Ein Lebenstraum

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Neuntes Kapitel.

Leonore flog mehr als sie ging über den feinen grünen Waldrasen. Alle ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt und sie fühlte in sich eine Kraft, die es ihr möglich zu machen schien, in ihrem Lauf bis ans Ende der Erde zu verharren. Sie hatte keine Ahnung, nach welcher Richtung ihre Flucht sie führen könne, auch war ihr diese ganz gleichgültig. Jeder Schritt entfernte sie weiter von dem entsetzlichen Mann, an den zu denken ihr schon Todesschauer einflößte, und das war genug.

Anfangs leuchtete das helle Sonnenlicht freundlich und ermutigend dem jungen einsamen Flüchtling, die Bäume und die Rasen erglänzten in seinen trauten Strahlen, aber allmählich verbleichten dieselben, die Sommernacht breitete ihren duftigen Mantel über den Wald, Johanniswürmchen leuchteten im Moose, die Mondsichel blickte zwischen den Baumkronen hindurch auf das arme verirrte Kind, und nun – Stunden waren verflossen, seitdem sie sich von dem Entsetzlichen losgerissen und in eilendem Lauf alle ihre Kraft aufgeboten hatte, – nun begann diese zu versiegen. Sie fühlte sich ermatten, fühlte sich einsam in der Einsamkeit des Waldes, die Schauer der Nacht kamen über ihre Seele, sie schwankte, zitterte und sank endlich bis zum Tode erschöpft neben dem Stamm einer riesigen Tanne nieder. Das Grauen der Finsternis stierte mit tausend schwarzen Augen aus jedem Busch, von jedem rauschenden Zweige sie an. Kein bekannter befreundeter Laut ließ sich hören, nicht das Gebell eines Hundes, nicht das Rollen eines Wagens, kein Ton einer menschlichen Stimme, nur der Nachtwind rauschte und flüsterte in den Bäumen, und von Zeit zu Zeit huschte eine Nachtschwalbe unter den Tannenkronen hindurch und verschwand mit leisen Schwirren in der Ferne.

Sie lehnte das müde Haupt an den Baumstamm und ließ den Tränen, die dem Innersten ihres Herzens entströmten, freien Lauf. Sie fielen wie Tau auf das Moos am Boden und erleichterten allmählich ihr Herz.

Was war geschehen? – Sie hatte für das Grässliche, das ihr begegnet, keinen Namen, sie fühlte nur, dass die Scheu und Angst, die sie vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft mit dem Gatten ihrer Tante vor demselben gehabt hatte, vollkommen gerechtfertigt sei. Ihm jemals wieder unter die Augen zu treten, jemals wieder seine Blicke auf sich ruhen zu fühlen, hielt sie für eine Unmöglichkeit.

Wo aber war für sie auf dem weiten Erdenrund ein Zufluchtsort, da das Haus ihrer Verwandten ihr verschlossen? Ihr Vater war fern, ach so fern, und eine Stimme in ihrem von Weh überfüllten Herzen sagte ihr außerdem auch noch, dass sie ihm jetzt, wo eine Fremde an die Stelle ihrer Mutter getreten, bei seiner geringen Einnahme und seinen stets verwickelten Geldverhältnissen leicht eine Last sein könnte.

»O dass ich ein Vogel wäre, der unterducken kann im warmen Nest bei seinem Mütterchen, dass ich ein Reh wäre und im Walde meine Heimat hätte«, seufzte das verlassene Mädchen, während von neuem ein Strom von Tränen über ihre Wangen floss. Sie hatte kein Mäntelchen, keine warme Hülle bei sich, die Nacht begann kühl zu werden und Frostschauer gesellten sich zu dem Gefühl des Kummers, der Verlassenheit und des Grauens. Das blasse Mondlicht webte seltsame gespensterhafte Schatten auf dem Boden, die Baumstämme schienen mächtige Riesen, die Wurzeln wanden sich am Boden wie Molche und Schlangen, der leiseste Laut, den der Wind in den Zweigen erregte, ließ sie zusammenschrecken, und die Stille erfüllte sie mit Grausen. Seltsame Bilder aus der Kinderzeit traten vor ihre Seele, Märchen-Bilder von Wurzelmännchen und Moosfräulein.

