Ein Arzt in einer kleinen Stadt

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»Ah der ist ein ganz wackerer, respektabler Mann, etwas eigen und wunderlich. Mein Neffe, der Postsekretär, spielt oft mit ihm Schach oder Piquet manchen lieben schönen Abend, die Frau Rätin sieht es gern, wenn ihr Mann durch so etwas beschäftigt und angeregt wird. Ich selbst komme viel mit dem Rat zusammen, er findet Vergnügen an Chemie und das ist, wie ich Ihnen schon gestern sagte, meine Fachwissenschaft, denn ich bin Färber; aber sie ist auch mein Steckenpferd«, setzte er hinzu und sah ernst vor sich nieder, »ja und viel, viel hat dies Steckenpferd mir schon gekostet.«

Des Mannes Stirne war wieder so seltsam bleich geworden, wie es Franke schon einmal an ihm bemerkt hatte, wieder wischte er sich die perlenden Schweißtropfen und seine Augen glänzten unheimlich. Ein tiefes schweres Leid schien auf seiner Seele zu lasten. Der steife altfränkische Ausdruck machte einem Ausdruck bittern Wehs Platz in den breiten gutmütigen Zügen, ja momentan blitzte etwas durch dieselben, das wie Groll und Hass erschien. In solchen Augenblicken weckte des Gesicht des märkischen Pfahlbürgers Erinnerungen an die Züge gewisser Personen, die er in Italien gekannt und richtig – wenn er so von der Seite aufblickte, so das Auge von ihm abwandte mit einem Zusammenziehen der buschigen Brauen, sah er genau aus wie Jacopo, der tolle Maler, der ihm und seinem Freunde in Venedig so viel Interesse eingeflößt, mit dem sie zusammen so manche köstliche Sommernacht auf den Wellen des Canale grande verschwärmt hatten.

»Wenn es Ihnen Vergnügen macht – Sie sind ja Arzt und müssen deshalb schon gewissermaßen Freund von den Naturwissenschaften sein – so sehen Sie sich gelegentlich einmal mein Laboratorium an«, sagte der Senator, als er den Blick bemerkte, den Franke auf ihn geheftet hatte, »wir sprachen ja von Chemie, nicht wahr, Herr Doktor?« –

Franke bejahte es und sein Hauswirt erhob sich und sagte ihm mit einer steifen altmodischen Verbeugung gute Nacht.


Drittes Kapitel.
Die erste Praxis.

Es mochte Mitternacht sein. Der Schnee rieselte ganz leise und ganz weich von einem dunkel schwarzen Wolkenhimmel zur Erde nieder. In allen Häusern waren die Lichter bereits erloschen und alle Welt träumte in dem kleinen Städtchen. Sogar der Hund des Nachtwächters, der zu den Füßen seines Herrn im Schilderhäuschen lag, knurrte nur ganz schlaftrunken, als eine Frauengestalt, tief in einen Mantel eingehuscht, an ihm vorüber und nach dem Eckhause des Senator Wallfeld eilte. Der helle Ton der Klingel, welche Dr. Franke dort schon hatte befestigen lassen, schallte über den ganzen Markt und weckte alle Hausbewohner, nur eine einzige nicht, denn diese – Jakobine – hatte nicht geschlafen. Sie saß beim Scheine einer kleinen geschirmten Lampe, deren Licht nicht nach außen dringen konnte, und spann. Der Ofen war noch warm und im Zimmer wehte eine weiche reine Luft, durchwürzt von Rosendüften. Ein paar ungeheure Blumenkübel standen an dem einen Fenster und darin grünte dem Winter zum Trotze Myrthengesträuch so groß und so dicht, dass es einen Schirm vor dem Fenster bildete. Ein weißes Kätzchen lag schnurrend auf einem Kissen in der Nähe des Ofens und an der Wand hing ein von einem schwarzen Schleier verdecktes Bild.

