Ein Lebenstraum

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Zwölftes Kapitel.

Die arme Leonore zuckte zusammen, als ob ein Schlag sie getroffen hätte. Kandern, der Mann, den sie so fest und gewiss für ihren Freund gehalten, dessen Andenken sie so treulich in ihrem Herzen bewahrt hatte, sprach nachteilig von ihr. O, das traf sie schmerzlich! – und sie kniete vor seiner Mutter, auf diesem Schoß hatte auch sein Haupt wohl oft geruht, an dieser edlen und stolzen Brust hatte er als Kind gelegen. Seine Mutter! Wie teuer, wie heilig erschien sie Leonoren!

Was er auch über sie Tadelndes gesagt haben mochte, – er hatte gewiss Recht gehabt und es nicht böse gemeint! War sie doch ein noch unerzogenes, einfältiges Mädchen, das oft und nicht unverdient getadelt wurde, und er so gut, so klug!

Sie erhob das Köpfchen, blickte mit ihren sanften Augen ins Gesicht der Matrone und sah nun, dass der ferne Sohn der Mutter sehr, sehr ähnlich sei, nur heiterer sah er aus, wohlwollender und vielleicht, ja vielleicht auch noch klüger.

»Stehen Sie auf, liebes Kind«, sagte die Baronin. »Ihr ganzes Wesen hat einen etwas theatralischen Anstrich, der einer Frau, welche der Welt Eitelkeiten entsagt hat, nicht wohlgefallen kann. Stehen Sie auf, ich werde Ihnen Kleider von meiner Tochter bringen lassen, die mit Ihnen wohl in einer Größe sein mag, schlafen Sie ein bisschen, wenn Sie wollen und abends, wenn Ihr Onkel kommt, werde ich mit ihm über Sie sprechen.«

Leonore erhob sich, die Eiseskälte der vornehmen Dame hatte ihr junges Herz durchfröstelt, sie war wie ein Reif auf die Knospen ihres Lebens gefallen.

Eine Stunde später saß sie in einfacher, aber sauberer Kleidung am Fenster eines hübschen, kleinen Zimmerchens, das sie Tante Dorchens Zimmer hatte nennen hören. Sie war allein und es schien nicht, dass die Damen der Familie die Absicht hatten, sie in ihre Gesellschaft zu ziehen, denn ein hübsches Dienstmädchen hatte ihr Frühstück gebracht.

In dem Stübchen, wo sie weilte, stand ein altmodisches Himmelbett mit Gardinen von weißem Musselin und roter Seide. Ein Bücherschrank von altem Mahagoni, gefüllt mit vielen sauber gebundenen Büchern, eine Kommode und über derselben eine Konsole mit einer Stutzuhr, einige schwerfällige Lehnstühle, ein Waschtisch, ein Toilettentisch mit einem Spiegel in geschnitztem Rahmen, darüber am Fenster ein Nähtischchen, in dessen Schiebladen wie in den Türen des Bücherschrankes die Schlüssel steckten, ein Ecktischchen, auf welchem ein Himmelsglobus seinen Platz gefunden, mit dem in der gegenüber befindlichen Zimmerecke ein Spinnrädchen von Ebenholz und Elfenbein, um dessen Flachspuppe ein rotes Band von der Farbe der Gardinen gebunden war, sehr hübsch kontrastierte. Unter dem Fenster, das in den Garten ging, standen einige Topfgewächse von großer Schönheit, und ein goldgelbes Kanarienvögelchen flog im Zimmer umher, auch gelegentlich zum offenen Fenster hinaus und zwitscherte und jubelte im hellen Sonnenschein. Sein kleines Bauer von blankem Messingdraht war mit allen Leckerbissen eines Kanarienvogel-Gourmands reichlich versehen, auch befand sich darin ein besonderer Bade-Apparat für den Bewohner, Stängelchen von Rohr und ein messingener Ring.

Leonore, die das alles aufmerksam betrachtete, merkte wohl, dass der kleine Sänger der erklärte Liebling der Bewohnerin dieses stillen, gemütlichen Raumes sein müsse.

Die Zeit verging ihr unter ängstlichen und schmerzlichen Gedanken, die aber durch den Anblick ihrer augenblicklichen Umgebung nicht eigentlich zerstreut, sondern auf eine besondere Weise gemildert wurden.

Ihr war wohl in diesem Stübchen, es war, als ob alles darin und der Anblick des lachenden Parkes, von dem sie aus dem Fenster einen ziemlichen Teil übersehen konnte, ihr Frieden predige und sie zu Arbeit, zu nützlicher geräuschloser Tätigkeit auffordere.

