Ich und der Andere

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„Der Mörder erwacht vor Morgengrauen, und er zieht seine Stiefel an, borgt sich mein Gesicht aus der Galerie der Ahnen, wandelt durch die leeren Räume unseres Hauses, dorthin, wo mein Bruder schläft, wo meine Schwester schläft. Er gelangt zu einem anderen Raum, wo mein Vater schläft, der die blutigen Schiffe befehligt hat. Vater, ruft er, Vater!

Ja, Sohn?

Seine Stimme klingt von sehr weit her, wie aus einer Gruft.

Vater, ich will dich töten.

Und dann geht er, der Sohn, der Mörder, weiter, dorthin, wo die Mutter schläft. Seine Mutter. Ihr sagt er etwas anderes, ‚Mutter‘, sagt er,

Mutter, ich will dich …“

Schmerz und Lust vermischten sich zu einem Schrei, der alles bedeuten mochte. Ich vermochte das schlimme Wort, das jetzt laut werden wollte, nicht auszusprechen, aber es hing über uns allen, alle erwarteten es, wollten es. Böse drohte es von oben, es war nicht gänzlich aufgegangen in diesem unartikulierten Schrei, der kein Ende nahm, der alles bedeutete, mit aller Kraft, was der Hass will, wenn die Liebe versagt. Als dann alle im Raum wie gelähmt den Atem anhielten, nicht wussten, ob sie recht verstanden hatten, ob ich das alles tatsächlich Wort für Wort so gemeint und gesagt hatte, wie es da unten angekommen war, da riss mein Film, in den ich mich verloren hatte. Der Stecker war gezogen. Das Ende war da. Der Saal kochte über. Der Abend war vorbei.

Tagsüber schleppte der Streikbrecher arglos prall gefüllte Säcke aus den Laderäumen der Schiffe heraus zu den wartenden Zügen. Die Sonne brannte hoch am Himmel. Gerüche fernster Länder stiegen ihm lockend in die Nase. Die Angeworbenen arbeiteten schweigend und ohne einander in die Augen zu sehen, wie aus schlechtem Gewissen. Die Polizisten verzehrten ihre Stullen und sahen teilnahmslos zu. Pünktlich machten sie Feierabend. Die Schicht der Arbeiter ging später zu Ende. Müde warteten sie ab. Erst als es dunkel wurde, zahlte man sie aus und lud sie ein, am nächsten Tag wiederzukommen. Schweigend steckten sie das Geld ein und immer noch schweigend krochen sie in die wartenden Busse, die sie in die Stadt zurücktransportierten. Es waren zu viele, die Platz finden mussten, aber die Fahrt über holprige Straßen rüttelte an den müdegearbeiteten Körpern, bis sie fugenlos aneinanderlagen, ein einziger, vielgliedriger Organismus. Der Lehrer, der keiner mehr sein durfte, bloß ein Teil dieses Ganzen. Er schloss die Augen und genoss diesen Zustand, fühlte, dass er hier nicht alleine war und dass es auf ihn nicht ankam. Oder, dass es auf alle anderen um ihn herum genauso ankam wie auf ihn, mit allen seinen Projekten, die ihn angetrieben hatten, mit seinen Ängsten, die ihn immer wieder zaudern ließen, und mit den Umständen, die ihn in die Flucht getrieben hatten. Er hätte lange so fahren mögen. Nach und nach spuckte der Bus seine Ladung wieder aus. Er fühlte, wie der Organismus seinen Zusammenhalt wieder verlor. Er war einer der Letzten, die erst am Ende der Tour dem Ziel nahe waren. Als er allein dem abfahrenden Bus hinterher sah, hatte er noch eine knappe Stunde Fußweg vor sich. Dann, am Strand von Venice, war die Flucht für diesen Tag zu Ende. Der Strand von Venice verlief nicht weit von L.A., und lebte vom Ruf einer legendären Vergangenheit im Gedächtnis der ersten Hippie-Generation. Der Ort Venice selbst aber lag seither verlassen am Rande des allgemeinen Fortschritts. Ein ödes Denkmal der vergehenden Zeit, eine verfallene, kleine Stadt, mit wackeligen Stegen hinaus ins Meer. Altgewordene Fischerboote lehnten leck und schief halb im Wasser. In der Stille lauschte der Wanderer auf das leise Schlagen der Wellen gegen den leeren Strand. Manchmal hörte er den Verputz von den ungenutzten Häusern auf den Asphalt fallen. Unter Palmen oder zwischen den windschiefen Hütten schliefen Betäubte im Sand ihre künstlichen Träume aus. Wer von seinem Trip nicht mehr zurückkam, blieb oft tagelang dort liegen. Manche holte sich das weite Westmeer. Sie fehlten niemandem, und kaum jemand fragte nach ihnen.