Als der scharfe Ton der Klingel erschallte, fuhr die Bewohnerin dieses einfachen Gemaches von ihrem Sitze empor, errötete so stark, dass selbst die bleiche feste Stirne noch einen Rosenschimmer annahm, erbleichte dann und setzte sich langsam und traurig wieder nieder.

»Törin«, flüsterte sie leise vor sich hin, »die immer noch auf eine Erscheinung hofft, die nie wiederkehren wird. Dein Messias ist, wie der der Juden, einmal dagewesen und kehrt nicht mehr zurück.«

Die Klingel ertönte von Neuem, sie besann sich:

»Jemand sucht um Mitternacht den Arzt, – ich will aufmachen, ich darf mich ja nicht sehen lassen«, dachte sie und schlüpfte mit unhörbaren Tritten die Treppe hinab, öffnete und stellte sich hinter die Türe. Sie erkannte das Dienstmädchen aus dem Hause der Rätin Baum, und trat vor, um zu fragen, was bei ihrer Herrschaft geschehen sei.

»Ach Jesus, Fräulein Wallfeld«, sagte die Kleine, »unser Herr ist wieder krank, sehr krank, und Madame möchte den neuen Arzt um Rat fragen, vielleicht nur um einen Mann neben dem Rasenden zu haben. Die arme Frau! Das ist doch eine Kreuzträgerin und ein Gottesengel.«

»Geh’ hinauf zum Doktor«, entgegnete Jakobine die blassen Hände faltend; »Gott führt und prüft die Seinen wunderlich«, damit kehrte sie sich ab und schritt weiter in ihr stilles Stübchen zu ihrem Spinnrocken, der leise schnurrend ihren trüben Gedanken accompagnierte.

Wenige Minuten darauf eilte Doktor Franke mit seiner Führerin durch die schlafenden Straßen und stand bald vor dem Hause, in dem man vor wenigen Tagen seine Visite nicht angenommen. An der Türe empfing ihn eine Dame, die eine Wachskerze in der Hand trug. Franke sah sie an, ein Blick genügte, um ihn zu überzeugen, dass er vor einem der seltensten weiblichen Geschöpfe stand.

Beschreibungen müssen aber schon immer eine längere Zeit mitnehmen, wenn sie eine entsprechende Vorstellung von der Person erwecken sollen, die man vorzuführen beabsichtigt. Die Rätin Baum war groß, schlank und bleich; ihr Haar von einer seltenen Fülle, dunkelblond und leicht gelockt, und gab einen Kopf von plastischer Schönheit mit reichen, weichen Flechten. Ihr Auge von unbestimmbarer Farbe hatte jenen tiefen dunkeln Glanz, der an facettierten Stahl erinnert, und um Mund und Nase lag ein Ausdruck sanfter Festigkeit.

Ihre Stimme zitterte, als sie nach einem leisen Willkommen den Arzt bat, in ein Vorderzimmer zu treten, in das sie ihm voranging.

Dort heftete sie einen langen Blick auf ihn und sagte mit einem leisen Seufzer:

»Sie sind noch sehr jung, Herr Doktor.«

Franke lächelte.

»Es ist ein Unglück für einen Arzt, kein ehrfurchterweckendes Äußere zu haben. Vielleicht aber gelingt mir's mit Hilfe der Zeit, mir das freundschaftliche Vertrauen meiner Mitbürger zu erwerben, da ich auf das Ehrerbietige noch lange keine Ansprüche machen kann.«

»Verzeihen Sie, Herr Doktor, meine Äußerung; ich bin im Begriffe Ihnen einen tiefen Blick in das Innere meines Familienlebens zu gestatten und da ist's wohl natürlich, dass ich lieber einem Greise als einem sehr jungen Manne gegenüber zu stehen wünsche.«

»Gnädige Frau, wenn schmerzliche Erfahrungen geistige Reife geben, so bin ich wenigstens kein Jüngling mehr; auch ich habe gelitten, und wenn Sie mir ein schmerzliches Familien–Geheimnis mitzuteilen haben, so werden Sie in mir, außer dem besten ärztlichen Rate, den ich zu geben weiß, gewiss die auf richtigste Teilnahme finden.«

»Wohlan«, sagte Madame Baum, »mir bleibt keine Wahl; da es sich um Leben und Tod handelt, muss ich jetzt traurige Verhältnisse offenbaren, die ich bisher geheim halten konnte.«

»Rechnen Sie auf meine Teilnahme und Diskretion«, entgegnete der Arzt ermutigend.