Sie ging an den Bücherschrank und betrachtete die auf den eleganten Rücken gedruckten Titel. Herders sämtliche Werke, Lessings sämtliche Werke standen, sehr in die Augen fallend, Hippels Werke schlossen sich ihnen an, dann folgten Goethe, Schiller, Zimmermann. Dann eine Reihe in schwarzen Einbänden: Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, das Leben der Fürstin von Galitzin, Vincent de Paula, Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi, die Bibel, Stunden der Andacht, und dicht darunter Littrows Wunder des Himmels, Brandes Briefe, Ritters Geographie, Okens Naturgeschichte, Buffons Naturgeschichte, und eine Menge anderer Bücher wissenschaftlichen Inhaltes.

Im untersten Fache aber lagen viele in Quart-Format mit einem geschriebenen Titel, und als Lorchen recht hinsah, las sie die Aufschrift:

»Tagebuch.«

Das junge Mädchen betrachtete das alles mit einem Gefühl des höchsten Interesses für die Bewohnerin.

»Wie glücklich die Dame ist, die sie hier Tante Dorchen nennen, wie gern möchte ich sie nur kennen«, dachte sie und fast in demselben Augenblick öffnete sich eine Tapetentür, und ein Geschöpf trat ins Zimmer, vor dem sie unwillkürlich zurücktrat, denn nie in ihrem Leben hatte sie noch eine ähnliche Missgestalt gesehen.

Der Körper in seltsamster Weise verkrümmt und verwachsen, war in ein mantelartiges Kleidungsstück von einem dünnen, dunkelgrauen Stoff gehüllt, und trug einen unförmlichen, großen Kopf mit eisgrauen Haaren. Das Gesicht war von tiefen Narben so bedeckt, dass auf demselben auch nicht ein Finger breit ohne solche zu finden war und nur die großen samtschwarzen Augen und eine auffallend breite weiße Stirn ließen die Spuren eines edlen, aber verstümmelten Menschenantlitzes erkennen. Die unglückliche Erscheinung hatte lange Arme, die ebenfalls in dunkelgrauer Hülle steckten, aus welcher aber, seltsam genug, blendend weiße, feine, schön gestaltete Hände hervorsahen, die zu dem verkrüppelten Körper, zu dem entstellten Angesicht gar nicht zu gehören schienen.

Die großen schwarzen Augen, welche einen Moment lang wie edler Granat einen rötlichen Schimmer annahmen, ruhten auf Leonorens erstauntem Gesichte, und eine Stimme, die, obgleich aus dem entstellten Munde dringend, dennoch von unsäglicher Lieblichkeit war, fragte:

»Wie kommen Sie hierher, liebes Kind?«

»Man wies mich in das Zimmer, um mich umzukleiden«, antwortete Lorchen nicht ohne Verlegenheit.

»Gut! Gut!« sagte die Eingetretene sanft:

»Seien Sie mir herzlich willkommen. Sie sind wohl das junge verirrte Mädchen, das Fräulein Thekla von Dobezutka im Walde gefunden?«

Lorchen bejahte mit gesenkten Augen.

»Und Sie heißen?« fragte die Verwachsene weiter.

»Leonore Arnold.«

»Wie, Sie sind – hm, Sie kennen meinen Neffen Siegmund, nicht wahr? Ja, ja, Sie passen ganz zu der Beschreibung, die er mir von Ihnen gemacht, nun da seien Sie mir doppelt willkommen, man nennt Sie Lorchen, nicht wahr?«

»So nannten mich meine Eltern, Tante Delbruck wollte mich Laura rufen, gewöhnte sich aber hernach an den einfachen Namen.«

»Ich, mein liebes Kind, heiße Dorothea Baronin von Kandern, war auch einst ein junges, hübsches Mädchen, aber das ist schon lange her und bin nun im ganzen Hause, im ganzen kleinen Kreise meiner Bekanntschaft, Tante Dorchen; sobald man sich an meine äußere Erscheinung gewöhnt hat, pflegt man mich recht gern zu haben. Meine beiden Nichten, Thekla und Siegmunds Schwester Emma lieben mich wenigstens von ganzem Herzen und Siegmund selbst hält mich fast ebenso hoch als seine Mutter. Sie sind ein junges und sehr liebliches Kind und alles, was mein Neffe von Ihnen sagte, hat mir großes Interesse für Sie eingeflößt.«

Lorchen errötete vor Freuden und hätte gern die weißen, feinen Hände der Dame, die sich eben damit beschäftigte, einen Korb mit allerhand Dingen vollzupacken, die sie aus einem Schrank nahm, an ihre Lippen drücken mögen, aber sie wagte es nicht, doch fiel es von ihrem Herzen wie eine Last, und sie fühlte sich beinahe froh durch das kurze Gespräch.

