Ein Lebenstraum

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Sechstes Kapitel.

Leonorens Herz schlug hoch auf vor Freude bei dem Gedanken, nicht mit dem Onkel allein sein zu dürfen. Sie besorgte eiligst Tasse und Löffelchen und schenkte dem Gaste, der sich eben niedergelassen, mit dem lieblichsten Lächeln ein.

Das Wetter hatte sich indes geändert und der Abend war mit klarem Froste eingetreten. Lorchen ging, um die Rouleaus niederzulassen und Nacht und Frost auszusperren von dem hellen und warmen Zimmer, ans Fenster. Eine tiefblaue, sternenklare Nacht blickte ihr entgegen, und dort über dem Dache des Festhauses standen die drei lieben leuchtenden Sterne von Orions Gürtel, die sie im vorigen Winter so oft betrachtet am Fenster ihres kleinen Zimmers in Grünberg, vom Arme des Vaters umschlungen. – Die Tränen traten ihr in die Augen, sie nickte den Sternen zu und es machte ihr ordentlich Schmerz, den dunkeln Vorhang zwischen diesen vertrauten Strahlen in ihren Augen niederzulassen.

Als sie wieder an den Tisch trat, lag vom Licht der Lampe überglänzt eine kleine Christbescherung auf demselben. Herr von Kandern und Onkel Delbruck hatten aufgebaut. Rosa Tarlatan zu einem Ballkleide und weißen Taffet zum Unterkleide dazu. Schuhchen von weißem Taffet und von schwarzem Moiré, verschiedenfarbige Glace-Handschuhe und einen Apfel, in dem zwei blanke Goldstücke staken. Alles hatte der Onkel bedacht und besorgt, wie war er so liebevoll gegen die Waise, die man ihm anvertraut. Leonore küsste seine Hand.

»Onkelchen«, sagte sie mit feuchten, Freude glänzenden Augen: »Meine Mutter im Himmel wird es Gott sagen, wie gut Du es mit ihrem Kinde meinst.«

Warum zuckte er nur und zog seine Hand zurück und schlug sein Auge unwillkürlich zu Boden vor dem unschuldsvollen Blick des jungen Mädchens?

Auf Kanderns Gaben hatte Lorchen noch nicht zu sehen gewagt. Ihr Herz schlug ängstlich und sie schämte sich, in seiner Gegenwart von ihrem Geburtstage gesprochen zu haben, während sie sich doch so unsäglich über die Freundlichkeit freute, mit der er gestrebt, ihr Freude zu bereiten. Endlich gestattete sie sich, ihre Augen auf die Gaben des neuen Freundes zu heften. Es waren Bücher und Blumen, schöne Blumen, die ihre reizenden Köpfchen im hellen Lampenlicht wiegten. Je mehr sie dieselben betrachtete, desto höher schlug ihr Herz in heller seliger Freude. Draußen Frost und Winter, drinnen der blühende Frühling.

Sie kannte die Prachtblumen nicht einmal, denn sie hatte noch wenig Treibhauspflanzen zu sehen Gelegenheit gehabt, aber wunderschön waren sie, stolz und prächtig wie die Rosen, aber ohne deren weiche Zartheit und süßen Duft. Die Zweig- und auch die Blumenblätter wie aus Wachs gedrückt, fest, glänzend und beinahe durchsichtig. Dann wieder andere Stöcke, wo weiße oder rote Blüten wie Schmetterlinge zwischen den schmalen Blättern saßen. Leonore konnte schon nicht anders, sie sprang auf und küsste die schönen Blumen und glänzende Tränentropfen fielen auf ihre glänzenden Blätter.

»Tränen?« sagte Kandern leise, »warum betauen Sie die armen Blumen mit so kostbaren Perlen, Fräulein Leonore?«

»Weil sie so schön sind«, sagte das junge Mädchen, »Blumen im tiefen Winter machen mir immer das Herz so weh, lachen Sie mich darum nicht aus, Onkel Delbruck, ich kann mir doch nicht helfen, eine Blume im Zimmer, wenn draußen der Winterwind heult und der Schnee an die Fenster schlägt, kömmt mir immer und immer vor, wie ein verwaistes Kind, denn Sonnenschein und Frühlingsluft sind der lieben Blumen Vater und Mutter.«

Und die Tränen des jungen Mädchens flossen rascher und heißer, sie fühlte ihr blühendes Leben ohne der Frühlingsluft des Heimatsglückes.