Sie stützte den Kopf auf die Hand und sah trübe vor sich nieder.

»Ich bin, mein Herr, seit fünfzehn Jahren verheiratet.«

Unmöglich! wollte Franke sagen, aber er besann sich und verschluckte das Wort, das nur zu leicht wie eine Betise hätte klingen können.

»Meine Verheiratung erlöste mich aus sehr drückenden Verhältnissen, ich war ein blutarmes Mädchen und machte, wie man zu sagen pflegt, ein großes Glück. Mein Mann liebte mich sehr, er war mehrere Jahre älter als ich. – Er war reich, sein Herz ist gütig und liebevoll, er besitzt einen reifen Verstand. Nur ein bedeutender Charakter-Fehler, oder lieber eine Schwäche, entstellt und besudelt den Mann, der mein Gatte und meiner Kinder Vater ist. Er ist – nun ja, es muss gesagt werden – er ist ein heimlicher Trunkenbold. – Aber was der Welt auch verborgen blieb, der Gattin konnte es nicht verborgen bleiben. – Herr Doktor, ich habe alle meine geistigen Kräfte angestrengt, um den Unglücklichen von der Fessel seines Lasters zu erlösen. Umsonst! Seit drei Jahren leidet er an einem zeitweisen Wahnsinne, der jetzt so arg ist, dass ich durchaus die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen muss, die ich bis dahin von ihm ferne hielt. Wollen Sie den Unglücklichen jetzt sehen?«

Franke erhob sich.

Er war tief erregt von den Mitteilungen der Frau, die dem Arzte und Psychologen ein eigentümliches und sehr trauriges Gemälde aufrollten. Sie gingen durch einige Zimmer, die alle den Charakter häuslicher Behaglichkeit hatten, und blieben endlich an einer Türe stehen, durch deren Schlüsselloch ein heller Lichtschimmer fiel. Frau Baum legte die Hand auf den Drücker und warf einen festen Blick auf den Arzt, bevor sie öffnete und ihn eintreten ließ. Eine Lampe brannte an der Decke in sehr bedeutender Höhe und beleuchtete einen Schauplatz wilder Zerstörung.

Der Kranke, ein großer Mann, lag auf einem Sofa. Er war völlig gekleidet, aber aus der Weste bauschte sich vorne das Oberhemd hervor und hing in ein paar langen Fetzen über das Beinkleid nieder. Ein paar Stühle lagen in Trümmern am Boden, ein Tisch war umgeworfen und eine darauf stehende Wasserflasche zerschlagen, so dass das Wasser über die Dielen floss. Der Leidende musste eben einen Paroxysmus gehabt haben, der seine Kraft erschöpft, denn er lag regungslos, totenbleich, mit klappernden Zähnen und halbgebrochenen Augen.

Frau Baum trat zu ihm, ergriff seine Hand und sagte mit sehr sanfter Stimme:

»Allwin!«

Er hörte sie nicht, seine Brust begann zu fliegen, seine Hände zitterten. –

»Allwin!« wiederholte die Gattin.

 

Er schüttelte das wirre Haupt, dessen Haar schon stark ergraut war, und stöhnte endlich:

»Lass' mich, lass' mich nur, Maria.«

Sie kniete neben ihm nieder und schob ihren Arm unter seinen Kopf.

»Geh‘! Geh‘fort, geh‘gleich«, sagte er mit röchelnder Stimme.

