereiter für eine Entwicklung, in deren Rahmen Athleten immer stärker Einfluss auf das Denken und Handeln von Millionen von Menschen nehmen. Von Menschen, die Sport wie eine Droge inhalieren.

Der Entwicklung haftet etwas Zwangsläufiges an – nicht nur in den USA. Dort zeigen sich manche Phänomene allenfalls deutlicher und ausgeprägter als in anderen Ländern – etwa beim Nachruhm eines Baseballspielers wie Babe Ruth, dessen Leben mehrfach verfilmt wurde. Oder wie im Fall von Joe DiMaggio, dessen Name in dem Pop-Song Mrs. Robinson von Simon & Garfunkel verewigt wurde (Zitat: „Where have you gone, Joe DiMaggio?“). Ihr Symbolcharakter wirkt stärker – bis an den Rand zur Groteske, wie im Fall des Boxers Muhammad Ali, dem einstigen Großmaul, der später krankheitsbedingt nur noch schweigend die Sympathien der Welt genießen konnte. Sie wirken gelegentlich wie morality plays33, etwa dann, wenn jemand wie Mike Tyson, im Ring ein gnadenloser Faustkämpfer, als verurteilter Gewalttäter im Gefängnis landet. Wenn ein Ausnahmegolfer mit einem Vermögen von mehreren hundert Millionen Dollar wie Tiger Woods aufgrund eines Sexskandals beinahe aus der Bahn geworfen wird. Oder wenn Steuerbehörden mit der Macht des Gesetzbuchs etwa in Deutschland Tennisprofis wie Boris Becker und Steffi Graf oder Fußballmanager wie Uli Hoeneß in heikle Situationen bringen.

Sie alle und ihre verschlungenen Biographien gehören zu der Stoffsammlung, die eine neue Art von Identifikationsfiguren geschaffen hat. Spitzensportler von Weltrang, die einerseits zwar durch ihr Können das Unterhaltungsbedürfnis der Massen über kulturelle und Sprachgrenzen hinweg bedienen, die zu unkritisch verehrten Ikonen stilisiert werden, aber nur selten den Anspruch der Gesellschaft erfüllen, die sie gerne allzu naiv zu Vorbildern machen würde.

Mit diesem Spannungsverhältnis hat Michael Jordan schon früh umzugehen versucht. Deshalb präsentierte er sich zwischendurch als angelernter Sportphilosoph und ließ seine Gedankenkrümel über die neurotische Wechselbeziehung zwischen Ehrgeiz, Sport und Öffentlichkeit zwischen die Buchdeckel der Motivationsfibel I Can‘t Accept Not Trying pressen. Das Werk offenbarte, dass Jordans Antriebskräfte offensichtlich einem manischen inneren Monolog entspringen: aus der ständigen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Scheiterns. „Es ist hart“, beschrieb er das Gefühl, „wenn man jedes Mal auf dem Spielfeld alles bringt, was man hat, und trotzdem verliert.“

Der real existierende Jordan ist das Produkt einer faszinierenden Sportkultur. Einer vielschrötigen Maschinerie ohne Vereinsmeierei und staatliche Lenkung, die mit den Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft lebt und durch sie gedeiht. So ist sie auf der einen Seite bis zum letzten T-Shirt mit aufgedrucktem Club-Emblem konsequent durchkommerzialisiert und verlangt den Profis im Laufe ihrer Karriere alles ab, was sie haben: ihre Gesundheit und eine Söldnermentalität vom Zuschnitt der Angehörigen der französischen Fremdenlegion.

Aber Amerikas Stars kommen nicht aus dem Nichts. Die meisten besuchen Universitäten, die aus Tradition das Fundament und das Rückgrat des organisierten Leistungssports in den USA bilden. Das erklärt, weshalb die große amerikanische Sport-Show von heute in einem philosophischen Rahmen existiert, der in Elite-Universitäten wie Harvard und Yale gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert wurde: Damals galt Sport als Inbegriff der Charakterschulung für junge Männer, die es zu etwas bringen wollen.

Der Anspruch mag übertrieben klingen. Denn die Idee hat, seitdem die Universitäten selbst das Sportgeschehen kommerziell ausschlachten, ihre naive Unschuld verloren. Dennoch produziert der College-Sport auch heute noch mit Hilfe des Fernsehens ein spezifisch amerikanisches Irresein. Bierselig feuern Ex-Studenten in Sportbars und auf Partys den sportlichen Nachwuchs ihrer Alma Mater an. Ganze Bundesstaaten wie Indiana und Kentucky im Basketball oder Alabama und Texas im Football identifizieren sich mit College-Athleten.