»Armes Kind, arme Waise!« tönte es in ihrem Herzen, während sie von den Blumen sprach, empfand sie schmerzlich ihr eigenes Weh. Der Justizrat hatte indes eines der Bücher genommen und schlug das Titelblatt auf. Es waren Brandes Briefe an eine Dame, eine astronomische Schrift von Ruf und so populär gehalten, dass sie für Frauen eine Wissenschaft zugänglich macht, die man ohne mathematische Vorkenntnisse für unerfassbar hält. Das zweite, eine hübsche Flora Norddeutschlands mit schönen Kupfern, und das dritte eine Länder- und Völkerkunde.

»Der Tausend«, sagte er mit sarkastischem Lächeln, »eine junge, eben aus dem Pensionat kommende Miss könnte von Mylord, ihrem Papa, keine reineren und kühleren, und wie ich mir zu denken erlaube, keine unnützeren Bücher erhalten, als Sie, Baron, meiner kleinen Nichte zu Füßen legen.«

»Ich gab dieselben im vorigen Jahre meiner Schwester«, sagte Kandern ruhig, »und sie meint, nie größeren und dauernderen Genuss durch andere gefunden zu haben.«

»Hm!« entgegnete der Justizrat und dann mit den stechenden Augen zwinkernd und in seiner hässlichen Weise lächelnd, setzte er hinzu, »Ihre Schwester ist wohl eine Freundin von hübschen Einbänden und besieht sich dergleichen gern?«

Kandern achtete nicht darauf, als aber Leonore nach den Büchern griff, errötete sie und ein süßes Lächeln flog über ihre lieblichen Züge. Jedes dieser Bücher war ein Erinnerungszeichen an das erste Gespräch mit dem neuen Freunde, ein Erinnerungszeichen zugleich an ihre Kindheit, – in ihres Vaters Händen hatte sie diese Bücher gesehen und bisweilen hatte er ihr Einzelnes aus denselben mitgeteilt, und das junge Mädchen besaß einen kleinen Schatz von Naturkenntnissen, zwar nur fragmentarisch gesammelt, ohne System und Zusammenhang, aber darum vielleicht gerade umso mehr ihre Teilnahme und Wissbegierde aufregend. Der Blick, den sie auf den Geber dieses seltsam scheinenden Geschenkes richtete, war ein reicher Dank für ihn, es lag darin eine tiefe Anerkennung seiner Güte und eine Bestätigung gegenseitigen Verständnisses.

»Nun, Du wirst Dich also auf Astronomie legen, Lorchen, vielleicht auch auf Geologie, wirst Botanik treiben? Der Tausend, das wird schön sein«, sagte der Justizrat spottend. »Die Tante wird sich darüber sehr freuen, sie ist eine große Freundin von Gelehrsamkeit und liebt alle Wissenschaften.«

»Meine sel’ge Mutter, ihre Schwester, liebte sie auch«, sagte Lorchen harmlos, »mein Vater hat mir oft und oft erzählt, welche schöne Stunden sie in den ersten Jahren ihrer Ehe oft abends gehabt hätten, wenn sie zusammen spazieren gegangen wären, von den Wundern des Himmels und der Pracht der Erde sprechend. Er sprach auch oft mit mir darüber und sagte am Abende meines Konfirmations-Tages: obgleich die Astronomie dem positiven Glauben die Decke über dem Haupt, und die Geologie ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, so wären doch beide und überhaupt alle Naturwissenschaften die Wege, zum Wissen von Gott zu gelangen. Er sagte, Gott lebe für uns sichtbar in seinen Werken und führte mir den schönen Spruch des Apostels an: Denn dass man weiß, dass Gott sei, ist ihnen offenbart, denn Gott hat es ihnen offenbart, damit des Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen an seinen Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt.«

Die kleine Hand des Mädchens lag bei diesen Worten auf den Büchern, und ihre sanften Augen hingen mit dem Ausdruck stillen Entzückens an den Blumen.

