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2.1.2 Intransparent

Die Stilisierung der Buchstaben kann sich auf die Lesbarkeit der Graffitis auswirken. Wenn die Schrift stark verfremdet ist, können szeneexterne Rezipienten, die keinen geschulten Blick für das kreative Spiel mit den Farben und Formen entwickelt haben, die Buchstaben nicht erkennen (VAN TREECK 2003: 103). Zwar gibt es durchaus Graffitis (im weiteren Sinn), die sich auch für szeneexterne Betrachter als bedeutungsvolle Zeichen zu erkennen geben. Als Beispiele sind hier Parolen (z.B. von Fußballfans), Appelle, Zitate und auch politische Botschaften zu nennen, die sich „explizit an die Öffentlichkeit richten“ und somit durch eine leserfreundliche Gestaltung gekennzeichnet sind (KAPPES 2014: 463). Auch im Szenegraffiti werden mitunter klare Buchstabenformen gewählt, wie in Abb. 3 zu sehen ist. Die Buchstaben werden durch die graffititypische Gestaltung somit nicht per se unlesbar. 1


Abb. 3: Lesbarer Style von DIAS (28188)

Für viele Werke des Szenegraffitis lässt sich jedoch feststellen, dass „die beabsichtigte ästhetische Wirkung der Schrift ihre Lesbarkeit, also die Erkenn- und Unterscheidbarkeit der Buchstaben massiv beeinflußt“ (DITTMAR 2009: 127). Die Werke müssen beispielsweise länger betrachtet werden, bevor sich ihre Schriftlichkeit erschließt. Wendet man das Konzept der Transkriptivität von JÄGER (2010) an, so lässt sich sagen, dass diese Formen intransparent sind, weil sie nicht auf ungestörte Lesbarkeit abzielen (TOPHINKE 2019: 367). Transparenz kann man als „Zustand ungestörter medialer Performanz ansehen, in dem das jeweilige Zeichen/Medium mit Bezug auf den Gehalt, den es mediatisiert, verschwindet, transparent wird“ (JÄGER 2010: 317). Eine Schrift ist demzufolge transparent, wenn sie in ihrer Bildlichkeit für das Lesen optimiert ist, sodass der Rezipient sofort zur Bedeutung durchdringt. Die Materialität des Zeichens wird dabei nicht weiter relevant. Demgegenüber liegt JÄGER zufolge im Verlauf der Kommunikation eine „Störung“ vor, wenn „ein Zeichen/Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird“ (2010: 318).2 Man könnte somit sagen, dass Intransparenz bzw. die „Störung“ des Lesens zur Typik des Szenegraffitis gehören. TOPHINKE (2019: 367) weist allerdings darauf hin, dass dieser Mangel an Transparenz in den Graffitis kein Defizit darstellt, denn die Störung „macht auf die gestalterischen Eigenschaften der betreffenden Graffitis aufmerksam, an denen sich die Qualität des Graffitis innerhalb der Szene bemisst“.

Am Ende einer Skala der Transparenz bzw. Intransparenz stehen die Graffitis, deren Buchstaben so ineinander verschlungen sind, dass die zugrunde liegenden Formen nicht mehr erkennbar sind. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich die jeweiligen Types3 der Buchstaben nicht ausmachen lassen.4 Für Notationssysteme, zu denen auch die Alphabetschrift zählt, gilt jedoch als grundlegend, dass die einzelnen Zeichen „disjunkt“ und „endlich differenziert“ sind (GOODMAN [1995], 2012: 130, 132). Das Charakteristikum der Disjunktivität eines Schriftzeichens besagt,

dass Schriftzeichen Abstraktionsklassen sind, die sich in ihren Elementen nicht überschneiden: Ein ,a‘ darf nicht zugleich ein ,d‘ sein, während alle Versionen von ,a‘ sich wechselseitig vertreten können. (KRÄMER 2006: 77)

Mit anderen Worten muss für den Leser in einem funktionierenden Notationssystem erkennbar sein, welchem Type sich ein bestimmtes Token zuordnen lässt (GRUBE UND KOGGE 2005: 15). Mit „endliche[r] Differenzierung“ ist in Bezug auf Notationssysteme des Weiteren gemeint, dass die Zeichen nicht ineinander übergehen, sondern durch einen Abstand voneinander getrennt sind (GOODMAN [1995], 2012: 132).5