»Lass' das Tier auf der Landstraße verenden, wo es hingehört, wer kümmert sich um eine sterbende Bestie.«

»Allwin!« sagte sie noch einmal.

»Genug, genug«, heulte er, »was willst Du von mir. Was hilft mir all’ Deine Güte, all’ Deine Freundlichkeit; ist das eine Möglichkeit, dass eine schöne, geistvolle Frau, wie Du, einen Caliban, ein Scheusal, wie mich, lieben kann?« –

Seine Stimme ging in ein Geschnaube über, seine Hände ballten sich, allmählich richtete er sich aus seiner liegenden Stellung empor, knirschte mit den Zähnen, schlug um sich und blickte mit Augen, die Feuer zu sprühen schienen, umher. Sie war aufgestanden und sah ihn fest an. So blickt ein Tierbändiger auf das Ungeheuer, das er zu zähmen beabsichtigt, so ernst, so sanft und so klar.

Das wilde Feuer im Auge des Rasenden schien vor diesem Blicke auszulöschen, er sank zusammen, verhüllte das Gesicht mit den Händen und weinte.

Franke trat nun seinem Patienten näher und machte seine Beobachtungen; die Symptome waren die bei diesem Elende gewöhnlichen, und mit leisem Geflüster gab er der Gattin die nötigsten Verhaltungsregeln. Es fand sich indes, dass sie diese bereits kannte und lange geübt hatte.

»Wer leistet Ihnen Hilfe bei der Pflege Ihres Mannes?« fragte der Arzt endlich.

»Außer einem Dienstmädchen, das ich erzogen, habe und das ziemlich alle Verhältnisse meiner Familie kennt, betritt niemand anderer als ich diesen Raum.«

»Aber wer bändigt den Kranken in den Momenten der Raserei?«

»Meine Augen, meine Stimme.«

»Wenn aber diese Mittel nicht ausreichen? Herr Baum ist ein riesenstarker Mann, und sein Zustand kann jeden Augenblick in eine Raserei umschlagen, die dem Leben so zarter Wesen, wie Sie, gnädige Frau und Ihre, jugendliche Dienerin, gefährlich sein dürfte.«

»Ich stehe in Gottes Hand, Herr Doktor, und lebe und sterbe auf meinem Posten. Ich fürchte die Paroxysmen des Mannes nicht, den ich bis jetzt noch immer durch ein liebevolles Wort lenken konnte. Ich werde unter keiner Bedingung einen Fremden in die traurigen Geheimnisse meines Familienlebens einweihen; einen rohen Krankenwärter vielleicht? Bis jetzt genießt mein Gatte der öffentlichen Achtung. Außer einigen vertrauten Freunden ahndet niemand weder seinen Fehler, noch die furchtbare Strafe desselben. Ich muss meiner Kinder wegen, meiner selbst wegen, einen siebenfachen Schleier über dieses entsetzliche Familienunglück ziehen. Meine Kraft wird ausreichen, so lange es Gott gefällt! – Zu Ihnen, mein Herr, habe ich das Zutrauen, dass Sie das traurige Geheimnis einer Frau bewahren, die Sie zu ihrem Vertrauten wählte, ohne Sie zu kennen, bloß auf das Wort einer Freundin hin, deren Achtung Sie sich sehr schnell gewonnen haben. Ich denke, ein Mann von Ehre wird und muss eine Frau in dem Streben, ihre Pflicht zu tun, unterstützen. Zudem sind Sie noch jung und Ihr Auge, Ihr ganzes Wesen hat einen Ausdruck, der mich hoffen lässt, in Ihnen mir im Laufe der Zeit einen Freund erwerben zu können.«

Franke fand keine Antwort: wenn höchste Bewunderung zur Freundschaft führen kann, so bin ich auf dem besten Wege zu derselben, wollte er sagen, aber das kam ihm wieder so trivial, so phrasenhaft vor und er schwieg daher gänzlich; aber in seinem Auge und in der einfachen Verbeugung, die er machte, lag eine so treuherzige Versicherung, dass Maria ihm die Hand reichte und mit Freundlichkeit sagte:

»Ich glaube Ihnen, Herr Doktor.« –

Er kam nach Hause. Die Stirne glühte ihm fieberhaft von der durchwachten Nacht und den vielfachen Gemütsbewegungen derselben. Einige Augenblicke erschien ihm die Frau, mit der er auf so seltsame Weise bekannt geworden, wie eine Heilige. Dann tadelte er leise ihren übertriebenen Stolz, dann dachte er mit Bewunderung ihrer fast erhabenen Schönheit, aber keine Minute verließ ihn die Erinnerung an sie. –

Doktor Franke war ein Mann von achtundzwanzig Jahren. Er hatte, wie wir wissen, in Paris und London geweilt, war durch die Straßen von Madrid geschlendert und hatte deutsche Lieder gesungen unter den Fenstern römischer Damen. Aber keine Frau hatte auf ihn einen Eindruck gemacht, der dem, unter dem er sich jetzt befand, auch nur entferntest zu vergleichen gewesen wäre. Wenn er seinen Reisegefährten bei sich gehabt hätte, so würde er ihm wahrscheinlich und zwar ganz wahrheitsgemäß gesagt haben, dass Maria Baum ein Weib sei, welche durchaus keine Leidenschaft erwecken könne. Der Ernst, die Festigkeit ihres Wesens erschienen ihm fast zu männlich, um jenes heitere, spielende Gefühl zu begünstigen, das er sonst Liebe genannt hatte. Sie war fünfzehn Jahre verheiratet und musste daher jedenfalls älter sein als er selbst, und eine Leidenschaft für eine ältere Frau hatte er bis dahin auch stets für eine garstige Karikatur gehalten. Dazu zog sich durch das ganze Wesen seiner neuen Bekannten ein gewisses Etwas, das ihm unter allen andern Verhältnissen drückend, ja in manchem Falle vielleicht lächerlich erschienen wäre. Ihr »Ich lebe und sterbe auf meinem Posten«, so wie die Worte »Ich stehe in Gottes Hand«, die sie ein paarmal wiederholte, hätten für ihn sonst einen Anstrich von Bigotterie, von Pietismus gehabt, der ihm jede andere Frau unangenehm oder lächerlich gemacht haben würde. In Mariens Munde waren sie ihm erhaben erschienen, es hatte in der Art und Weise, mit der sie sich auf ihre Pflichten berufen, auf ihren Gott gestützt hatte, ein Adel, eine Wahrheit gelegen, die dem jungen Weltmanne beneidens- und bewundernswürdig schienen.

O glücklich derjenige, der bei den schwierigen Lagen, in die das Leben ihn versetzt, eine andere Stütze hat, als bloß sein Ehrgefühl. Glücklich derjenige, der ein Auge über sich glaubt, das ihn bewacht, eine Hand, die ihn stützt, einen Willen, in dem der eigene Wille aufgehen kann wie der Strom im Meere.

Franke ging in seinem Zimmer auf und ab und betrachtete den Winterhimmel, der von grauen Wolken bedeckt war.

Ganz unten am Horizont webte die untergehende Sonne einen Saum von Purpur und Gold um den schweren Wolkenmantel und einzelne Licht- und Glutstrahlen schossen unter demselben von Zeit zu Zeit hervor.