Sie sah so fromm und so mild aus, so kindlich einfach und doch so geistig erregt, ein Heiligenschein hätte zu diesem holdseligen Gesicht keinen Widerspruch gebildet, und doch war das blaue Auge nicht das der ewig Heiligen Jungfrau, es war das einer jugendlichen Magdalene, die noch schuldlos in die Welt blickt, neugierig, hoffend und fromm zugleich. Der Justizrat blickte auf sie und sein Spott schwieg, er musste seine Augen senken vor den reinen, treuherzigen des Kindes und das sinnliche Wohlgefallen, das er für das reizende unschuldige Geschöpf fühlte, verwandelte sich in ein seltsam peinigendes brennendes Gefühl, dem vielleicht ähnlich, das Mephisto beim Anblick der seligen Engelknaben ausspricht, er wandte sich von ihr und sagte flüsternd:

»Nichts Liebenswürdigeres am Weibe als die Einfalt.«

Dann aber setzte er hinzu:

»Wenn es Dir Spaß macht, Leonore, Dich mit solchen gelehrten Dingen zu beschäftigen; so rate ich Dir, lass’ es die Tante nicht merken, sie ist der Meinung, dass einem Mädchen jedes Wissen, was den Kreis des ihrigen übersteigt, sehr schädlich sei, und stimmt sehr ernsthaft in die Behauptung Deines seligen Großvaters, der die Sucht seiner ältesten Tochter Anna, sich Kenntnisse zu erwerben, für den Grund ihres späteren Unglückes hielt, und am Ende mag er nicht so Unrecht gehabt haben, der ehrliche Alte. Kenntnis und Erkenntnis mögen Euch Weibern wenig nützen, wie schon die Geschichte Evas beweist. Meine Frau ist die beste Hausfrau von der Welt, sie hält Zimmer und Kammer wie geleckt, und kocht mit Christianens Hilfe und nach meiner Anweisung sehr gut; noch gilt sie dafür im Nähen, Flicken und Plätten nicht ihres Gleichen zu haben; ich fürchte, Lorchen, Du trittst nicht in ihre Fußstapfen, wenn Du Dich auf Astronomie und Botanik einlassest.«

»Ich denke doch, Onkelchen«, entgegnete das kleine Mädchen ganz heiter. »Tante Selma ist mit mir zufrieden, und wenn Du nur wüsstest, wie viel Zeit wir übrig haben, sie und ich, Du würdest Dich gar nicht mehr wundern, dass sie so gern Patience legt und ich mich so sehr über Bücher und Blumen freue. – Ach, wenn ich nur ein Vögelchen, einen kleinen Hund halten könnte, wie wäre das so schön! Blumen, die man pflegt, sind nur halb lebendig, sie danken uns, indem es ihnen wohl ist und die blühen und schön aussehen – aber ein Hund, ein Haustier, o die können auch schmeicheln!« –


Siebentes Kapitel.

Der nordische Winter war vergangen und hatte mit dem nordischen Sommer gewechselt; denn der Frühling dieser Gegenden besteht nur in den Träumen ihrer Dichter.

 

Baron Sigmund von Kandern war Ende Februar, nachdem er Leonoren noch ein Paket Bücher geschickt, ohne das Mädchen wieder zu sehen, nach Paris gereist und hatte sich bei dem Justizrat und dessen Gattin per Karte empfohlen. Es war für Lorchen ein rechter Kummer gewesen, als sie von der Abreise des Mannes hörte, den sie für ihren Freund gehalten; sie hatte darüber in der Stille und aus Herzensgrunde geweint. Guter Gott, außer dem fernen Vater, der so selten schrieb und dessen Briefe immer kürzer und kürzer wurden, hatte sie auf der ganzen Erde keinen einzigen Menschen, den sie wirklich und wahrhaftig lieb hatte. Tante Selmas Liebe war ihr zweifelhaft, weil die Tante, obgleich sonst eine gute Frau, doch gegen sie ganz besonders streng war und oft über Kleinigkeiten Stunden lang reden, ja geradehin schelten konnte; und in der Nähe des Onkels, der in Gegenwart anderer sie gar nicht ansah, obgleich er freundlich genug gegen sie war, wenn sie mit ihm allein, beschlich sie immer ein innerliches Grauen. Sie fürchtete den Justizrat nicht, weit ehe fürchtete sie die hübsche und so sanft redende Tante, aber – sie ekelte sich vor ihm. Seine eingesetzten Zähne, seine langen, blassen Hände, sein falsches Lächeln, sein oft so sonderbarer Blick mit dem Augenzwinkern, erregten ihren Widerwillen; und dann spottete er, so oft sich nur eine Gelegenheit fand, über Kandern, den Lorchen aus tiefstem Herzen lieb hatte, der ihr wie ein teurer älterer Bruder erschien und unter dessen Bilde sie sich alles Gute und Große, alles Männliche und Rechtliche vorzustellen gewöhnt hatte.