Im Walde wohnten all’ diese Geister, die den verlassenen Menschen bald freundlich, bald feindlich in ihren Revier aufnehmen. War es doch, als ob sie in Leben und Wirklichkeit ihr winkend an ihr vorüberhuschten, und plötzlich trat ein Kindermärchen lebhaft bis zur Sinnentäuschung vor ihre Erinnerung, das Märchen von dem verwaisten Mädchen, das aus dem Stamm der Weide sich alles holt, dessen sie bedarf. Leonore musste mitten in ihrer Angst und unter ihren Tränen lächeln in innerer Freude; ach die Mutter hatte ihr das oft und oft erzählt, als sie schon kränklich war und ihr dann gesagt:

»Glaub’ mir, mein Kind, Mutterliebe dauert stets übers Grab hinaus, und der Geist einer Mutter umschwebt die Waise immer und überall. Vergiss dies nie, wenn Du in künftigen Tagen leidest, denk’ an die Mutter, rufe sie, wenn Du verlassen bist, sie wird bei Dir sein.«

»Mutter, meine, meine Mutter«, sagte sie, die gefalteten Hände zum Himmel emporhebend, »ich bin verlassen, bin verraten von denen, die mir Gutes tun wollten, ich bin allein, allein in der Welt, allein mit der Erinnerung an Dich –«

»Mit Gott!« tönte es in ihr, so deutlich und vernehmbar, dass Leonore sich umschaute, weil ihr war, als hätte eine milde, sanfte Stimme neben ihr die Worte geflüstert.

»Mit Gott«, sagte sie noch einmal laut, »Mutter, meine Mutter, der Gedanke an den Allgütigen, Allgegenwärtigen, Allmächtigen kam von Dir.«

Sie hatte lange, lange nicht gebetet, obgleich sie noch nie vergessen, ihr Morgen- und Abendgebet zu sprechen.

Bei der Trennung vom Vater hatte sie zuletzt das Gebet empfunden; denn ein gedachtes Gebet ist keines, wie ein Notenblatt keine Musik ist. Erst wenn alle Fibern des Herzens erbeben, in dem Gefühl, dass die höchste Liebe uns nahe ist, wenn je der Nerv sich spannt, beugt oder erhebt, im Schauer vor der Gegenwart der höchsten Macht, erst wenn unsere eigenen Hoffnungen, Wünsche, Überzeugungen zerschmelzen wie der Schnee am Sonnenlicht vor dem Hauche der uns nahen höchsten Weisheit: erst dann haben wir gebetet, – und Leonore betete! Nacht und Einsamkeit durchleuchteten das Licht, das aus dem Gebet strömt, das Licht Gottes! Die Verzweiflung fiel von ihrer Seele, der Zorn erstarb, das Grauen zerfloss.

Im wilden Walde von der Mitternacht umhüllt, von Frost durchschauert, fand das junge Mädchen sich kräftig, gefasst und hoffnungsvoll. Als die höchste Erhebung des Gebets allmählich andern, geringeren Gefühlen Platz machte, als der Gedanke an ihre seltsame Lage wieder vor ihre Seele trat, hatte er alles Grässliche verloren.

»Der Gatte meiner Tante ist ein Nichtswürdiger!« sagte sie sich, »und ich bin jetzt bei Nacht allein im Forst, aber ich kenne ihn und kann mich nun vor ihm hüten, und die weiteste Ausdehnung dieses Waldes ist, wie man mir gesagt hat, wenig über eine Meile. Ich muss, wenn ich nur irgendeinen Pfad finden kann, durchaus nach wenigen Stunden zu Menschen kommen. Wölfe gibt es hier höchstens im tiefen Winter, und das schlimmste Tier, das mir begegnen kann, ist eine Kröte. Allnächtlich durchstreifen Forstbeamte die einzelnen Waldreviere, und begegnete ich selbst einem Holz- oder Wilddiebe, er würde eher Mitleid mit mir haben, als mich beleidigen. Ich will ein Weilchen zu ruhen versuchen, der Tag muss bald anbrechen, und will dem Morgenrot entgegengehen, sobald ich’s durch die Bäume schimmern sehe.«