Durch Zufall hatte der Heimatlose ganz in der Nähe einen schmalen Raum als billige Unterkunft gefunden. Platz für ein schmales Bett, einen Tisch. An der Wand waren ein paar Haken für Kleider befestigt. WC und Dusche gab es draußen auf einem Flur, dessen einzige Lichtquelle eine nackte Glühbirne war, die Tag und Nacht leuchtete und von den unzähligen Faltern und Fliegen mit schwarzen Brandmalen übersät war. Das einzige Fenster seiner Kammer führte auf ein flaches Dach hinaus, mit Fernsehantennen und Schachtöffnungen für Abluft und Klimaanlagen. Es kostete wenig Mühe, durch das Fenster dort hinauszusteigen. Man konnte sich einfach auf das Fensterbrett setzen und die Beine hinausschwingen. Auf diese Weise betrat man ein kleines Paradies mit einem Ausblick, der ihn für alles andere entschädigte. Das Haus lag am Rande des Ortes und überragte die anderen Bauwerke in der näheren Nachbarschaft. Wenn er von diesem Dach steil hinunter in die Tiefe blickte, konnte er, der die ganze bisherige Reise meist in dunklen Löchern gehaust hatte, den Palmen auf den Scheitel sehen. Er sah das ununterbrochene Wehen ihrer angetrockneten Blätter, sah den Sand zwischen ihren Stämmen, der vom nahen Strand herkam und das Pflaster der Straßen mit kleinen, wandernden Dünen überzog. Dort unten lebten die Menschen, die sonst nichts zu tun hatten. Sie saßen, sie tranken, sie sangen und wankten und sie liebten einander. Manchmal zankten sie auch, aber ihre Stimmen gelangten nicht bis zu ihm herauf, der Wind verwehte sie auf halbem Weg. So blieb es ein stummes Schauspiel, das sich ihm darbot und an dem ihm nichts fehlte, weil er sich die Worte selbst dazu denken konnte. Wenn er den Blick hob, sah er auf das Meer hinaus. Sah am Horizont die Schiffe gehen und kommen.

Er aber war allein. Er und die Weite dort draußen. Das Rauschen, die undeutliche Sprache des Fernsten, lockte ihn weiter, aber es gab kein Weiter. Hier war er an ein greifbares Ende gelangt. Das Ende der westlichen Welt, viel wirklicher und endgültiger als der bloße äußerste Punkt eines noch so großen Kontinents. Weiter weg war nur noch der Himmel über ihm. Aber der blieb stumm, als wartete er bloß ab.

Wenn ihm das Alleinsein zu viel wurde, nachts, wenn statt der Menschen nur noch die Lichter tanzten, wenn der kühle Mond das Meer mit silbernen Fäden überzog, die sich fanden und flohen, sich manchmal verschlangen oder aufhörten, ohne Spur, um anderswo aufzuglänzen wie kaltes Feuer, dann stieg er hinab, durch acht Stockwerke, in deren jedem die gleiche schwarzgefleckte Glühbirne hing. Hinter den Türen mischten sich die Schreie menschlicher und tierischer Not, untermalt vom Lachen der Shows und dem aufdringlichen Geplärre allgegenwärtiger Werbespots. Dann strich er durch die Straßen, ein Schatten unter anderen Schatten, die sich mischten und wieder verloren. Noch nie war er bis zum Meer hinuntergegangen, dessen Brandung ihm eine unbestimmte Angst machte. Wie das Seufzen eines endlosen Vergehens und Wiederkehrens, das nicht mehr weiterwusste. Manchmal suchte er eine Kneipe auf, saß an der Theke, trank ein Bier und schaute scheu zwischen seinen aufgestützten Armen zu den anderen hinüber. Dann überraschte ihn der Frühlingsbeginn, nach einem langen feuchten Winter, als Tag und Nacht endlich wieder gleich lange dauerten. Die Bars konnten die vielen Menschen nicht fassen, die das wachsende Licht mit Gesang und Tanz begrüßten, Menschen aus fernen Ländern und in vielen Farben. Die Türen blieben offen, sie brachten ihre Gitarren und spielten Lieder ihrer alten Heimat. Braune Frauen tanzten Hand in Hand, bildeten Kreise und zogen auch ihn mit, der scheu zurückweichen wollte. Dann tanzte auch er, spürte eine weiche, samtige Hand in der seinen und sah die weiß blitzenden Zähne zwischen dem rosigen Fleisch der dunklen Lippen lachen, und lachte wohl auch selbst sein kaum hörbares Lachen. Gesang wärmte die Herzen und machte ihren Geist leicht, der alles umfasste mit seinem freundlich einwiegenden Gang. So lebte er hin und vergaß allmählich den Grund, warum er überhaupt da war. Ziellos, antriebslos und doch auch angekommen, und sei es am Ende der westlichen Welt. Sich irgendeinem Ende nah zu wissen, bedeutete für ihn die unheimlichste Form von Freiheit. Trotzdem, in der Nacht schlief er friedlich, erfüllt von der nahen Weite des Meeres und erschöpft von der ungewohnt schweren Arbeit. Seine Träume weckten ihn nicht, sondern blieben bei ihm wie undeutliche Erinnerung an wirklich Erlebtes. So hielten sie das Andenken an sein früheres Leben wach, bewahrten seine Welt, mehr als er damals bemerkte.