Die unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von ihren Kollegen in den Profiligen: Amerikas Studenten waren bis vor kurzem echte Amateure.34 Egal ob sie gewannen oder verloren – solange sie die Farben der Hochschule trugen, bekamen sie nichts außer einem Stipendium. Sie wurden streng abgeschirmt von Schuh-Deals, Prämien, Sachgeschenken, Vorverträgen und sogar von Essenseinladungen. Selbst jemand wie Tiger Woods hatte als Student keinen Spielraum. Als er mit seinem namhaften Golferkollegen Arnold Palmer eines Tages ein Restaurant besuchte, bezahlte der zwar die Rechnung. Woods jedoch musste ihm hinterher einen Scheck schicken. Hätte er Palmer nicht seinen Anteil erstattet, hätte er sein Stipendium einbüßen können und wäre gezwungen gewesen, die teuren Studiengebühren der Stanford University selbst zu bezahlen. Und dieses Geld hatte der Mann damals nicht, der später als allererster Sportler die Milliardengrenze an Bruttoeinnahmen überschreiten sollte.

Das vermeintliche Idyll produziert nicht nur Absurditäten. Es fabriziert Risse. Denn der Universitätssport kommt nicht mehr mit seiner selbstgewählten Rolle als Ausbildungslager für den Profibereich zurecht. Die Verzahnung mit den Medien hat an den Hochschulen zu einem Starsystem eigener Prägung geführt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Mythos vom erfolgreichen Amateurathleten und dem unbefleckten Helden- und Leistungskult endgültig seinen Glanz verliert.

Nicht alle Nachwuchstalente drängen in den Profibereich. Es gibt jene, die das, was sie an der Universität und auf dem Spielfeld erreicht haben, in andere Karrieren ummünzen. Einige fühlen sich sogar berufen, in die Politik zu gehen. Wie der Princeton-Absolvent und Basketball-Olympiasieger Bill Bradley, der nach einer Karriere bei den New York Knicks Senator in Washington wurde. Oder wie der Football-Quarterback Jack Kemp, der in den achtziger-Jahren unter den Präsidenten Ronald Reagan und George Bush das Wohnungsbauministerium leitete.

Sport und Politik stehen sich in den USA nicht weltfremd gegenüber. Die Morgenjogger Bill Clinton und George W. Bush waren nicht die letzten Golfer in einer Reihe sportaktiver Präsidenten, die mit Dwight D. Eisenhower begann. Nach dem Golfer (und College-Basketballer) Barack Obama demonstrierte Donald Trump, dass sich so etwas noch steigern lässt. Er spielte fast nur auf Golfplätzen, die ihm selbst gehören und die er penetrant mit seinem Namen plakatiert hat.

Auch amerikanische Intellektuelle und Schriftsteller haben sich mit Sport beschäftigt. Von Scott F. Fitzgerald (Football) und William Faulkner (Kentucky Derby) bis Norman Mailer (Boxen), Stephen King (Baseball) und John Irving (Ringen) spannt sich ein beeindruckender Bogen von literarischen oder essayistischen Annäherungen, die bemerkenswerten Lesestoff hervorgebracht haben. Wie etwa den Roman Der Sportreporter von Richard Ford, der eine vielschichtige, nachdenkliche Kunstfigur aus dem Typenspektrum der gleichnamigen journalistischen Subspezies herausgeschnitzte und in drei weiteren Romanen weiterentwickelte35.

Hollywood spielte mit einer Handvoll guter Filme ebenfalls einen Part. Und das auch, weil Schauspieler wie Robert Redford (The Natural) oder Paul Newman (Slapshot) keine Berührungsängste hatten, obwohl ihnen sicher die Schwierigkeit bewusst war, Sport fürs Kino zu inszenieren. Manche Filme sind so gut, dass sie einem das Milieu auf eine erotische und zugleich humorvolle Weise nahebringen. Unübertroffen: Susan Sarandon und Kevin Costner in dem Südstaaten-Baseball-Film Bull Durham.

Wenn man der Frage, worin die Dynamik der amerikanischen Sportkultur besteht, noch ein wenig weiter nachgeht, stößt man auf zusätzliche Elemente. Eines ist der Kalender mit einer beachtlichen Palette von Sportarten, die das ganze Jahr über für Höhepunkte und Abwechslung sorgen. Ein anderes ist ein spürbarer Eskapismus unter Männern, die mehrere Jahrzehnte nach dem Aufbruch der Frauenbewegung den Sport als Reservat für Männerkult und Sexismus pflegen. Hier können sie sich von der Emanzipationsrealität in eine Vorstellungswelt zurückziehen, die woanders in der Gesellschaft nicht mehr existiert, wie Mariah Burton Nelson schon vor einiger Zeit in ihrem provokativen Buch The Stronger Women Get, the More Men Love Football36 herausgearbeitet hat.