Tante Selma hatte die Absicht, die Johanniszeit auf dem Lande zuzubringen und wollte Lorchen zur Familie des Oberamtmanns Herbusch mitnehmen, mit welcher schon der alte Oberst von Korff auf freundschaftlichem Fuße gestanden; auch war Delbruck damit anfangs einverstanden, und alle Vorbereitungen zur Abreise waren bereits gemacht. Aber den Tag vor derselben meldete sich ein Rheuma so bedeutend und so zur Unzeit, dass die Tante schon nach Kaimehlen abschreiben wollte.

»Es wird nicht anders gehen, liebe Selma«, sagte der Leidende, »so leid mir’s auch um Dich und Deine gestörte Sommerfreude tut, aber allein mit Christiane und Wurmser kann ich unmöglich bleiben.«

Die Justizrätin seufzte und versicherte, dass es ja gar nichts auf sich habe, dass sie recht gerne bleibe, dass es ja auch nur ihre Pflicht sei, die ihr übrigens auch in Kaimehlen keine Ruhe lassen würde. Freilich wenn Leonore ein bisschen verständiger wäre, wenn man das träumende, leichtfertige Ding zu etwas brauchen könnte, da – mit sechszehn Jahren war sie selbst, die wackere Tante Selma, viel verständiger und viel, viel praktischer gewesen.

Man müsste es versuchen! warf Delbruck gleichgültig hin – mit Wurmser und Christianens Beistand sei das Mädchen am Ende doch zu brauchen. Er wolle doch gern seiner Frau die Reise und den ländlichen Aufenthalt gönnen, der ihrer Gesundheit und Schönheit stets so zuträglich. Tante Selma lächelte, sie hatte es sehr gern, wenn ihr Mann von ihrer Schönheit sprach. Man komplimentierte noch ein wenig miteinander und endlich war man einig, und Lorchen erhielt den Befehl, ihre Sachen auszupacken und sich zur Pflege des kranken Onkels vorzubereiten. Sie betrübte sich deswegen recht innerlich. Wieviel Freude hatte sie sich von der Reise versprochen!

Fahren, Meilen weit fahren durch den Sommersonnenschein; die wogenden Kornfelder sehen, zwischen deren schlanken Halmen rote Mohnköpfe hervor funkeln, und blaue Kornblumen wie Freundesaugen zu ihr hinüberschauen. Sich versenken in die dunklen Schatten des lieben Waldes, den silberhellen Strom vorübergleiten sehen und dem Segel des Schiffs mit den Augen folgen: das alles ging ihr nun verloren, sie blieb in der heißen, dumpfigen Stadt und allein neben dem Onkel. Wie peinlich war ihr die Vorstellung von den langen, langen Stunden, die sie ihm gegenüber würde zubringen müssen.

Die Tante reiste indes!

Lorchen sah mit feuchten Augen dem hübschen Wagen nach, der morgens vier Uhr mit der Glücklichen durch die stille Straße rollte.

Es war kühl und morgenfrisch. Auf den Eisenketten vor der Haustüre hingen Tauperlen, und der Kastanienbaum, gerade über vor dem Posthause, hatte alle Blätter voll Tröpfchen. Ein Stückchen blauen Himmels, an dem weiße Wolkenschäfchen sich sammelten, hing über der schlafenden Stadt. Der Nachtwächter ging vorüber und sagte freundlich:

»Guten Morgen, Fräulein Lorchen.«

Wie schön erschien ihr das alles.