Die Stunden und Tage nach dem Auftritt im Fog vergingen in fiebriger Erwartung. Nach rund einer Woche steigerte diese sich zu einer wütenden Ungeduld, die wir mit Gerede zu übertönen versuchten. Robby zum Beispiel war sich sicher, den Agenten an seinem Verhalten erkannt zu haben. Angeblich hatte er beim Zuhören meist die Augen geschlossen gehalten. Uneinig waren wir uns, ob das als gutes oder schlechtes Zeichen zu werten wäre. John wollte beobachtet haben, wie jemand sich fluchend abgewandt und auf der Flucht rücksichtlos eine Schneise durch das Publikum geschlagen hatte, bevor er in die Nacht hinaus verschwunden war.

„Das würde zu solchen Typen passen! Die sind ignorant, komplett impotent und darüber hinaus destruktiv. Nichts soll hochkommen, was nicht in ihr Schema passt.“

Ray war der Einzige, der noch logisch zu analysieren versuchte, warum die Antwort eben Zeit brauchte. Ich selbst konnte mich an absolut nichts mehr erinnern. Meine Improvisationen waren wie von einem schwarzen Loch verschluckt. Immer wieder bat ich meine Freunde, den von mir gesungenen Text wenigstens in Umrissen zu schildern, aber sie brachten es nicht zuwege oder wollten sich gar nicht genauer erinnern.

Weitere zwei Wochen später, von denen wir hinterher nicht mehr wussten, wie wir sie überstehen hatten können, rief der Kerl endlich an und bestellte uns in eine Hotelbar im Zentrum von L.A. Dort bot er uns Champagner an – und einen Plattenvertrag. Im Namen von Electric Music. Exklusiv. Es war unfassbar. Überstieg unsere unverschämtesten Träume. In einen Strauß wilder Rosen verpackt, überbrachte er uns wie ein Götterbote die Nachricht, die auf einem Meer von kleingedruckten Fußnoten schwamm, über das wir mit der Verachtung von Laien hinwegsahen.

 

Nach einer ausgiebigen Party und überlaufend vor frisch aufgeschäumtem Selbstbewusstsein, bewaffnet bloß mit unseren Instrumenten, warfen wir uns in die Schlacht um jene Musik, die es bisher nur in unseren Köpfen gegeben hatte. Aus jedem von uns platzten die Ideen nur so heraus und schwirrten durch den Raum wie ein von frischem Grün angelockter Heuschreckenschwarm. Dass sich der Himmel über uns dabei verdunkelte, merkten wir zunächst nicht. Wie besessen spielten wir Tag und Nacht darauf los, überboten einander und schliefen höchstens ein paar Stunden auf dem Fußboden des Studios. Um Zeit zu sparen, ließen wir uns Pizzen bringen statt richtigem Essen, tranken Kaffee und Wasser statt Bier und waren trotzdem high wie nie zuvor. Manchmal improvisierten wir virtuos wie abgebrühte Jazzer oder rockten wild darauf los und krönten das alles mit kontrapunktischen Episoden, die die Virtuosität von Bach und Händel blass aussehen ließen. Wir fühlten uns allen Göttern gewachsen. Großzügig ließen wir den Beatles ihren Himmel und den Stones die Hölle. Uns, den Doors, gehörte das Reich des Psychedelischen.