 

Es passt in die Landschaft, dass sich die USA seit der Bürgerrechtsbewegung und dem Krieg in Vietnam in einer anhaltenden gesellschaftspolitischen Sinnkrise befinden. Mögen Politiker, Professoren und Pastoren so viel reden wie sie wollen, immer weniger Amerikaner hören ihnen zu. Die konsumverwöhnte Mittelklasse hängt lieber den Siegertypen aus den Riesen-Arenen an den Lippen. Neue Helden und geheime Verführer, die mit Hip-Hop-Musik und über Social-Media-Kanäle Schuhe, Kappen, Trikots und Bälle verkaufen. Immer mit dabei: die prickelnde uramerikanische Ideologie des „Gewinnen ist alles“. Den Siegern gehört die Welt.

Viele dieser Sieger sind schwarz – nicht nur im Basketball, wo 80 Prozent der NBA-Profis eine dunkle Hautfarbe haben, oder im Football, wo mehr als 60 Prozent der NFL-Spieler Afro-Amerikaner sind. Eine erstaunliche Entwicklung nur ein halbes Jahrhundert nach der Abschaffung der Rassentrennung im Süden der USA. Schwarze Athleten haben einen Anteil daran, die Phobien von Weißen gegenüber großen und starken dunkelhäutigen Männern zu beschwichtigen. Aber das reicht nur bis zu einem bestimmten Punkt. Sobald afro-amerikanische Athleten Probleme mit der Polizei bekommen oder auf dem Platz ausflippen, hagelt es von Vorurteilen geprägte Kritik.

Mit anderen Worten: Selbst durch den Sport als Erfolgsmenschen ausgewiesene und bestens bezahlte Schwarze müssen im weißen Amerika mit seinen Mikroaggressionen und Herabsetzungen unablässig um Anerkennung und Respekt kämpfen. Dieser Kampf, der ihre Persönlichkeit formt und sich als unverstellte, authentische Erfahrung vermittelt, ist der Hauptgrund dafür, weshalb die erfolgreichen schwarzen Sportler in den USA mehr sind als Sprechpuppen der Sportartikelindustrie.

Wenn man tiefer schaut ins feine Gewebe eines Spieles wie Basketball, sieht man übrigens, wie schwarze Spielkultur die Wechselbeziehung von Mitspielern und Gegnern beim Kampf um Spielfläche und Dribbel-Wege modifiziert hat. Was früher ein Mannschaftsspiel war, in das sich der einzelne einordnet, ist heute ein Varieté von One-Man-Shows, ruppigen Rivalitäten, bei dem das Bedürfnis nach dem Übertrumpfen, nach sogenannter One-upmanship stärker ist als das Gefühl für Kameradschaft.

Obwohl der Bedarf an Stars angesichts der unübersehbaren Medienlandschaft mit ihren Live-Übertragungen, der angeflanschten Bierreklame und den wachsenden Erwartungen der Zuschauer groß ist, produziert die Heldenfabrik keine Fließbandfabrikate. Wer allzu früh hochgelobt wird und zu viel verdient, dem droht, frühzeitig zu scheitern. Schon besser, einer fängt ganz unten an. Erst dann entsteht der Stoff, aus dem der Glamour ist.

Als Michael Jordan 1984 nach dem Studium und nach dem Gewinn der Goldmedaille bei den Olympischen Spielen Profi wurde und zu den Chicago Bulls kam, waren sie eine der schlechtesten Mannschaften in der NBA. Er fand schnell heraus, was das heißt: „In den ersten paar Minuten des ersten Spiels wurde ich umgehauen und landete auf dem Boden.“ Es dauerte dreieinhalb Jahre, in denen er ackerte und artistischer und unberechenbarer wurde, bis die Bulls zum ersten Mal die Playoffs der besten 16 NBA-Mannschaften erreichten. In jener Saison spürte man, dass Jordan vielleicht eines Tages seine Sportart dominieren könnte. Er war bester Defensivspieler, erfolgreichster Korbschütze, Slam-Dunk-Champion und wurde als Most Valuable Player ausgezeichnet.

In den Jahren danach zeigte er, dass man als Sportler noch weiter gehen kann, als Titel und Meisterschaftsringe zu sammeln und Millionen von Dollar aufeinanderzuschichten. Kein anderer Athlet hat die Grenzen zwischen Privatheit und öffentlicher Person derartig subtil aufgelöst und aus der eigenen Person ein Mediengesamtkunstwerk à la Joseph Beuys oder Andy Warhol geschaffen. Nicht mal Muhammad Ali, der nach seinem Übertritt zum Islam den Wehrdienst verweigerte und dafür vom Boxverband gesperrt wurde. Das jüngste Resultat für diesen gesellschaftlichen Prozess: Der im Frühjahr 2021 veröffentlichte zehnteilige Dokumentarfilm, Titel The Last Dance, den der Fernsehsender ESPN produzierte und der den Kunstgriff benutzt, auf Jordans allerletzte Saison in Chicago 1997–98 zurückzublenden, während er gleichzeitig das Panorama der Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale des Basketballers und seinen Einfluss auf seine Mitspieler beleuchtet. Die Wirkung ließ sich an den Einschaltquoten ablesen: Die zehn Episoden erreichten im Schnitt live mehr als fünf Millionen Zuschauer und fast 13 Millionen pro Folge, die sie sich die Doku nachträglich on demand anschauten.