Sie zog nun ihr Kleid über den Kopf, stützte diesen an den Baum stamm, sprach leise ihr Abendgebet:

»Müde bin ich, geh’ zur Ruh

Schließe meine Augen zu,

Vater, lass’ die Engelein

Liebend meine Wächter sein«,

und schloss die Augen, in denen noch vor kurzem Verzweiflungstränen gebrannt hatten.

»Kommen wohl Engel, die verlassenen Müden zu bewachen?« dachte sie und beantwortete die zweifelnde Frage mit einem mutigen: »Gewiss! Streut doch jede Nacht den Tau auf Pflanzen und Blumen, leuchtet doch der Mond dem verirrten Wanderer und sind doch die Sterne treue Wegweiser selbst den Irrenden auf dem treulosen Ozean.«

Sie öffnete noch einmal die Augen und schaute hinauf zum Nachthimmel. Hoch über ihr, ein wenig rechts vom Zenit stand der Polarstern. Ihr Vater hatte sie gelehrt, ihn, den ewig Ersten, zu finden.

»Grüße ihn von seinem Kinde, das in Gottes Hut steht und seiner gedenkt«, flüsterte sie, den Blick nach dem Stern gerichtet und allmählich sanken die übermüdeten Augen zu und Nacht und Einsamkeit vergessend, entschlief das junge Mädchen tief und fest.


Zehntes Kapitel.

Als der Justizrat sich von der Flucht seiner Nichte überzeugt hatte, überfiel ihn eine nicht geringe Furcht vor den Folgen eines nichtswürdigen Versuches. Er hatte gedacht, gerade die völlige Unwissenheit Leonorens müsse sie zu seiner Beute machen, und selbst wenn sie ihn zurückgewiesen, glaubte er doch noch Mittel genug in Händen zu haben, sich das Schweigen des so jungen, gänzlich in seine Hände gegebenen Mädchens zu erkaufen. Was aber sollte er jetzt tun? – Wo war die Entflohene bei nahender Nacht zu finden und welchen Grund sollte er angeben, um ihre Flucht zu motivieren, ohne sich selbst bloßzustellen?

Der litauische Kutscher hatte dieselbe gar nicht bemerkt, das Lied singend vom Mond, der die Sonnentochter gefreit, fuhr er in langsamem Schritt durch den grünen, lustigen Wald, und hörte erst auf Delbrucks donnerndes: »Halt! Halt!« als dieser es ihm in seiner Sprache zurief. –

»Donaleitis, hast Du gesehen, nach welcher Richtung die Jungfrau, die mit mir war, in den Wald gegangen?« fragte er denn ebenfalls litauisch.

Donaleitis verneinte verwundert und meinte dann, die jungen Mädchen, die er zu fahren gewöhnt sei, hätten alle eine so gewaltige Lust, Erdbeeren zu sammeln, dass er sich nicht wundere, wenn auch das städtische Fräulein darauf verfiele. Für Delbruck war dies ein Fingerzeig. Leonore war nach Erdbeeren gegangen und hatte sich unvorsichtig zu weit vom Wagen entfernt und verirrt, so wollte er in Wilkowischken sagen, wenn er dort Leute aufbieten musste, um das Mädchen zu suchen. –

 

Er sah indes nach seiner Uhr, es war halb neun vorüber, und die Sonnenscheibe berührte bereits den Horizont.

»Wie weit ist’s noch bis zum Ober-Inspektor nach Wilkowischken?« fragte er den Fuhrmann.