Auf die Euphorie folgte bald ein strudelnder Gleitflug abwärts. Alles, was wir im Laufe der nächsten Wochen lieferten, schmiss der Kerl uns zurück. Von den Rosen blieben die Dornen. Er und seine Company begannen uns von oben herab zu treten. Oder sie wollten uns nach dem Zuckerbrot die Peitsche fühlen lassen und uns vor dem Aufstieg aus dem Nichts noch ausgiebig quälen, um zu zeigen, wer ab nun über uns im Olymp thronte. Richtig räudig wurde es allerdings erst, als wir selbst zu ahnen begannen, dass die da oben recht hatten. Verdammt recht sogar, wenn auch nicht in der Weise, wie sie es meinten. Im Grunde hatten wir immer mehr gewollt, als bloß Psychorock oder Ähnliches. Wir wollten die Menschen in die dunkelsten Verstecke ihres Unterbewussten führen, wo sie sich alleine niemals hingewagt hätten. Neue Lebensmöglichkeiten entdecken, das wollten wir. Jedoch wir kannten die Wege dorthin nicht aus eigener Erfahrung, sondern bloß vom Hörensagen. Wir kannten das Echo alter Mythen, hatten Träume geträumt, aber der Kern unserer Sehnsüchte war vage geblieben, wie im Nebel. Was wir nicht wollten, wussten wir, kannten wir. Was wir wollten, das Echte, fehlte. Und wir konnten es uns nicht vorstellen. Die Company wollte verkaufen, sonst nichts. Das war verständlich. Verkaufen lassen sich Sensationen, Schweinereien, Softpornos. Anstößig und zugleich für möglichst viele konsumierbar. Wir, die Doors, wir wollten aber die totale Intensität. Die absolute Expression. Nackte Poesie, die weh tat. Ja? Ja!

Da fiel mir der Satz ein, den ich damals dem stotternden Lehrer gegenüber im Fog so übermütig hinausposaunt hatte.

Um die Götter zu verstehen, muss ich selbst ein Gott werden!

Das war gut geprahlt, eines Dilettanten würdig. Als ob ein Kunsträuber sich selbst schon als Künstler fühlen dürfte! Fieberheiß stieg mir die Schamröte ins Gesicht, zum Glück waren die anderen so mit sich selbst beschäftig, dass sie nichts davon bemerkten. Ich flüchtete ins Freie, meinen voraushüpfenden Gedanken hinterher.

Das Leben hier draußen brauchte einen wilderen Geist, der die alten Götzen zertrümmerte. Einen Geist, geboren aus der Urkraft der Musik, wie es schon Nietzsche verkündet hatte. Die Quelle aller Poesie war die Musik. Die Quelle der Musik der Tanz. Der Ursprung allen Tanzes die Ekstase, der unerschöpfliche Orgasmus der Schöpfung. Diese Urkraft, die in jedem von uns schlummerte – und verkümmern würde, wenn sie nicht geweckt wurde. Wer sie verschlief, auf den wartete die Hölle der ewigen Langeweile. Wahre Kraft aber entstammte letztendlich einem Zauber, dem wahren Mittelpunkt von allem, was es überhaupt gab. Und diesen schöpferischen Mittelpunkt, das spürte ich von Tag zu Tag schmerzlicher, den besaß ich nicht. Noch nicht. Wir alle wussten nicht einmal, wo suchen!

Ich stand alleine auf einer Straße, in einer Gegend, in der ich noch niemals gewesen war, und ohne zu wissen, wie ich dort hingekommen war. Ich hatte mich verirrt, aber unsere Situation, die hatte ich endlich erkannt, und in grausamer Klarheit. Wir hatten im Grunde keinen blassen Dunst, wo diese Schöpferkraft zu finden wäre. Vergeblich bohrten wir nach unterirdischen Vulkanen, suchten nach der lebendigen Lava unseres Inneren, die man verwandeln hätte können in eine aufregende, bisher unerreichte Musik. Alles, was wir produzierten, war nichts, war die Fortsetzung der alten Leier. Ein paar Sekunden lang wäre ich am liebsten tot gewesen. Oder wenigstens in den Boden hier an Ort und Stelle versunken, um durch die Kanäle von Los Angelos bis ins Meer gespült zu werden.