»Ich will die Morgenstunde recht genießen, so sehr ich nur immer kann«, dachte sie, nahm oben einen Teil von Brandes Briefen, öffnete das Fenster des besten Zimmers und setzte sich lesend an dasselbe. Es kamen einzelne Stellen, die ihr, obgleich sie die Kupfertafeln aufschlug, unverständlich blieben und sie versuchte nun, sich über dieselben aufzuklären, in dem sie auf einer Schiefertafel Zeichnungen entwarf. Das war hübsch und die Zeit flog ihr dabei unter den Händen hin. Es schien ihr, indem sie mehr und mehr zum Verständnis der Größe, Regelmäßigkeit und Einfachheit des Naturganzen kam, als ob leise eine Hülle nach der andern von einer himmlisch schönen Natur, einem von ihr geahnten Götterbilde niedersänke. Das Köpfchen in die Rechte gestützt, den Zeigefinger der Linken als Zeichen in dem auf dem Schoße ruhenden Buche, betete sie in ihrem Herzen die Worte des Psalmisten:

»Herr, wie sind Deine Werke so groß und viel, Du hast sie alle weislich geordnet und die Erde ist voll Deiner Güte!«

Ihre Gedanken trugen sie auf Seraphsflügeln weit weg von der Erde, und mit ganzer Seele bei dem erhabenen Gegenstande, der sie beschäftigte, weilend, beschlich den ermüdeten kindlichen Körper der Schlaf. Sie fühlte ein Sichlosringen von etwas sie Hinderndem, Fesselndem. Sie sah sich selbst, schlafend am Fenster der Tante, den Kopf müde und träumerisch an die Wand gelehnt, während sie sich doch deutlich bewusst war, dass sie langsam, getragen von mächtigen Schwingen, ohne Furcht, ohne Schwindel, ohne ein Gefühl der Verwunderung emporschwebte in der unermessenen Bläue des Äthers.

Eine weiße Wolke zog vor ihr her, die schien ihr ein weißes, fliegendes Gewand zu sein, das ein Etwas verhüllte, das ihr unendlich teuer, dessen Dasein ihr Herz mit Freude erfüllte und stillen Trost auf die Stellen ihres Ichs goss, die sie ohne Aufhören schmerzen fühlte. Ohne die Hand auszustrecken, fühlte sie, dass sie sich festhielt an jenem flutenden Gewande, dass es ihr half, sich empor zu heben, und wie sie so da hinzog durch unendliche Räume, blickte sie nieder – unter ihr schwamm die Erdkugel, sie war ihr so fern, dass sie sie überblicken konnte. Das Meer deckte den schönen Stern, wie ein Gewand von Silberlohe, von dem das grüne, blühende Land wie von einer prachtvollen Stickerei verziert. Die Eisspitzen der Gletscher lagen darauf als blitzende Brillanten, der Sand der Wüste bildete einen goldenen funkelnden Gürtel darum, und die ziehenden Wolken umwebten alles mit einem zarten Schleier. Es war ein unbeschreiblich schönes Ganzes, was sich den entzückten Augen des jungen Mädchens zeigte und ihr Herz schlug hoch auf in unaussprechlicher Wonne. – Und wie sie umherblickte, da erkannte sie, dass ein Wesen neben ihr war, das Blicke unendlicher Liebe auf sie heftete, und eine Stimme, mild wie das Säuseln des Waldes, flüsterte ihr zu:

»Sieh, Leonore, wie klein die Erde wird mit allem, was sie enthält, wenn die Erkenntnis Dich über sie erhebt, und vergiss nicht, wie groß das Kleinste dem Herzen wird, wenn die Liebe Dich hineinversenkt. Ein Tropfen Wasser ist eine von Leben wimmelnde Welt, und der Stern, den Du Welt zu nennen gewöhnt bist, kaum ein Tröpfchen im Ozean des Alls. Lerne ––«

Ein heftiges, dröhnendes, widerwärtiges Lachen übertäubte die weiteren Worte, Leonore konnte sie nicht verstehen, sie fühlte, dass eine Hand sich kalt und schwer auf ihre Schulter legte und erwachte von einem eisigen Schauder überrieselt.