»Ich habe noch einen Gang zu gehen«, sagte das alte Fräulein von Kandern, nachdem sie den Korb, der mit Kaffee, Tee, Zucker, Wein und Eingemachtem fast bis unter den Bügel gefüllt war, noch mit einem weißen Tuche bedeckt und über ihren langen dürren Arm gestreift hatte, »bleiben Sie indes ruhig hier oder gehen Sie auch in das Nebenzimmer, beschäftigen Sie Sich mit den Büchern, die Sie zu interessieren scheinen, oder stricken Sie, spinnen Sie – wenn Sie’s verstehen – lassen Sie sich überhaupt nur nicht die Zeit lang werden, liebes Kind, und sind Sie müde von der hässlichen Nacht im Walde, so legen Sie Sich hier im Nebenzimmer aufs Sofa und träumen von besseren Zeiten. Gott befohlen, Kleine!«

Sie reichte dabei Leonoren die Hand, die diese unwillkürlich an die Lippen zog und ging rasch hinaus, und wie Lorchen hören konnte, auch aus der Haustür. Höchst erfreut machte sie von der ihr gegebenen Erlaubnis Gebrauch, öffnete den Bücherschrank, langte einen Teil von Goethes Werken hervor und schlug aufs Geratewohl ein Blatt auf. Es war Faust, und das junge Mädchen las mit einem Entzücken, das sich mit Staunen mischte, das göttliche Fragment eines Menschenlebens bis zu jener Zeile, in der die Engelstimme das gefallene Gretchen für gerettet erklärt. Alle Saiten ihres Herzens erbebten und tönten bei dieser Lektüre.

Sie hatte bei Fausts Monolog begonnen, und als sie fertig war, schlug sie noch einmal den Anfang auf und las nun den Prolog im Himmel und jede Zeile dieser Wunderworte prägte sich ihrem Gedächtnis unverlöschlich ein. Träumend saß sie da, den Kopf in die Hand gestützt, das Buch auf den Knien und wiederholte sich Gretchens Geschick, das eher glücklich als beklagenswert erschien. – Gretchen hatte eine Mutter, einen Bruder, Gefährtinnen, mit denen sie plauderte und arbeitete und fand dann noch einen Mann, einen solchen Mann, der sie liebte. Seit gestern verstand sie, wie Gretchen sich verfehlt, aber die Stimme des eigenen Herzens, die noch unverbildet in ihrer natürlichen Reinheit und Wahrheit sprach, sagte ihr auch, dass Gretchens Fehltritt ach wie sehr zu entschuldigen sei und über den Tod des Kindes und der Mutter des armen Gretchens blieb sie in einem unlösbaren Zweifel. Ihre Mutter hatte Gretchen nicht töten wollen – armes, armes Gretchen! Und ihr Kind hatte sie in Verzweiflung und Todesangst ertränkt. So sehr aber auch Gretchens Geschick Leonorens Seele beschäftigte, es blieb ihr ein Tröpfchen im Ozean der Gedanken, welche ihr den Lobgesang der Engel erweckten:

 

»Die Sonne tönt nach alter Weise

In Brudersphären Wettgesang«,

flüsterte sie vor sich hin und dann wieder:

»Und schnell und unbegreiflich schnelle

Dreht sich umher der Erde Pracht.«

Ihr war zu Mute, als ob die Worte des großen Dichters ihr erst das Geheimnis der Schöpfung anschaulich gemacht hätten, und mit wahrem Entzücken öffnete sie ein mächtig großes Buch mit Kupfern und Karten, um von den Wundern des Himmels zu lesen. In diesem Augenblicke fuhr aber der Reisewagen des Onkels in den Hof und Leonorens Herz stand still in unsäglichem Entsetzen bei der Gewissheit, ihm jetzt entgegentreten zu müssen. Auch Dorothea von Kandern war heimgekehrt und blickte teilnehmend auf ihren jungen tödlich erbleichten Gast.