Ein zufällig vorbeitrudelndes Taxi erlöste mich aus meiner starren Verzweiflung. Ich stieg ein, ließ mich zum Studio zurückfahren und lud meine Freunde in eine Bar ein. Dort legte ich ihnen das Fazit meiner Überlegungen vor.

Unsere Version von Rock ’n’ Roll, aufgemischt mit diffusem, psychedelischem Sound und klassischen Zitaten, genügte nicht für den Durchbruch, den wir ersehnten. Wir stimmten also im Grunde dem Urteil der Company bei. Wenn auch aus völlig anderen Gründen, von denen die Geldsäcke dort keine Ahnung hatten.

Was tun?

Schweigen.

Trinken.

Das Publikum in seiner fernsehsüchtigen Zufriedenheit musste vergewaltigt werden, damit es überhaupt etwas empfand. Von uns sollten sie echtes Blut zu lecken bekommen statt Tomatensaft. Das Blut aus dem Inneren unserer Herzen. Die anderen, Jimmy Hendrix, The Who, auch Bob Dylan, egal wie sie alle hießen, sie hatten ihre eigenen Pfade in diese Richtung gefunden. Bloß wir, The Doors, traten auf der Stelle, bevor wir überhaupt noch ins Laufen gekommen waren. Höhnisch blieben die Tore verschlossen, von denen wir geträumt hatten. Die andere Seite blieb unerreichbar.

Noch eine Runde.

Erregt, aber unfähig fühlten wir uns wie in der Vorhölle unüberwindlicher Mittelmäßigkeit. Die schöpferische Erregung verpuffte im Zittern unserer Nerven, drohte abzuflauen, bevor sie zu tönen hätte beginnen können. Die Company mit der feinen Nase für Versager witterte genau diese unsere Angst und gab uns die Sporen. Wir sollten für sie die Hürden der Hitparaden überspringen und ins Verkaufsziel voranstürmen. Egal wie. Deshalb der Vertrag. Vielleicht war es ja längst schon zu spät. Und wir waren längst schon wieder abgeschrieben. Ray hatte in der Zwischenzeit die Fußnoten dieses Vertrags studiert. Demnach konnten sie uns jederzeit und ohne Weiteres vor die Tür setzen.

Resümee: Nachdem wir uns also nächtelang vergeblich im Studio abgequält hatten, ohne mehr als Lärm und Schrott zu produzieren, nachdem wir endlich wieder alles mögliche Zeug geschluckt hatten, um auf bessere Ideen zu kommen, mit dem einzigen Ergebnis, überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können, schienen wir alle zusammen am Ende.

Punkt und aus.

Mit der Zeit begann der Streikbrecher wider Willen sich an die schwere Arbeit am Hafen zu gewöhnen. Sein Körper, den er sonst wie einen lästigen Sack mit sich herumgetragen hatte, wuchs zu einer kräftigen Stütze heran, zu einem Kameraden, der es gut mit ihm zu meinen schien. Sein Körper war es dann auch, der ihn an jenes Heft erinnerte, das er einst, wann genau wusste er nicht mehr, an einem dunklen, mit lauten Menschen angefüllten Ort vergessen oder verloren hatte. Während des Feierabends war diese Erinnerung aufgetaucht, als seine Hände nutzlos vor ihm lagen und wie von selbst nach einem in der Nähe liegenden Stück Holz griffen. Es sah nach nichts Besonderem aus. Ohne Absicht begannen seine Finger damit zu spielen. Wie Kinder spielen, die in allem ein Etwas sehen können. Da fiel es ihm ein. Das mit dem verlorenen Heft. Das mit dem Schreiben. Früher hatte er oft geschrieben, wenn ihm etwas durch den Kopf ging und ihm wichtig erschien. Spielerisch und doch achtsam hatte er nach den richtigen Formulierungen gesucht, hatte verbessert, ausgestrichen. Sich verloren im Zauberreich der Worte. Worte, die wie von selbst lebten und zugleich etwas anderes bedeuteten. Aber wie konnte das sein? Dieser Frage war er oft nachgegangen. Jetzt hatte er sie vergessen gehabt. Er sah den spielenden Fingern zu und spürte, wie die Zeit verging. Wie seine Zukunft weniger wurde, sie schien zu diesem kleinen Stück Strand vor seinem Fenster zusammengeschrumpft zu sein. Mit Schwung warf er das kleine Stück Holz in die Tiefe.