Achtes Kapitel.

Onkel Delbruck stand neben ihr und lachte, lachte so sehr und so laut, wie Lorchen es noch nie von ihm gehört hatte.

Als er sich endlich zu fassen begann, sagte er, auf das Buch zeigend, das noch immer dem Mädchen im Schoße lag:

»Nun, das gestehe ich, Leonore, Du studierst Deine Bücher mit lobenswerter Aufmerksamkeit, ich werde nicht verfehlen, Deinem Verehrer Kandern dies Resultat Deiner Beschäftigungen mitzuteilen. O Gott, ehre das weibliche Geschlecht, das sich gleich bleibt in allen Lebensaltern und Verhältnissen! Nein, nein, mein Schätzchen, die Wissenschaft ist nichts für euch, euer Feld ist die Liebe; über einem hübschen Roman wäre schön Lorchen nicht eingeschlafen,– gelt? –«

Das junge Mädchen antwortete nicht, ihr war zu Mute, als wäre sie sehr unsanft plötzlich aus den Wolken zu Boden gefallen, sie heftete einen fragenden, scheuen Blick auf das Gesicht des Justizrates: gehörte dasselbe noch zu ihrem Traum? Hatte ein böser Dämon seine Wohnung aufgeschlagen in dieser Gestalt, die ihr immer und immer so ängstigend erschien?

»Kennst Du mich nicht, Leonore? Ich glaube wahrhaftig, das Mädchen träumt noch fort mit offenen Augen«, sagte Delbruck, seine Hand noch einmal auf ihren weißen Nacken legend.

Sie fuhr zusammen wie vor der Berührung einer Schlange und große Tränen stürzten ihr über die Wangen.

»O Du hast mich erschreckt, Onkelchen!« flüsterte sie. »Ich träumte so süß.«

»Nun Dein Erwachen soll auch kein allzu trauriges sein, Kleine, höre mir zu und wische den Schlaf aus den Augen. Ich bin weit wohler als noch gestern und zweifle nicht, dass mein Anfall vorüber sein wird. Da ich nun in der Gegend von Kaimehlen Geschäfte habe, so werde ich übermorgen der Tante nachfahren und Dich mitnehmen. Freilich reisen wir ein wenig Kreuz und Quer, da ich unterwegs vielerlei Verrichtungen habe, umso vergnüglicher aber wird die Fahrt für uns beide werden, und Du wirst allerlei hübsche Leute kennenlernen.«

Warum konnte sich nur Lorchen nicht freuen? Warum schlug ihr Herz so seltsam bänglich, wenn sie an die Fahrt dachte? Mit dem Onkel in einem Wagen viele Stunden lang – o das war zu peinlich, ebenso gerne wäre sie neben einer Kröte, ja neben einem Krokodil allein gewesen.

»Packe Deine Sachen, Kind«, sagte der Justizrat, »und richte Dich so ein, dass wir zwei bis drei Nächte unterwegs sein werden, es lässt sich nicht anders machen.«

Wie schnell der Onkel genesen war! –

Lorchen war zu jung, zu unschuldig und ahnungslos, um an irgendeine Heuchelei oder an irgendetwas Absichtliches im Betragen ihres Verwandten auch zu denken.

Sie packte und ordnete, nahm Abschied von Christianen und saß zur festgesetzten Stunde neben Delbruck in einem eleganten Wagen. Der Kutscher, ein Stocklitauer, fuhr vom Sattelpferde aus, die Equipage war elegant, hatte Vorder- und Hinterverdeck, und man fuhr mit sechs polnischen Pferden.

»Ja«, sagte der Justizrat, als er die Wagentür zuschlug und das Fuhrwerk über das Pflaster donnerte, »das wird gehen wie auf Fausts Mantel. Oberinspektor Rauscher aus Wilkowischken hat mir sein Gespann und Fahrzeug geschickt, und dort bleiben wir die Nacht.«

Es war nachmittags zwei Uhr, und ein glühender Sommertag lag über der nordischen Sommerlandschaft. Ruhig floss der Memelstrom zwischen seinen grünen Uferhügeln dahin.