Für das Szenegraffiti lässt sich nun feststellen, dass Strukturmerkmale wie die Disjunktivität und die endliche Differenzierung mit zunehmender Stilisierung der Zeichen schwinden. Abb. 4 enthält Beispiele aus Mannheim und zeigt, wie die Lesbarkeit abnimmt, wenn die Disjunktivität und die Differenzierbarkeit der Formen nicht mehr gegeben sind. Rechts neben dem gut lesbaren Schriftzug CPUK steht beispielsweise der Name MIKI, was (ohne Vorwissen) kaum noch dekodierbar ist. Die Lesbarkeit wird dadurch erschwert, dass sich zwischen den Buchstaben keine differenzierende Lücke findet und sie stattdessen übereinandergeschichtet sind. Beim Graffiti ÄRIS in der darunter liegenden Zeile wird die Lesbarkeit dadurch erschwert, dass die Formen teilweise nicht disjunkt sind. Das |R|6 könnte auch ein |P| sein, das |S| eine Fünf. Dennoch ist das Graffiti noch lesbar. Im Beispiel rechts daneben sind hingegen nur noch Teilformen erkennbar, die sich nicht mehr zu einem Buchstabentype zusammenfügen. Die Formen, aus denen sich das Tag zusammensetzt, lassen sich daher kaum noch als Grapheme interpretieren und wirken stattdessen eher als Figuren. Die Formen gehen somit – so könnte man sagen – von Graphemen zu Figuren über, je stärker endliche Differenzierung und Disjunktivität schwinden.


Abb. 4: Der Übergang von Graphemen zu Figuren

Neben der Schriftgestaltung können auch inhaltliche Aspekte die Sinnzuweisung im Graffiti beeinflussen. Das „Meaning-making“7, also das Aushandeln von Sinn und Bedeutung, wird für die Rezipienten beispielsweise erschwert, wenn Graffitis als Wörter ohne eine lexikalische Bedeutung erscheinen. Dies ist insbesondere bei den Graffitinamen der Fall: Da die Writer in ihrer Namenwahl relativ frei sind, werden Namen oftmals aus Neologismen gebildet.8 Bei Namen wie PANIK (30796) und HOPE (30762) erfassen die Rezipienten zumindest die konzeptionelle Semantik, auch wenn Szeneunkundige diese Graffitis wohl nicht als Namen, sondern eher als Appellativ interpretieren würden. Ist bei einem Graffiti hingegen keine transparente Semantik erkennbar, ist das „Meaning-making“ für Außenstehende noch schwieriger. So aktiviert ein neologistischer Name wie WES weder eine konzeptionelle Semantik, noch kann er einem Referenzobjekt zugewiesen werden. Für szeneunkundige Rezipienten bleiben diese Graffitis daher oft rätselhaft.

2.1.3 Transgressiv

Das Konzept der transgressiven Zeichen führen SCOLLON UND SCOLLON in ihrer Monographie „Discourses in Place“ (2003) ein. In dieser diskutieren sie im Rahmen einer „Geosemiotik“, wie sich die Bedeutung von sprachlichen und anderen Zeichen in Abhängigkeit von ihrer Platzierung ergibt.1 Zeichen gelten dabei als transgressiv, wenn sie an einem falschen Ort platziert sind (2003: 146). Dass Zeichen „falsch“ platziert sein können, basiert auf der Annahme, „that there is in each community some geosemiotic system which tells members where signs and messages may appropriately appear and where they may not“ (SCOLLON UND SCOLLON 2003: 148f.).

Graffitis können SCOLLON UND SCOLLON zufolge aufgrund ihres „Emplacement“ und ihrer fehlenden Autorisierung als transgressiv bewertet werden (2003: 151).2 Ähnlich äußert sich AUER, der Zeichen, die „weder dem Prinzip des privaten Raumbesitzes noch dem Prinzip des öffentlich-staatlichen Raumprivilegs folgen“, als transgressiv bezeichnet und auch Graffitis zu diesen transgressiven Zeichen zählt (2010: 295f.). Indem sie die Aufteilung und Normierung des öffentlichen Raums durchbrechen, überschreiten sie die geltenden Regeln (lat. transgredi ‚überschreiten‘, ‚hinübergehen‘). Werden Graffitis hingegen an einem „richtigen“ Ort platziert und ist die Anbringung autorisiert – was bei legalen Auftragsarbeiten der Fall ist –, werden sie nicht mehr als transgressiv empfunden; SCOLLON UND SCOLLON sprechen dann von „decontextualized transgressive semiotics“ (2003: 151).