»Was ist Ihnen, mein Kind?« fragte sie sanft, als Lorchen heftig zitternd von ihrem Stuhle sprang, indem sie sah, dass eben der Justizrat Delbruck ausstieg und auf das Haus zuschritt.

»Schützen Sie mich, o gnädiges Fräulein, um des barmherzigen Gottes willen, schützen Sie mich!« schrie sie mit so herzbrechendem Tone, dass Dorotheen die Tränen in die Augen traten.

Mit sanfter Hand zog sie das bebende Kind zu sich, indem sie selbst sich niedersetzte, und fragte mit milder Herzlichkeit:

»Was ist Ihnen begegnet, armes Mädchen, wogegen soll ich Sie schützen?«

Der schreckliche Mann, an den sie überliefert werden sollte, war nahe, die Fragerin voll Güte.

Wie das gehetzte Reh mit bebenden Flanken ins Wasser springt vor der verfolgenden Meute, so Leonore. Die größere Scham überwand die geringere, und auf den Knien liegend, die Augen mit der Hand verdeckt, erzählte sie von der entsetzlichen Ursache ihrer Flucht. Tante Lorchen sagte nichts, sie blickte nur zum Himmel empor, als das Mädchen unter Schluchzen geendet hatte, und legte dann ihre Hand auf Lorchens Haupt.

»Schützen Sie mich, o Fräulein, schützen Sie mich bei dem Andenken an Ihre Mutter, bei den Häuptern der schönen jungen, Ihnen so nahe verwandten Damen flehe ich Sie an, schützen Sie mich.«

»Beruhigen Sie sich, arme Kleine, komme was mag, ich werde Sie nicht verlassen«, entgegnete das Fräulein, und eine Minute darauf trat ein Diener ins Zimmer und bat im Namen seiner Gebieterin Fräulein Arnold, herunter zu kommen.

»Sagen Sie meiner Schwägerin, Joseph, die junge Dame sei unwohl und lege sich eben in mein Bett, ich aber ließe den Herrn Justizrat ergebenst bitten, sich zu mir herauf zu bemühen, ich hätte notwendig mit ihm zu sprechen.«

Joseph verbeugte und entfernte sich, und Tante Dorchen nahm die Decke von ihrem Bette, lockerte die seidenen Kissen auf und half Leonoren, die sich mit fliegenden Händen entkleidete und niederlegte.

Tante Lorchen zog die Gardine vor, legte noch rasch ein Buch auf Leonorens Lager und ging in ihr Wohnzimmer.


Dreizehntes Kapitel.

Der Justizrat stand dort bereits, den Hut in der Hand, ein gewöhnliches Lächeln auf den Lippen, die allerdings um einen Ton bleicher als sonst sein mochten.

»Sie haben befohlen, mein Fräulein!«

Tante Dorchen hatte trotz ihres verkrüppelten Äußeren, wenn sie es für notwendig hielt, ganz das Wesen einer vornehmen Dame und sie deutete auf einen Stuhl, indem sie selbst auf dem Sofa Platz nahm.

»Ich höre, dass meine kleine leichtfüßige Nichte sich hier unter Ihrem gütigen Schutz befindet.«

»Wollen Sie die Gewogenheit haben, Herr Justizrat, mir mitzuteilen, durch welch’ einen seltsamen Zufall das junge Mädchen in die eigentümlich bedrängte Lage gekommen ist, in der meine Nichte Thekla sie heute früh fand?«

Die nachtschwarzen Augen des schrecklich hässlichen Gesichtes ruhten bei dieser Frage mit einem Ausdruck auf Delbruck, vor dem er die eigenen niederschlagen musste.

»Ich war eingeschlafen, gnädiges Fräulein, es war drückend schwül, der Wagen fuhr langsam und der junge Kobold, der keine Ruhe an einem Orte hat, sprang hinaus, um Erdbeeren zu sammeln. Mein Litauer merkte nichts und fuhr bis zur Scheschuppe, wo ich im Abendgrauen erwachte und erschreckt, ja entsetzt Nachsuchungen anstellte, die aber erfolglos blieben, weil sich das all’ zu rasche Ding fast zwei Meilen weit von der Straße verlaufen hatte. Nun, ich danke nach dieser angstvollen Nacht dem Himmel, dass sie in Sicherheit ist, und freue mich, sie in so trefflichen Händen zu sehen; die Nacht unter freiem Himmel und ein wenig Erkältung und Angst werden sie vorsichtiger machen.«