Sein Körper war es auch, der ihn an regelmäßige Mahlzeiten gewöhnt hatte, wie er seit seiner Studienzeit keine mehr bekommen hatte. Essen war ein lästiges Bedürfnis gewesen, ohne tieferen Sinn. Nun wurde der Hunger zu einem Freund. Er begleitete ihn überall hin, und gerne gab er ihm nach, und folgte seinem Instinkt in eine der riesigen Ausspeisungshallen, wo es für wenig Geld gebratene Kartoffeln und gehacktes Fleisch gab, an langen Tischen und unter kalten Neonröhren. Meist saß er allein da mit seinem Hunger, der langsam verging, dann spürte er, dass auch für ihn wieder die Zeit kam, woandershin zu wandern.

Einmal saß ein Mann ihm gegenüber auf einer dieser Bänke aus rotem Plastik und starrte ihn an. Ein kräftiger Kerl, der sein Essen verschlang und Wasser dazu trank, das hier nichts kostete. Der so Angestarrte fragte sich, ob jener ihn etwa kannte. Schon wollte er sich einen geschützteren Platz suchen, um dem brennenden Blick auszuweichen, aber da war der andere plötzlich verschwunden. In diesen Fast Food Hallen gab es keine Musik. Riesige Propeller an der Decke verteilten träge die Gerüche von schlechtem Fett und Schweiß über die Menschen und summten leise dazu. Er brachte sein Geschirr zurück zu den metallenen Tresen, stellte es zwischen andere Teller, wie es die Ordnung verlangte. Sein Kopf war angenehm leer, nur das Summen von oben störte ihn. So war er froh, wieder draußen zu sein.

Zwischen den blinkenden Reklamen fuhren hupend ein paar Autos durch die Nacht, er aber wählte eine der stilleren Straßen, auch wenn das ein Umweg war. Die Stille dort empfing ihn wie eine lang entbehrte Freundin. Beide waren sie fremd in der lauten Welt der Riesenstädte und hatten einander nötig. Wenig später beschlich ihn das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Schwere Schritte folgten ihm, Schritte von mehreren Männern in derben Schuhen, die sich nicht unterhielten, die stumm wie Schatten an ihm klebten. Weil er keine Furcht zeigen wollte, weil er so arm war wie die meisten hier, blieb er stehen und wandte sich um. Auch die Männer hielten an, kurz bevor sie ihn über den Haufen hätten laufen müssen. Einen unter ihnen erkannte er. Es war der Kerl, der ihn während des Essens angestarrt hatte. Jetzt warf dieser dem Nichtsahnenden ein paar Ausdrücke entgegen, in einer Sprache, deren Wucht keinen Sinn brauchte, um zu wirken. Sie meinten ihn, den Fremden, daran war nicht zu zweifeln. Ihn, wie er dastand und beruhigend die Arme hob. Nur wenige Worte, anklagend herausgeschrien, glaubte er zu verstehen: Streik, Solidarität, Diebstahl von Arbeit, Ausbeutung, Klassenfeind. Da wollte er etwas erwidern, aber schon das erste

Wort

blieb ihm hinten am Gaumen kleben. Augenblicklich waren sie da, so nah vor ihm, dass er ihren schlechten Atem riechen konnte, und schlugen zu, einer nach dem anderen, dann alle zugleich. Harte Fäuste, die schwere Arbeit gewöhnt waren. Obwohl er seine Arme schützend vor den Kopf gehoben hatte, trafen sie ihn. Er ging zu Boden und fühlte Blut aus Nase und Mund auf den Asphalt rinnen. In dieser Lacke aus Blut blieb er dann liegen, als sie von ihm abließen, kehrtmachten und den Weg, den sie gekommen waren, zurückgingen. An der Ecke, vor der Hauptstraße, reichten sie einander die Hände und gingen in verschiedene Richtungen auseinander. Schweigend, wie in Scham, oder einfach bloß wie nach einer getanen Pflicht.