Wichtig für das Verständnis des Szenegraffitis ist jedoch, dass die Transgressivität der Zeichen für die Akteure selbst hochrelevant ist. Die Writer stellen häufig in Interviews heraus, dass das unerlaubte Handeln ein zentrales Merkmal des Writings darstellt, wie das folgende Zitat des Writers RESP1 belegt:

Permission walls are fine, but bombing is definitely more of what graffiti is. Bombing is part of getting up [and] bombing is part of being a real writer. Doing things illegally, things that are challenging [are] a part of it all […]. You wouldn’t really be a writer without doing those things. If you just did permission walls you would just be a muralist, which doesn’t really have anything to do with graffiti. (RESP1 zitiert in JONES 2007: 5)

Wie RESP1 herausstellt, werden legal arbeitende Writer in der Szene mitunter nicht respektiert. TIMER aus Montreal berichtet im Interview mit RAHN (2002: 110) sogar, wie sich ein Freund von ihm abwandte, als er mit der kommerziellen Vermarktung seiner Kunst erfolgreich wurde: „We met and started doing some cool stuff until ’95 and then he got really known like me, but was saying to everyone that TIMER is an artist and I hate artists – stuff like that.“ (TIMER zitiert in RAHN 2002: 110) An diesen Aussagen zeigt sich, dass das illegale Handeln – also das bewusste Herstellen transgressiver Zeichen – zum Selbstverständnis der Szene gehört. Das Szenegraffiti ist somit untrennbar mit Illegalität verbunden, was es von allen anderen Formen der Schriftlichkeit im öffentlichen Raum unterscheidet (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 180).3

Ob Graffiti jedoch adäquat als „visuelle[s] Kampfspiel auf und um die Flächen der Stadt“ (2014: 454) beschrieben werden kann, wie KAPPES in ihrem Aufsatz „Graffiti als Eroberungsstrategie im urbanen Raum“ schreibt, muss kritisch hinterfragt werden. Denn häufig bevorzugen Akteure gerade abgelegene leer stehende Fabrikgelände oder verwahrloste Bereiche der Stadt wie Unterführungen und Autobahnbrücken. TOPHINKE stellt diesbezüglich fest, dass „[d]as Bild einer aggressiv-destruktiven Graffiti-Kultur, die in gepflegte städtische Zonen einbricht, […] in diesem Sinne überzeichnet“ ist (2016: 426).

 

2.1.4 Ortsfest und ephemer

Graffitis sind ortsfest, weil sie – im Gegensatz zu Schrift auf traditionellen Schreibmaterialien wie Papyrus, Pergament und Papier – in materialer Hinsicht an den Ort gebunden sind, an dem sie entstehen (TOPHINKE 2017: 167f.).1 In der Regel können sie somit weder transportiert noch verkauft oder in einer Galerie ausgestellt werden. FERRELL UND WEIDE weisen darauf hin, dass die Graffitis keinesfalls zufällig oder beiläufig entstehen, sondern sich die Writer viele Gedanken über die Wahl des richtigen Ortes und Untergrundes machen, „discriminating between locations and surfaces according to precise subcultural criteria shared across different neighborhoods and cities“ (2010: 51).2 Ist der richtige „Spot“ gewählt, verbleiben die Werke dort – angebracht auf Untergründen wie Beton, Holz, Metall oder Stein –, bis sie entfernt oder übermalt werden.

Im öffentlichen Raum sind Graffitis prinzipiell „vulnerable to all sorts of erasure“ (FERRELL 2016: xxxiv). An Halls of Fame3 oder auf anderen beliebten Flächen wie Unterführungen werden Graffitis oft von anderen Writern überschrieben, an Hauswänden werden sie von den Eigentümern entfernt. Hinzu kommt, dass sie durch ihre Ortsfestigkeit ungeschützt vor Wind und Wetter im öffentlichen Raum verbleiben, sodass die Farbe langsam verblasst und abgetragen wird.4 Ein Konservieren einzelner Werke erfolgte bisher nur in einigen wenigen Fällen.5 Somit lässt sich sagen, dass es sich bei Graffitis um ein „ephemere[s] Kulturgut“ handelt (PAPENBROCK 2015: 183).