»Gut, Herr Justizrat, ich glaube, Ihre Nichte wird nicht anstehen, diese Geschichte zu bekräftigen, sie ist jedoch jetzt gänzlich außerstande, Sie zu begleiten und wird auf unbestimmte Zeit bei mir bleiben. Sie kennen mich und können mir das junge Mädchen anvertrauen. Sollte sie so sehr zu mir passen und sich bei mir gefallen, dass wir für immer oder wenigstens für längere Zeit zusammenbleiben wollten, so werde ich mich in Korrespondenz mit Leonorens Vater setzen, den ich, wie Sie vielleicht wissen, noch aus meiner Jugend her kenne; übrigens wünscht mein Schützling vor der Hand keine Zusammenkunft mit Ihnen.«

»Mein Fräulein –«

»Herr Justizrat –«

»Sie setzen mich in Erstaunen –«

»Ich dächte nicht, mein Herr, es ist nichts Erstaunliches, einen Menschen zu finden, der ein von Hunden gehetztes Reh, ein vom Wolf verfolgtes Lamm bei sich aufnimmt, warum sollte ich weniger freundlich gegen ein schuldloses Mädchen sein?«

»Aber meine Frau –«

»Werde ich beruhigen, Herr Justizrat, ich werde sie mit Ihrer Nichte in Kaimehlen besuchen, sobald Sie von dort entfernt sind, und ich schwöre Ihnen, dass Lorchens Erdbeer-Abenteuer für sie nichts Unglaubliches haben soll; auch ist es natürlich genug und ich habe mehr und mehr Achtung vor Ihrer juridischen Gewandtheit.«

»Und Frau von Kandern –«

»Überlassen Sie das alles mir, mein Herr, ich bin im Kreise der Meinen sehr wohl bekannt und weiß, wie weit ich gehen kann. Leonore hat meiner Schwägerin die Geschichte ihrer Flucht, aber etwas anders als Sie, erzählt; sie sagte, es habe ein kleines Renkontre zwischen ihr und dem Oheim stattgefunden, Sie wären – böse, glaube ich, war der Ausdruck, dessen das junge Mädchen sich bediente,– gegen sie gewesen, das ist ja doch wohl keine Lüge, dächte ich –«

»In der Tat ja – ich schalt, sie hatte etwas vergessen, ich mag ein wenig gereizt – –«

»Bitte, Herr Justizrat, lassen wir alle unangenehmen Einzelnheiten, genug, wenn mein hübscher Schützling die Wahrheit gesagt und Sie mir die Freude machen, in das Hierbleiben des jungen Mädchens zu willigen. Ich habe die Ehre–«

Sie stand auf, Delbruck biss sich auf die Lippen, verbeugte sich und ging die Treppe hinab, wütend wie eine Hyäne, die man an der Kette von einem Raub gezerrt. –

Dorothea von Kandern aber trat lächelnd an Lorchens Bett, setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand.

»Sie bleiben bei mir, liebes Kind, Herr Delbruck hat eingewilligt, ich muss Ihnen aber jetzt gleich noch manches sagen, das Sie erst ins Klare setzt über die Stellung, die Sie hier im Hause einnehmen werden. Ich darf Sie nicht darauf aufmerksam machen, dass auch gute und achtbare Menschen ihre Schwächen haben. Meine Schwägerin, die Baronin von Kandern, ist eine sehr gute und achtbare Frau, ihre Schwäche aber ist ein ungeheurer Adelsstolz, der mit jedem Jahre ihres Lebens eher zu- als abzunehmen scheint. Sie hat ein trauriges Lebenslos gehabt; denn ihr Gatte, den sie leidenschaftlich liebte, erschoss sich in ihrer Gegenwart wegen eines bürgerlichen Mädchens, das er von seiner Jugend an geliebt. Friede mit dem Armen, es war mein einziger Bruder. – Sie erzog ihre beiden Kinder selbst, stolz und streng, und lehrte sie sich für Wesen anderer und besserer Art halten, als alle, welche den Vorzug einer hohen Geburt nicht besitzen. Ihre Tochter Emma, die ganz unter ihren Händen blieb, hat sich auch ihre Ansichten und Grundsätze angeeignet, während Siegmund, ihr einziger Sohn, den Ahnenstolz seiner Mutter als eine ihrer Schwächen erkennt und respektiert, aber durchaus nicht teilt. Er kam als fünfzehnjähriger Knabe zur Vollendung einer Studien aus dem Hause und hat, unter anderen Menschen lebend, ganz andere Ansichten angenommen, doch ehrt und achtet er seine Mutter viel zu sehr, um nicht in allen bedeutenden Fällen nach ihren Wünschen zu handeln. – Einer ihrer Hauptwünsche ist nun seine Verheiratung mit Thekla von Dobezutka, und Sie müssen daher meinen Neffen gewissermaßen als den Verlobten dieser Dame betrachten. – Sie selbst, meine Liebe, sollen in meiner Gesellschaft und um meine Person sein und bleiben, bis sich Ihre Verhältnisse ändern lassen; die Familie meiner Schwägerin aber können Sie nur als Ihnen ganz fremd und fern stehende Menschen betrachten, denn ich kann Sie nur hier behalten, indem ich Ihnen ein dienendes Verhältnis neben mir einräume. Ich kann mir ein Kammermädchen halten, in diesem Hause einen Gast einladen kann ich nicht, denn ich selbst bin hier nur Gast, da diese Besitzungen meiner Schwägerin und deren Kindern, nicht aber mir gehören. Wenn Sie nun lieber Jungfer bei dem alten Fräulein von Kandern sein, als mit Ihrem Onkel nach Tilsit zurückkehren wollen, so werden Sie an mir eine treue Beschützerin, eine mütterliche Freundin finden, etwas anderes kann ich Ihnen vor der Hand nicht bieten.«