»O Menschenleben, grau in grau«, sagte Franke vor sich hin, »der Glaube ist die Sonne, die dir Licht und Glanz verleiht. Welch ein Elend, dass diese geistige, diese göttliche Sonne nichts ist, als ein Spiegelbild, zusammengesetzt aus den Wünschen und Träumen unsrer eigenen Brust. Unter dem Messer des Anatomen, unter dem Mikroskop des Naturforschers, in den Schmelztiegeln des Chemikers, unter dem Spaten des Geologen zerfliegt das schöne Sonnenbild eines persönlichen Gottes, und an seine Stelle tritt das kalte tote Gesetz und die ewig mit ihm sich gattende Materie. Wir arbeiten auf dieser Welt, um unser Dasein zu fristen und tun das Rechte, um vor unseren eigenen und anderer Augen nicht als Lumpe dazustehen. Grau in Grau – alles, was wir anseh'n, denken, fühlen. Es lohnt kaum zu leben, und selbst das Vergnügen, der Genuss – was ist's? – Ein Moment, in dem ein Blitz durch die öde Dunkelheit zuckt. Wer glauben könnte! – glauben! pah, glauben ist schlafen; erwachen müssen wir alle und ich glaube, ich träume jetzt und zwar von einer stolzen und schönen Frau. Dummes, dummes Zeug!« und damit rieb er sich die Stirne und ging hinab zu seinem Wirte, dessen chemisches Laboratorium er besehen sollte. –


Viertes Kapitel.
Im Laboratorium.

»Sie sind wohl in den Laboratorien der großen Naturforscher unserer Tage gewesen, da Sie sich in London und Paris, in Wien und Palermo aufhielten?« fragte der Senator.

Franke musste dies verneinen.

»Haben Sie Orfila gekannt?«

»Nur zufällig.«

»Örsted?«

»An ihn hatte ich Empfehlungen, aber keine Gelegenheit sie abzugeben.«

»Das ist wunderbar! Mediziner, weit und breit umhergereist und mit solchen Männern keine Verbindungen geknüpft, das ist wirklich wunderbar und seltsam.«

»Mein lieber Herr Senator«, sagte Franke lächelnd, »ich bin kein so großer Freund der Chemie, ja ich fürchte diese Wissenschaft sogar ein wenig. Es ist ein schlimmes Ding, alles und jedes auf diesem Erdboden sich in gewisse Grundstoffe auflösen zu sehen, die sich überall gleichbleiben. Eiweiß und Stärkemehl und etwas von irgendeinem Gas, das sind die Bestandteile aller Dinge und Wesen. Der Begriff des Lebens fliegt dem Chemiker unter der Hand zum Schornstein hinaus und ich sage mit Goethe:

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie

Und grün des Lebens gold'ner Baum.«

»Natürlich, in Ihren Jahren und in Ihren Verhältnissen, aber der Chemie tun Sie Unrecht, sie zerstört nicht nur, sie schafft auch und schafft des Schönen und Nützlichen so viel. Ich bin auf praktischem Wege zur Theorie, zur Wissenschaft gekommen und der Anfang meines Wissens ist nur gering. Aber schon für mein früheres Geschäft sind einige chemische Kenntnisse ganz unerlässlich. Und welche seltsame Welt der Ursachen und Wirkungen eröffnet uns diese Wissenschaft, die außer dem so sehr ins praktische Leben eingreift. Hier zwischen meinen Tiegeln und Retorten möchte ich Ihnen auch einige Worte Goethes anführen, an die ich mich hier oft gemahnt fühle:

Schau aller Wirkens Kräfte Samen,

Und darf nicht mehr in Worten kramen.«

»Nun, ich weiß nicht«, entgegnete Franke, »ob in den Retorten und Tiegeln des Chemikers wirklich die Ursachen, die Samen aller Kräfte entwickeln lassen. Ich für mein Teil sehe diese lang schnäbligen Gefäße, diese verdeckten Retorten nie an, ohne an die zerstörenden Kräfte denken zu müssen, die sich in ihnen entwickeln. Wie ein Kind vor Gespenstern fürchte ich mich bisweilen vor Giften und vor dem Brauen derselben. Die Geschichten der Tofana, der Brinvilliers stattet meine Phantasie stets aus mit solchen Kammern, wie diese hier, angefüllt mit mancherlei wunderlichen Gefäßen, in denen das Verderben zischt und sprudelt. Aber ich denke mir auch nur ein Weib in solchen Räumen walten, das Verbrechen des Giftmischens ist ganz eigentlich ein weibisches. Es ist verwandt mit dem Wirkungskreise des Weibes und wie uns die Hausmutter aus ihrer Küche liebend und sorgsam Leibes-Nahrung und Stärkung, ja so eigentlich das Leben gibt, so braut und kocht das entartete Weib den Tod in ihrer Höllenküche.«