In weniger aufgeregten Zeiten waren die Sonntage Inseln der Freiheit für mich gewesen, an denen niemand mich stören durfte. Manchmal versuchte ich bloß, einer Schönen, von der ich oft nicht mehr genau wusste, wie sie zu mir in mein Apartment gekommen war, einige meiner Gedichte vorzulesen, als wäre ich nichts als ein verträumter Student. Oder ich fantasierte mich in einen Gewaltrausch, während draußen die Kirchenglocken zum Gottesdienst einluden. Oder. Oder. Oder ich schrieb Texte, die ich geträumt hatte, oder tat so, als hätte ich sie geträumt. Aber an diesem besonderen Sonntagmorgen, nach bitteren Wochen voller Niederlagen und Zweifeln, lief alles anders. Missmutig und allein war ich erwacht, Verse die mich erfrischen hätten können, mieden mich – und die anregenden Träume auch. Stattdessen umkreisten mich Dämonen, die sich schadenfroh über mich amüsierten. Ray musste es gerochen haben – es war so schwer nicht zu erraten – jedenfalls stand er, wie vom Himmel gefallen, plötzlich bei mir im Zimmer. Er hatte ein paar jener Papiere dabei, die er damals diesem Typen, den wir alle für einen Lehrer hielten, samt seinem Heft abgenommen hatte. Gerne hätte ich dieses Erlebnis vergessen, wegen des beunruhigenden Gefühls, das mich damals im London Fog erfasst hatte und seither in immer kürzeren Abständen heimsuchte, ohne dass ich jemandem davon erzählen wollte. Im Grunde schämte ich mich meiner dummen Sprüche an jenem Abend und der ganzen Aufregung. Mit einem gut eingeübten Pokerface stand Ray da und streckte mir dieses Papierzeug entgegen, das weder ihm noch mir gehörte.

 

„Erinnerst du dich? Du hattest dem Kerl hinterher den Namen eines Dichters verpasst und behauptet, er erinnert dich an ihn. An wen eigentlich? Hast du ja nie erzählt.“

Kaltes Feuer hinter den Augen. Wie er in der Ecke lehnte. Wie er den Kopf hob. Wie ein Engel, oder ein Gespenst. Wieviel Mühe ihn die Worte kosteten, ehe er sie halb und halb herausspuckte.

Ich erinnerte mich bröckchenweise. Unwillig gab ich nach. Der Typ war mir damals wie eine Ahnung von etwas begegnet, das mir fehlte. Wie etwas, das ich nötig haben könnte, ohne es zu kennen. Dass ich später noch von ihm geträumt hatte, hatte ich auch niemandem gegenüber mit einem Wort erwähnt. Seit ich ein fünfjähriges Kind gewesen war, hatte ich ein ungeklärtes Verhältnis zu Träumen. Das rührte daher, dass ich mit meinem Vater, ich weiß nicht mehr wohin, einmal nachts mit seinem Wagen unterwegs gewesen war. Vor uns war ein Unfall geschehen. Eine Schar Indianer umstand ein Autowrack, heulend und schreiend. Wenn Indianer heulten und schrien, konnte das einen furchtbaren Eindruck machen. Viel mehr noch auf ein Kind. Ich sah einen eingeklemmten Mann, alle schrien, er wäre tot. Kreischend war ich aus unserem Auto geklettert, wollte helfen. Der Mann blutete, und ich, ein kleines, fünfjähriges Wesen, zerrte an dem Gestorbenen, bis mein Vater mich brutal wegriss. Er konnte sehr streng sein, bugsierte mich in den Fond unseres Wagens zurück und befahl mir, sofort zu schlafen. Aus Furcht stellte ich mich dann schlafend, zu widersprechen war unmöglich. Vielleicht schlief ich dann wirklich noch einmal ein. Mein Vater hatte später stock und steif behauptet, dass ich alles, den Unfall und den Toten, bloß geträumt hätte, während in Wirklichkeit gar nichts passiert sei. Er verbat mir sogar, davon zu sprechen. Noch heute habe ich manchmal das deutliche Gefühl, dass damals die Seele des toten Indianers in mich hineingekrochen und ich auf diese Weise zum Schamanen geworden war. Für mich konnten Träume wirklicher sein als jede Wirklichkeit. Auch wach konnte ich minutenlang in sie versinken.