»Von hier bis zur Scheschuppe ein Hundebleff, sind wir erst überm Wasser, noch eine kleine halbe Meile.«

Delbruck kannte die kleinen halben Meilen der Litauer, er wusste jetzt, dass er mindestens, das Übersetzen eingerechnet, noch zwei Stunden unterwegs sein müsste, ehe er ins nächste Dorf käme – indes war’s tiefe Nacht, und was ward aus Leonore? –

»Wir müssen die Jungfrau suchen«, sagte er und der gehorsame Litauer knüpfte die Pferde an den Stamm einer Tanne, machte sich auf den Weg und wanderte etwa in einem Umkreise von tausend Schritten umher, von Zeit zu Zeit durch seine zusammengehaltenen Hände:

»Fräulein! Fräulein!« rufend.

Nur der Widerhall antwortete ihm!

»Wenn sie nur der Waldmann nicht mitgenommen hat«, sagte er beim Zurückkommen, »der Waldmann hat hübsche junge Fräulein gar gern.«

»Narr!« murmelte Delbruck, der indes in höchster Aufregung hin und her gelaufen war.

»Pons (Herr) Richter sich sehr gestoßen«, meinte der Litauer, mit dem Schaft seiner Peitsche auf Delbrucks Stirn zeigend.

Er zog seine Taschenbürste hinaus und sah die garstige, blau und grün schillernde Breusche, die er sich geschlagen, als Lorchen sich aus seinen Armen losriss.

»Satansmädchen«, murrte er und verschluckte den Fluch, der ihm sonst noch zwischen den Zähnen saß. »Fahr zu, Donaleitis, was die Pferde laufen wollen, wir müssen zu Menschen, um die Dirne suchen zu lassen.«

Der Wagen donnerte über den holprigen Waldweg, Delbruck drückte sich in die Ecke und legte Leonorens Mäntelchen neben sich. Ihm war sehr unheimlich zu Mute.

Alle Zeichen von der kürzlichen Anwesenheit des jungen Mädchens und ihrer jähen Flucht schienen als Ankläger gegen ihn aufzutreten. –

Es wurde dunkel, ehe man den Strom erreichte, der, vom Johanniswasser geschwellt, breiter und reißender als gewöhnlich war.

Wenn sie in der Dunkelheit umherirrend an dies wilde Wasser käme und ein Fehltritt sie hinunterstürzte, dachte Delbruck und es überrieselte ihn eiskalt. Er teilte den Fahrleuten mit, dass seine Nichte sich im Walde verirrt, und bot Geld, wenn sich Leute fänden, die sogleich sie aufzusuchen eilten. Die Litauer versprachen, das Möglichste zu tun, und als der Justizrat endlich in tiefster Aufregung bei dem alten Rauscher anlangte, waren Anstalten zur Aufsuchung des armen Mädchens mit höchstem Eifer getroffen.

Der Oberinspektor Rauscher selbst ließ sein Pferd satteln, nahm eine Laterne und sprengte hinaus, das verirrte Enkelkind seines alten Freundes Korff aufzusuchen, und Delbruck setzte sich an die Spitze eines Zuges von Litauern, die zu dem nämlichen Zweck auszogen. -

Jenseits der Scheschuppe im Walde teilte man sich in drei Parteien, Donaleitis führte die eine, Delbruck die andere und Rauscher die dritte, und so begann man den Forst in weidmännischer Weise abzusuchen.

Die Nacht wurde rau, ein starker Tau fiel gegen Morgen, Delbruck zitterte wie Laub teils vor Frost, teils vor Furcht, während er durch das feuchte Moos schritt. Niemand hatte eine Spur von der Verirrten entdeckt, als endlich die Partei des Kutschers und des Herrn sich auf einer Lichtung zusammenfand, und, außer sich, warf Delbruck sich auf den feuchten Waldrasen und bedeckte das Gesicht mit den Händen, tausend grässliche Möglichkeiten bedenkend, die Leonoren ins Verderben geführt haben könnten. Eine Stunde später langte auch Rauscher unverrichteter Sache dort an, und schweigend und in der düstersten Stimmung begab sich der Zug ohne die Gesuchte nach Wilkowischken zurück, als bereits die Sonne ziemlich Mittag verkündete.


Elftes Kapitel.