Durch Leonorens Seele waren während dieser Worte die seltsamsten Gefühle gezogen. Die Tochter des Künstlers hatte von der Verschiedenheit der Stände, von dem, was man in der kleinen Menschenwelt Verhältnisse nennt, keine Ahnung gehabt. Sie hatte sich allen älteren und verständigeren Personen untergeordnet, das schien ihr natürlich. Neben Kandern aber hatte sie nie daran gedacht, dass er ein vornehmer junger Mann, sie ein armes Mädchen niedrigeren Standes sei. Wie die weiße, am Bachesrand blühende Winde nicht darnach fragt, ob der Baum, um den sie leise über Nacht ihre weichen Ranken schlingt, ein wackrer Waldbaum der Heimat, oder ein exotisches, durch tausendfache Pflege in die Höhe gebrachtes Geschöpf sei, so auch Leonore, und zweimal hatten seit wenigen Stunden raue Hände es versucht, das seidene Gespinst ihres jungen Herzens, das sich instinktmäßig um den kräftigen Stamm jenes Männerherzens gelegt, loszureißen. Sie fühlte das und zuckte zusammen. Schmerz rann durch ihre ganze Seele, und während der natürliche jungfräuliche Stolz sich gegen die bloße Vermutung einer zu innigen Zuneigung an den fremden Mann empörte, fühlte sie doch ihr Blut gerinnen und ihr Herz weinen, weil diese Hinneigung ihr nicht gestattet wurde. – Es war ihr zu Mute, als ob das letzte Band, das sie an Glück und Hoffnung knüpfte, fühlbar in ihrer Seele zerrisse. Und doch musste sie sich sagen, dass Dorothea von Kandern ihr eine große Wohltat erwies, indem sie sie bei sich behielt. Sie konnte neben Delbruck nicht mehr leben! Ihn täglich, stündlich sehen, oft sogar mit ihm allein sein und ihm die dem nahen Verwandten, dem Familienhaupt gebührende Achtung beweisen, lag außer dem Kreise der Möglichkeit für das arme Kind. Die Gesellschaft eines Krokodils wäre für Leonore nicht grässlicher gewesen als die ihres Onkels. So küsste sie resigniert die Hand des Fräuleins und sagte mit leise bebender Stimme:

»Ich danke Ihnen und werde mich in alle Ihre Anordnungen zu fügen suchen.«

Dorothea streichelte mit sanfter Hand den seidigen Scheitel des Mädchens.

»Lesen oder schlafen Sie jetzt ein Stündchen, mein Kind!« meinte sie freundlich, »ich gehe zu meiner Familie und werde dort meinen Entschluss mitteilen, Sie hier zu behalten.«

Lorchen öffnete das Buch, als das Fräulein hinweggegangen, aber sie las nicht, tausend Gedanken zogen durch ihre Seele, schmerzlich und demütigend, aber mitten im Strom derselben – o Glück der Jugend und Unschuld – überschlich sie der Schlummer und sie schlief fest und träumte süß, als ein altes Mütterchen mit silberweißen Haare ins Zimmer trat, geräuschlos ein Tischchen deckte und ein schmackhaftes Abendbrot darauf servierte.