Anfangs folgte der Weg den Ufern des Flusses, bis er hinter einem litauischen Dörfchen in jenen göttlichen Tannenwald einbog, der unter dem Namen des Trakehner Forstes bekannt ist.

Es war sechs Uhr abends. Die Sonne stand schon niedrig genug am Horizont, um ihre langen schrägen Strahlen, zwischen den hohen Stämmen hindurch, auf den grünen Moosboden zu werfen. Der Wald gleicht hier den erhabenen Hallen eines gotischen Domes. Die Stämme steigen, schlanke, gerade Pfeiler der edlen Kronen tragend, kerzengerade empor und erst in ansehnlicher Höhe breiten sich die Zweige aus, bedeckt mit jenem dunkeln fast schwarzen Grün, das sich in zarter maigrüner Spitze endigt. Lange schlanke, fast rosigrote junge Tannzäpfen hängen von allen Zweigen nieder und ein tiefblauer Himmel spannt sein Zelt über die sommerstille Waldlandschaft.

Hier fuhr der Wagen langsam. Delbruck hatte dem Kutscher ein litauisches Wort zugerufen und dieser die Eile der Pferde gemäßigt. Die Luft war rein und durchwürzt von jenem eigentümlich schönen Duft, den nur der Tannenwald im Sommer aushaucht. Ein leiser Windhauch rauschte in den Zweigen, es schien, als ob die Baumriesen sich nur zueinander neigten um untereinander zu flüstern.

 

Leonore schaute aus dem geöffneten Wagenfenster und trank die reine milde Luft und den Waldesduft in vollen Zügen.

Sie hatte alles wieder vergessen über die Schönheit der sie umgebenden Natur. Selbst des Onkels Nähe erregte nicht mehr jenes Gefühl der Furcht und des Widerwillens. Sie war nicht allein mit ihm. Der Geist Gottes war bei ihr und machte ihr seine Gegenwart kund im Hauch und Flüstern des Waldes.

Tiefer und tiefer sank die Sonne, ihre goldnen Lichter tanzten auf dem Waldrasen. Das Herz des jungen Mädchens schlug rascher im entzückenden Genuss der Schönheit des Abends. Der laue Wind spielte um ihre Schläfen und wehrte die leichte Hülle zurück, die Hals und Nacken deckte. Mit einer raschen Bewegung bückte sich Delbruck und drückte einen heißen Kuss auf des Mädchens Nacken.

Leonore zuckte zusammen, zog aber nur das Mäntelchen fester um sich und sah mit einem etwas erschreckten Blick ihren Reisegefährten an.

»Gib mir die Weinflasche, Lorchen, die neben Dir in der Wagentasche steckt und den kleinen silbernen Becher.«

Sie tat, was er verlangte.

»Trinke mir zu, mein Liebchen, der Wein schmeckt noch eins so erfrischend, wenn schöne Lippen ihn kredenzen.«

»Ich danke, Onkel, ich kann keinen Wein trinken, der Abend ist drückend warm und ich bekomme Kopfweh.«

Der Justizrat leerte mehrere Becher hintereinander und sah dann, sich tief niederneigend, unter des Mädchens Hut. Der Ausdruck sanfter Unschuld lag auf dem jugendlichen Gesichtchen und ein gewisses Etwas, das der gewiegte Frauenkenner nie zu enträtseln vermochte, das ihn aber unendlich anzog und reizte. Leonore war keine Schönheit, sie war nur jung, einfach und lieblich. Tausend und abertausend Mädchen, die Delbruck gekannt hatte, waren schöner als sie, aber der tiefe Blick ihrer Augen, der eigentümliche Zug um den sehr feinen Mund, die Reinheit dieser hohen, klaren Stirn, die an die Madonnenbilder Raphaels erinnerte, bildeten ein Ganzes einzig in seiner Art und für Delbruck von unwiderstehlichem Reize. Er hätte einen Finger darum gegeben, das Auge leuchten zu sehen im Feuer der Leidenschaft, diese Wange erglühen zu fühlen von der Glut, die durch seine eigenen Adern rieselte.