Leonore hatte sanft geschlafen und erwachte über einem Ruf der Verwunderung, der ganz in ihrer Nähe ausgestoßen wurde. Sie schlug die Augen auf und sah sich einer jungen Dame von so großer Schönheit gegenüber, dass sie sich wohl versucht fühlen konnte, sie für die Waldfee zu halten. –

Die blendende Erscheinung trug einen Überwurf von blassrotem, leichtem Stoffe, der hoch an den Hals hinaufgehend, um die Taille mit einer Gürtelschnur zusammengehalten war. Weite Ärmel verdeckten die Arme und ließen die Hände frei, an denen sie Halbhandschuhe von Gemsleder trug. Braune, volle Locken quollen unter einem runden Strohhut hervor, den nichts als ein grüner Schleier und eine gleichfarbige einfache Schleife verzierten. Das Kleid war aufgeschürzt und ließ Füßchen von der höchsten Eleganz sehen, die vor dem Tau und den Dornen des Weges durch feste, aber sehr feine Lederschuhe geschützt waren, und in der Hand trug sie einen Korb von litauischer Arbeit halb mit duftigen Erdbeeren gefüllt, die auf grünen Blättern lagen, und die andere Hand hielt einen Strauß von zitternden Grasblüten und wilden, eben erblühten Rosen. Beide Mädchen betrachteten einander mit gleich erstaunten, ja erschrockenen Blicken, bis endlich die Erdbeerensammlerin in sehr gutem Deutsch, aber mit etwas fremdem Akzent fragte:

»Sind Sie, liebliches junges Geschöpf, das Moosweibchen oder eine Verirrte, die unglücklicher Weise trotz der Nähe unserer Wohnung ihr Nachtlager im Walde hat nehmen müssen?«

Leonore richtete sich mutig empor, bezwang das Gefühl des Elends und der Verlassenheit, das im Augenblick, als sie erwachend völlig zur Besinnung kam, ihr Herz überkrochen und sagte:

»Wer Sie auch sein mögen, ich bin verirrt, obdachlos und verlassen, ich bin ganz, ganz allein in der Welt und bitte um Gottes willen, erbarmen Sie Sich über mich, bringen Sie mich unter Menschen, die sich meiner annehmen und ein verwaistes Mädchen vor Verzweiflung schützen.«

»Das ist sonderbar, höchst sonderbar«, meinte die junge Dame, »aber folgen Sie mir in Gottes Namen, ich werde Sie unter Menschen bringen und mögen Sie älteren und erfahreneren Personen mitteilen, auf welche Weise Sie in diese seltsame Lage geraten sind, ich kann nur Mitleid mit Ihnen haben. Ja, wären Sie auch ein böser Geist, oder ein schlechtes Weib, ich würde Ihnen dennoch Obdach geben, denn für einen so zarten Körper als der Ihrige, ist eine Nacht im Tau gewiss nicht zuträglich.«

Als Leonore sich emporrichtete, fühlte sie, dass alle ihre Glieder schmerzten und wie zerschlagen waren. Ihre Kleider lagen feucht an ihrem Körper und ihr Haar war vollständig durchnässt. Ihr einfaches Strohhütchen lag neben ihr auf dem Rasen, aber sie hatte weder Tuch noch Handschuhe und folgte der Fremden mit wankenden Füßen.

Sie waren noch nicht weit gegangen, als der Wald sich lichtete und sie eine prächtige Allee von Buchen betraten, die in gerader Richtung nach einem hübschen Landsitz führte.

»Zu wem bringen Sie mich, gnädiges Fräulein?« fragte Leonore mit zitternder Stimme, denn der Gedanke, ihre Flucht und deren Veranlassung irgendjemandem erzählen zu sollen, ließ plötzlich wieder ihr armes Herz erstarren.

»Ich führe Sie zu meiner Tante«, entgegnete die junge Dame, »in deren Hause ich selbst nur ein Gast bin.«

Sie betraten in diesem Augenblick den hübschen Hofraum, und Lorchen sah sich vor dem Portal eines palastartigen Gebäudes mit einer Auffahrt an der Fronte, die ebenfalls prächtige Buchen beschatteten.