Der Senator hatte sich wieder gesetzt, als Franke zu sprechen begonnen. Seine Stirne war wieder bleich geworden, und als er die Augen erhob, lag in dem dunkeln, schweren Blick, der wie ein Wetterstrahl den jungen Arzt traf, abermal diese unverkennbare Erinnerung an seinen seltsamen Bekannten in Venedig.

»Hören Sie auf, junger Mann«, sagte endlich Wallfeld – »hören Sie auf, Sie töten mich.«

Er hielt die Hand vor die Augen und neigte einige Augenblicke den Kopf, wie keuchend unter einer schweren Last. Dann richtete er sich empor, und sprach gefasster:

»Dies muss anders werden! – Schon mehrere Mal haben Sie die ewig schmerzende Stelle meines Familien-Unglücks auf raue Weise berührt. Es ist nicht Ihre Schuld! Wer eine Verwundung hat, muss die Nachbarn darauf aufmerksam machen, sonst berühren sie dieselbe ohne Ahndung, dass sie Pein erregen. – Ich glaubte, jeder Mensch kenne unser Schicksal, es war uns fast, als müsse es uns an der Stirne geschrieben sein. Sie aber sind fremd hier und haben uns wahrscheinlich nie nennen hören, bevor Sie unser Haus betreten?«

Franke bejahte dies.

»So muss ich es eigentlich in Ihre Willkür stellen, ob Sie künftig unter unserm Dache bleiben wollen oder nicht, und, so schwer es mir wird, Ihnen sagen, dass über dem Haupte meiner unglückseligen Stiefschwester seit Jahren der Verdacht des Giftmordes schwebt. Zwar haben die Gerichte nichts ermitteln können, sie ist aus dem Gefängnisse entlassen, aber mehrere schreckliche Tatsachen in ihrem Prozesse sind unaufgeklärt geblieben, und bis nicht ein Engel erscheint, der den Schleier von der Vergangenheit und – von den Gräbern nimmt, wird Jakobine nie ihr Angesicht mit Ehren unter Menschen zeigen können.«

»Aber das ist ja ein grässliches Schicksal, werter Herr«, sagte Franke tief ergriffen von der einfachen Erzählung des Mannes, »und Ihre Schwester ist ein unsäglich unglückliches Wesen.«

 

»Wohl ihr, wenn sie bloß unglücklich ist«, sagte der Senator, »Unglück ist besser als Schuld und ich als Bruder bin natürlich der Letzte an ihre Schuld zu glauben, ich –« er versank wieder in minutenlanges Träumen, richtete sich dann rasch empor und sagte:

»Sie kennen uns nun und werden uns entweder verlassen oder schonen.«

Franke reichte seinem Hauswirte die Hand und gab ihm mit Herzlichkeit die Versicherung, in jeder Beziehung Rücksicht auf seine eigentümliche Lage nehmen zu wollen.

»Sie werden von uns sprechen hören, Herr Doktor, wenn Sie längere Zeit hier sind. Der böse Leumund ist unsterblich. Glauben Sie an das Unglück, so lange die Schuld nicht erwiesen ist und bitten Sie die Vorsehung, dass sie die Wahrheit ans Licht ziehe.«

Franke ging in dem beschränkten Raume des gewölbten Laboratoriums auf und ab.