„Was ist denn los mit dir? Du sollst dir das da ansehen.“

Ray hatte die Geduld verloren und wedelte wütend mit diesen Papieren vor meinen Augen. Widerwillig nahm ich sie entgegen. Entlang einiger Worte, die ich mühsam genug entzifferte, tastete ich mich nun den Weg vom Heute zum Damals zurück. Nachdem ich mehrere Zeilen so einigermaßen verstanden hatte, erwachte allmählich die Erinnerung zu neuem Leben. Mit seinen braunen Samtaugen, seinem weichen Mund, seiner Scheu, schien er wieder vor mir zu stehen. Ich vernahm seine Stimme, wie sie nicht vorankam, so sehr er sich auch abmühte. Wie sie springen wollte und stolperte. So ähnlich funktionierten auch die Sätze, die da vor mir lagen. Manche bestanden nur aus wenigen Worten. So wie sie dastanden, deuteten sie auf ein Geheimnis, das sie aber nicht preisgeben wollten. Zumindest nicht sofort. Seine Sprache schien es zu verbergen, um es vor dem vorschnellen Zugriff der Menschen zu beschützen. Mir schien, als würde ich erst jetzt, während des langsamen, wiederholenden Lesens, das, was ich damals mit ihm erlebt hatte, wirklich erfahren. Es ging um das Bewusstsein, das er mir abgesprochen hatte, um die Sprache der Götter, die Stille, um die Liebe, und vor allem: um einen neuen Anfang für uns alle. Wenn er es so gemeint hatte, hatte ich ihn nicht verstanden. Die aufsteigende Erinnerung und manche der Wörter auf den alten Papieren berührten mich an einer Stelle, die ich bisher für unberührbar gehalten hatte. Irgendwo tief in mir, wo ich mich nicht auskannte. Ohne mein Zutun antwortete etwas von dort diesen fremden Worten wie ein Echo. Eine Musik ohne Noten. Ein Sound ohne Instrumente. Ein Abheben vom Boden des Gewohnten, beinahe ein Glücksgefühl. Ohne zu verstehen, verstand ich allmählich, was er vielleicht sagen wollte und auch damals gemeint hatte. In seiner tastenden Sprache beschwor er die drohende Gefahr einer Welt ohne Menschen. Einer Welt, bevölkert von Automaten. Von einem Leben im Lärm, ohne Musik. Oder einem leeren Leben nach dem Verstummen der Musik. Diese leerlaufende Welt musste angehalten werden. Stillstand. Neuanfang. Das Schlimmste stand nicht bevor, es war schon geschehen, es war schon passiert, nur niemand hatte es bemerkt. Unsere Sinne waren zu stumpf für das, was rundum geschah. Wollte er sagen, dass wir endlich auf den Schrei des Schmetterlings neu, wie zum ersten Mal, hören mussten? Alles war wie eine Warnung vor dem großen Schlaf, vor dem Schweigen des endgültig Verschwundenen. Vor dem Verrecken in der Betriebsamkeit unserer Geschäfte. Immer wieder verlor ich den Faden, wenn ich seine Bilder in Sätze zu fassen versuchte, und begann von vorne. Keine Ahnung, wie lange mich diese Papiere gefangen hielten. Wie ein Puzzle setzte ich mir den Text zusammen. Immer wieder neu buchstabierte ich ihn leise vor mich hin, überließ ihm die Führung und verfiel nach einiger Zeit – ohne das zunächst selbst zu bemerken – auf eine unbekannte Melodie. Ray hatte sich auf den Boden gelümmelt, zündete einen Joint am letzten an und lauschte wie ein Junge, dem ein ungeheurer Coup gelungen war. Dann sprang er auf, wir fielen einander in die Arme und miteinander in wortlosen Jubel, der für Außenstehende wahrscheinlich wie ein besinnungsloses Schnaufen Betrunkener geklungen hätte. Ohne uns weiter zu besprechen, holten wir die anderen aus ihren Betten, stürmten ins Studio und machten uns an die Arbeit.

Ein Ausweg war in Sicht.

Ein Anfang war gemacht.

Wenige Autos kamen an der Stelle vorbei, wo der gewalttätige Überfall geschehen war. In ihrem Sog flatterten die Haare des Opfers auf, als wären sie das einzig Lebendige an ihm. Die Blutlache unter ihm, so groß wie ein Taschentuch, kühlte langsam aus. Später, irgendwann, aber nicht zu spät, verlangsamte eine dunkle Limousine ihr Tempo, hielt an. Schatten bewegten sich hinter getönten Scheiben, Worte wurden gewechselt. Der Chauffeur stieg aus, kam näher, beugte sich über den Liegenden, lauschte, ohne ihn zu berühren, und kehrte unschlüssig zu dem Wagen zurück. Die Scheibe der hinteren Türe war heruntergelassen worden, ein Kopf beugte sich vor, halb verschattet von einem breitkrempigen Damenhut, und lauschte der Meldung.

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