Ein paar Pfauen, Perlhühner und anderes Geflügel hüpfte und flatterte lustig umher. Lange, stattliche Häuser mit Bogenfenstern schlossen den Hof ein, überall sah man Verzierungen von Gusseisen und Bronze. Ein Taubenhaus von zierlicher Bauart stand mitten im Hofe, und dicht vor der Auffahrt im Schatten einer mächtigen Buche sprudelte ein Springbrunnen sein kristallhelles Wasser in eine Röhre von Sandstein. Hinter den Gebäuden sah man Baumgruppen vom verschiedenartigsten Grün, die auf einen Park von großem Umfang schließen ließen, und ein paar Diener in grau und silberner Livree liefen geschäftig hin und her.

An der Haustür stand ein großer, dünner Mann in schwarzer Kleidung und von jenem eigentümlichen Aussehen, das den protestantischen Geistlichen charakterisiert. Er verbeugte sich tief vor der jungen Dame und warf einen forschenden Blick auf Lorchen, die errötend vor dem ersten Mann, der ihr seit jenem schrecklichen Moment entgegentrat, die Augen niederschlug.

»Ist meine Tante schon zu sprechen, Herr Doktor?« fragte die junge Dame, und der Angeredete, sich tief verbeugend, antwortete:

»Sie wartet mit dem Frühstück auf Sie, Fräulein Thekla.«

»Treten Sie hier ein«, sagte diese nun zu Lorchen, die Tür eines sehr eleganten Zimmers öffnend, und kaum fühlte das junge Mädchen sich allein, als sie wie gebrochen in einen Stuhl sank, ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und weinte. Sie schluchzte so heftig und war so ganz in ihren Kummer versunken, dass sie den Eintritt einer Dame nicht eher bemerkte, als bis diese mit einer sehr wohlklingenden Stimme sagte:

»Wer sind Sie, mein Kind, und was fehlt Ihnen?«

Leonore erhob die Augen und blickte in das Gesicht einer ältlichen Frau von beinahe nonnenhaftem Aussehen. Sie trug ein ganz einfaches Häubchen von weißem Mull, das ihr fast ergrautes Haar beinahe ganz verdeckte und unter dem Kinn mit Mullstreifen zugebunden war. Ihr Kleid von grauem Seidenzeug ging hoch hinauf bis an den Hals, wo es mit einer kleinen, weißen Krause verziert war, ebensolche Kräuschen deckten auch die Hände; sonst sah man an der ganzen Gestalt keine Spur eines Schmuckes oder einer Verschönerung durch die Kleidung. Die Dame hatte in der Hand ein kleines broschürtes Buch, in das sie die Finger gelegt und Leonore las unwillkürlich auf dem Titelblatt:

»Vom Leiden des Lammes, als Trost in den Trübsalen der Welt.«

Das Gesicht der Dame war stolz und traurig, jedoch wohl geeignet, Vertrauen zu erwecken; und Leonore blickte auch vertrauensvoll in die braunen Augen der Matrone, die sich auf das Sofa gesetzt und dem jungen Mädchen einen Wink gegeben hatte, zu ihr zu kommen.

»Ich bin Leonore Arnold, die Nichte des – der Justizrätin Delbruck«, entgegnete sie mit bebender Stimme.

»Wer, wer sind Sie?« fragte die Dame mit einem so erstaunten Blick, dass er Leonore erschreckte, die leise und zitternd ihren Namen wiederholte.

»Und wie kommen Sie hierher, gerade hier her und zu Fuße, welch’ ein Verhängnis hat Sie die Nacht im Walde zubringen lassen, wie geht es zu, dass Sie gerade mein Haus, dies Haus sich zur Zufluchtsstätte erwählen?«

Diese Fragen wurden mit erbleichenden Lippen und bebender Stimme ausgesprochen und Leonore wusste nicht, was sie antworten sollte, denn ein Schamgefühl, dessen sie nicht Herr werden konnte, schloss ihr über die Vorfälle des letzten Abends den Mund.