»Wohl Ihnen, mein Herr, wenn Sie bei dem schweren Unglück, das Sie betroffen, an das Walten einer Vorsehung überhaupt noch glauben können. Ein einziger Blick in das klare, reine Gesicht Ihrer Schwester müsste, wie ich glaube, hinreichen, jeden Richter von ihrer Unschuld zu überzeugen, und doch haben Verhältnisse sich so gefügt, dass der eigene Bruder an die Möglichkeit einer Schuld bei ihr glaubt. Wenn wirklich eine weise liebevolle Hand die Schicksale der Menschen lenkte, wie wäre das möglich? Wie wäre es möglich, dass auf dem Haupte eines Menschen sich so viel Elend sammeln könne, wie auf dem, der –« er fühlte, dass er im Begriff gewesen, ein Geheimnis zu verraten und schwieg.

Senator Wallfeld sah ihn an und sagte:

»Sie waren in voriger Nacht bei dem Rate Baum?«

»Sie sagten mir, dass Sie die Familie kennen«, entgegnete der Doktor.

»Ja! Und seit vielen trüben Jahren. Frau Baum ist die einzige Freundin meiner unglücklichen Schwester, und ist ihr in allen ihren Leiden treu geblieben.«

»Es scheint eine charaktervolle und tüchtige Frau zu sein.«

»Eine Frau, wie es wenige auf Erden gibt«, sagte der Senator. »Ich erzählte Ihnen schon, dass wir Nachbarn waren. Sie und Jakobine sind zusammen aufgewachsen. Ihr Vater war wie der unsrige Tuchmacher. Das Haus hier nebenan gehörte ihrer Familie seit Jahrhunderten. In kleinen Städten, mein Herr Doktor, ist es etwas anderes, wie in der großen Welt, alles ist bei uns dauernder, stabiler, Wohnung und Hausrat vererbt sich vom Vater auf den Sohn. Bei uns besonders, wo das Handwerk gleichsam erblich war, blieb Jahrhunderte lang alles sich gleich in den Verhältnissen des Lebens, bis vor circa dreißig Jahren der Kommerzienrat Werl hierher zog mit vielem Gelde und englischen Maschinen. Der Handarbeiter kann, auch wenn er nicht ohne Kapital ist, neben der Maschinenkraft nicht aufkommen. – Mein Vater schloss bald sein Geschäft und lebte von seinen Renten. Der Vater Mariens arbeitete so lange mit seinen Spinnern und Webern fort, bis sein Bankerott ausbrach, ungefähr sechs Jahre nach der Gründung von Werls Fabrik. Sein Ruin war auch sein Tod, mitten in dem Elende und den Arbeiten, die ein Fallissement hervorbringt, rührte ihn der Schlag. Die Familie blieb ohne Stütze, ohne Rat, in völliger Armut zurück. Damals war Maria zwölf Jahre alt, mit zwanzig verheiratete sie sich, aber auch in ihrer Ehe blieb sie die Freundin meiner Schwester, die wenige Jahre älter ist als sie. Sie können daher wohl glauben, dass wir, Jakobine und ich, den Charakter unserer Jugendgespielin und Nachbarin kennen, sie ist eine außerordentliche Frau.«

Ein Umstand in dieser kleinen Erzählung interessierte den Doktor besonders; der nämlich, dass auch Marie den Wechsel der Verhältnisse, von Reichtum oder mindestens von Wohlhabenheit zu Armut, kennengelernt hatte; zwar war er der Meinung, dass bei ihr der Abstand wohl nicht so groß und plötzlich als in seinem eigenen Leben gewesen sein dürfte, aber dennoch kam es ihm vor, als ob dadurch eine gewisse Verwandtschaft zwischen ihm und der Frau, die ihn so lebhaft beschäftigte, vermittelt würde. Das Laboratorium des Senators enthielt nichts, das besonderer Aufmerksamkeit wert gewesen wäre.

An einem der Schränke sah man die Spur, dass er einst versiegelt gewesen sein müsse, und Franke setzte den kleinen roten Lackfleck in seinen Gedanken in Verbindung mit dem Familienunglück, von welchem er heute gehört. Welche Verwirrung, welcher Jammer mochte in diesem Hause geherrscht haben zur Zeit, als die Gerichte ihr Siegel auf jenes Schloss drückten.