Der dramaturgische Faden des Films hat etwas. Besonders wenn man weiß, dass der Erfolg der Mannschaft damals mehr war als ein lockerer, glorreicher Spaziergang. Die Widrigkeiten und Eitelkeiten, die sich im Laufe der Jahre in der Umkleidekabine der Bulls aufgestaut hatten, waren nicht unerheblich und Teil der Geschichte. Regisseur Jason Hehir konnte dafür auf bis dahin nie gezeigte Aufnahmen aus dem Archiv zurückgreifen. Rund 500 Stunden an Rohmaterial, das eine Crew im Auftrag der NBA im Laufe jener Saison gedreht hatte, das aber nie das Licht der Welt erblickt hätte, wenn Jordan, dem die Liga Veto-Recht eingeräumt hatte, seine Zustimmung verweigert hätte.

Auf diese Weise erfährt die interessierte Welt nicht nur zum wiederholten Mal, was für ein genialer, sportlich überragender und extrem ehrgeiziger Typ dieser Michael Jordan war. Sondern sie erhält zusätzlich Einblick in das Sammelsurium aus neurotischen Charakteren, ohne die es die Nummer 23 nie zum ganz großen Erfolg gebracht hätte.

Die meisten von ihnen haben sich mit ihrer Rolle als Nebendarsteller abgefunden. Selbst der damalige Bulls-Center Luc Longley, der wenig später in seine Heimat Australien zurückkehrte und aus der Rückblende fast völlig herausradiert wurde. Angeblich wurde er für das Projekt nicht interviewt, weil die Kosten für eine Reise des Drehteams zu hoch waren und die COVID-Pandemie alles verkomplizierte. Longley war deshalb bereit, sich erstmals vom australischen Fernsehen ausführlich porträtieren zu lassen. Die Produzentin Caitlin Shea von der Australian Broadcasting Corporation (ABC) sagte dem amerikanischen Sender Fox Sports: „Er wollte, dass junge Australier erfahren, dass auch ein Aussie in dieser Mannschaft war.“37

Scottie Pippen ging noch weiter und beschwerte sich hinlänglich in seiner 2021 erschienenen Autobiographie über The Last Dance: Nicht nur war Pippen sauer, dass darin der damalige Kampf des gesamten Teams um den sechsten NBA-Titel zu einer Glorifizierung von Jordan umgedeutet wurde. Was ihn noch mehr genervt hatte, war dessen Einfluss im Hintergrund als Produzent mit Vetorecht über das eingesetzte Bildmaterial. „Michael erhielt 10 Millionen Dollar für seine Rolle in der Doku“, schrieb er. „Meine Mannschaftskollegen und ich erhielten keinen Cent.“38

Abgesehen davon, dass Jordan seine Erfolge auf dem Platz nicht alleine geschafft hat: Was seine Ausstrahlung außerhalb der Arenen betrifft, geht viel auf das Konto einer der kreativsten Werbeagenturen der Welt, Wieden & Kennedy in Portland im Bundesstaat Oregon. Dort entwirft man seit Jahrzehnten jene Nike-Werbespots, mit denen aus profanen Sportlern wahre Aktionskünstler werden. In dem eindrücklichsten Jordan-Clip steht er allein in einer leeren, halbdunklen Turnhalle und spielt den einsamen, nachdenklichen Helden, der so gern von dem Sockel herabsteigen möchte, auf den ihn die amerikanische Öffentlichkeit gestellt hat. „Was wäre, wenn mein Name nicht in Neonbuchstaben geschrieben würde?“, fragt er mit dieser tiefen Stimme aus dem Off, während er einen Ball nach dem anderen in den Korb wirft. „Was, wenn mein Gesicht nicht in jeder zweiten Minute im Fernsehen gezeigt würde?“

Die Kamera hängt weit oben unter der Decke und fängt ihn in ästhetisierenden Schwarzweißkontrasten ein.

„Was, wenn nicht hinter jeder Ecke ein Menschenauflauf entstünde?“

Das Tippen des Balles. Das Geräusch des Netzes.

„Was, wenn ich einfach nur ein Basketballspieler wäre? Kannst du dir das vorstellen?“

Es herrscht sekundenlang Stille. Und jeder darf rätseln, was er dem berühmtesten und reichsten Sportler der Welt auf eine solche Frage antworten würde. Aber bevor wir ihm etwas Gescheites zurufen können, nimmt er uns das Nachdenken ab.