Sie faltete die Hände und sah mit flehenden Blicken auf die Fragende, deren Gesicht sich verdüstert hatte und um deren Mund jetzt Schmerz und Angst lagerten.

»Gott hat mich hierher geführt, gnädige Frau, ein Engel in Gestalt einer schönen jungen Dame«, sagte sie von neuem in Tränen ausbrechend, »haben Sie Erbarmen mit mir; nehmen Sie Sich meiner an, ich bin allein und verlassen, so sehr, sehr verlassen.«

Sie schluchzte heftig und musste zu sprechen aufhören.

»Soviel ich weiß, lebt aber Ihr Vater noch?«

»Er lebt, ja, aber er hat sich zum zweiten Mal verheiratet und – und –«

»Und Sie können Sich nicht mit der Stiefmutter vertragen, ein sehr gewöhnlicher Fall – aber der Justizrat Delbruck ist ein wohlhabender, kinderloser Mann, die Justizrätin eine höchst achtbare Frau. Beide haben sich Ihrer mit vieler Güte angenommen; es spricht nicht für Sie, liebes Kind, dass Sie diesen wackern Menschen entlaufen sind; denn auf ein förmliches Entlaufen muss ich aus Ihrem verstörten Aussehen, aus Ihrem Aufenthalt im Walde ohne Obdach schließen. Eine Reise würden die Ihrigen Sie nicht ohne die nötigen Kleidungsstücke und Geldmittel haben antreten lassen.«

Leonore hätte tausenderlei auf das antworten können. Zuerst war die Voraussetzung, dass sie sich mit ihrer Stiefmutter nicht vertragen hätte, ganz ungegründet. Sie kannte die Gattin ihres Vaters gar nicht und hatte sich nur, den dringenden Aufforderungen ihrer Verwandten nachgebend, von dem Teuren getrennt, der freilich – das fühlte sie wohl – einen ihr unbekannten Grund gehabt hatte, in diese für beide Teile so schmerzliche Trennung zu willigen. Und was ihre Verwandten betraf – o, nur Gott und ihr selbst waren die Schrecknisse bekannt, die sie fort und in Nacht und Wildnis hinaus getrieben hatten, und konnte sie dieselben denn aussprechen? Musste sie nicht erröten vor dem Lufthauch, der den Schall ihrer Worte weitertrug, vor dem Sonnenstrahle, der ihren Augen leuchtete, wenn sie nur den Versuch machte auszusagen, wie schmachvoll ihr begegnet worden? Sie schlug die Augen nieder und sagte mit bebender tonloser Stimme:

 

»Ich fuhr mit meinem Onkel durch den Wald, wir wollten zur Nacht nach Wilkowischken und übermorgen, nachdem wir wieder eine Nacht bei der Frau Baronin von Kandern zugebracht, nach Kaimehlen, wo die Tante jetzt ist –«

»Nun und?« fragte die Dame als Leonore stockte und die Farbe wechselte.

»Der Onkel war böse gegen mich«, hauchte das junge Mädchen, »und ich sprang aus dem Wagen, und lief, so weit meine Füße mich trugen und –« ihre Kräfte verließen sie, sprachlos warf sie sich der Fremden zu Füßen, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und sagte:

»Erbarmen Sie Sich meiner, Sie haben vielleicht auch eine Tochter, beschützen Sie eine Waise, die keine Mutter mehr hat. –«

»Das ist seltsam – mehr als seltsam«, sagte die Matrone eher zu sich selbst, als zu dem in Tränen aufgelösten Mädchen, »indes, mein Kind, will ich Sie umso lieber als vorläufigen Gast bei mir sehen, da Sie es heute Abend doch geworden waren. Ich bin Frau von Kandern. Verschweigen kann ich es Ihnen indes nicht, dass alles, was Sie erzählen, auf Sie kein besonders gutes Licht wirft, Sie müssen hartnäckig und sehr empfindlich, dabei von einem fast unbegreiflichen Leichtsinn sein. Ich hatte übrigens schon durch meinen Sohn Sigmund von Kandern manches mir ziemlich Missfällige von Ihnen gehört.«