»Du bist reizend, Mädchen!« sagte er und schlang den Arm um ihre feine Taille.

Lorchen errötete. Ihr Herz schlug plötzlich nieder in der Angst vor dem Onkel, und aller Widerwille, den sie je gegen ihn gefühlt, erwachte und ließ ein Zittern durch ihre Nerven rinnen.

»Fürchtest Du Dich, Mädchen?« flüsterte er, ihr näher und näher rückend, »nein, Du fürchtest mich nicht, kannst mich nicht fürchten, Du wärest kein Weib, wenn Du nicht längst gewusst, gefühlt, dass ich Dich liebe. Sprich, sprich, Leonore, Du weißt, was in mir glüht, Du wirst es teilen.«

Leonore fühlte all’ ihr Blut zum Herzen rinnen und dann plötzlich wie eine Springflut in ihre Adern zurückströmen. Sie wusste nicht, was der Onkel wollte, sie ahnte nicht, in welcher Gefahr sie schwebte, aber Furcht und Scham schlossen ihr den Mund, schweigend wandte sie sich ab und duldete bebend, dass Delbruck ihren Nacken mit wilden Küssen bedeckte, dass er sie näher und näher zu sich zog, mit seinen Lippen die ihren suchend. Sie befand sich in einem ähnlichen Zustand als dem des Alpdrückens; obgleich vollständig wachend, lähmte doch das Entsetzen alle ihre Nerven; wenn Delbruck einen Dolch gezogen und ihn auf ihre jungfräuliche Brust gesetzt hätte, die entsetzliche wahnsinnige Angst würde nachgelassen haben, ihr natürlicher Mut wäre zurück gekehrt, sie hätte einen Kampf mit etwas Wirklichem, ihr Bekanntem vor sich gesehen; jetzt erschien ihr der Mann in einer grauenhaften Leidenschaft ein furchtbares Gespenst, die Verkörperung des namenlos Grässlichen, das im Dunkeln lauert.

Sie konnte nicht sprechen, der Atem stockte ihr, sie fühlte sich schwach werden und konnte seiner rasenden Liebkosungen sich nicht erwehren. Sie krümmte sich in sich zusammen, beugte zitternd das erbleichende Gesicht auf die Brust und schlug krampfhaft die Arme ineinander.

So glich sie dem Vögelchen, das in der Todesangst das Köpfchen unter die Flügel steckt, aber Delbruck verstand die rührende Gebärde des Kindes nicht. Er glaubte, die Flamme der Sinnlichkeit in ihr durch seine Küsse, seine Blicke erwecken zu können und strebte nur nach der Möglichkeit, seine Lippen auf die ihren zu drücken, seine Augen in die ihren strahlen zu lassen. Er ergriff ihre bebenden Hände, bog sie mit Gewalt auseinander und versuchte sie um seinen Nacken zu legen, während er im Wagen vor ihr kniend, Worte wilder, zügelloser Leidenschaft ausstieß. Endlich war es ihm gelungen, ihren Kopf zu erheben und den ersten rasenden Kuss auf den sanften Kindermund zu drücken.

Aber in demselben Moment stieß der Wagen an einen im Wege liegenden Stein und die Tür an Leonorens Seite sprang weit auf. Wie ein Blitz durchzuckte diese Wahrnehmung die Seele des jungen Mädchens; mit einer heftigen und dem vor ihr Knienden ganz unerwarteten Anstrengung riss sie sich aus seinen Armen los, sprang, ohne den Tritt zu berühren, aus dem Wagen und floh wie ein gejagtes Reh waldeinwärts.

Einen Augenblick war der Justizrat völlig betäubt. Er hatte einen heftigen Stoß an die Schläfe bekommen, mit der er gegen den Eisenbeschlag der Wagentür gefallen, und dieser und das Plötzliche von Leonorens Handlung und die Täuschung seines wilden Verlangens wirkten gemeinschaftlich, ihn in einen Zustand der Besinnungslosigkeit zu versetzen. Als er zu sich kam, war das junge Mädchen nirgend mehr zu erblicken. Der Wagen fuhr langsam durch den herrlichen Wald und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne bemalten die braunen Stämme der Tannen mit einem Bronze-Streifen.