Besonders kurzlebig sind Graffitis auf Zügen, weil sie hier in der Regel sofort wieder entfernt werden. Von den Zuggraffitis, die teilweise qualitativ sehr hochwertig gefertigt wurden, ist heute keines mehr erhalten; die Werke liegen nur noch als Fotografien vor (PAPENBROCK 2015: 178). Darüber hinaus wird das Besprühen von Zügen für die Writer zunehmend durch die starken Sicherheitsvorkehrungen in den Bahndepots und die neuen technischen Möglichkeiten der Überwachung erschwert. Während den New Yorker Sprühern in den Anfangsjahren noch mehrere Stunden Zeit für das Besprühen eines Zuges blieb, haben die Sprüher heutzutage nur noch etwa fünf Minuten bis zum Eintreffen der Polizei (PAPENBROCK 2015: 169).

Wie lange ein Graffiti Bestand hat, hängt damit stark von dem Ort ab, an dem es angebracht ist. An seinem Anbringungsort kann es wenige Stunden bis hin zu vielen Jahren überdauern. Die Zeichnungen des Züricher Sprühers Harald Naegeli, für die er Anfang der 80er-Jahre wegen Sachbeschädigung verurteilt wurde, werden heute beispielsweise mit Lack überzogen und konserviert. Andere seiner Werke werden aus der Hauswand „herausoperiert“, um sie in Galerien auszustellen.6 Diesbezüglich erscheint es sehr treffend, was SCOLLON UND SCOLLON zu transgressiven Zeichen sagen: „We should be aware […] that what is ‘transgressive‘ at one time can become itself a semiotic system that can be used symbolically at another time or in another place.“ (2003: 151)

An der Wand konserviert werden jedoch nur die wenigsten Formen. Im Bereich des Szenegraffitis hat es bislang gar keine derartigen Bemühungen um Erhaltung gegeben. Die Szene verschafft sich daher auf einem anderen Weg Abhilfe, um ihre Werke vor dem dauerhaften Verschwinden zu bewahren: Sie fotografiert die Graffitis und stellt sie im Internet aus (FERRELL 2016: xxxiv).7 PAPENBROCK weist darauf hin, dass die Vergänglichkeit der Graffitis dadurch jedoch nicht aufgehalten wird, weil auch das Internet ein flüchtiges Medium ist (2015: 171).

Graffitis sind zwar in materialer Hinsicht an einen Ort gebunden, die Ortsbindung besteht jedoch nicht in semantischer Hinsicht (TOPHINKE 2017: 167). Die meisten Szenegraffitis können an beliebigen Orten platziert werden, ohne dass dies ihre konzeptionelle oder referenzielle Semantik beeinflussen würde.8 Damit unterscheiden sie sich von anderen Formen der Schriftlichkeit im öffentlichen Raum, die sich häufig gerade dadurch auszeichnen, an den räumlichen Kontext gebunden zu sein, in dem sie platziert sind (vgl. dazu AUER 2010). Diese Formen werden auch als indexikalisch bezeichnet. Eine semantische Ortsbindung besteht beispielsweise bei Warnschildern mit der Aufschrift „Achtung Rutschgefahr“, die typischerweise an oder auf frisch gewischten Flächen platziert werden (AUER 2010: 276). HENNIG (2010: 82) argumentiert, dass bei derartigen Formen ortsgebundener Schriftlichkeit der verbale Code (die Beschriftung) mit anderen Zeichensystemen (z.B. bildlichen Elementen) und dem Ort der Anbringung interagiert und sich das „grounding“9 (LANGACKER 2008: 260ff.) dieser Formen über dieses Zusammenspiel ergibt. Rezipienten können das Schild „Achtung Rutschgefahr“ demzufolge richtig interpretieren, weil die lokale und temporale Gültigkeit der Aufforderung durch den Ort, an dem das Schild platziert ist, und das Hier und Jetzt gegeben sind (HENNIG 2010: 82).

Es gibt auch Graffitis, die einen indexikalischen Bezug aufweisen. Diese Formen beziehen sich direkt auf die Umgebung und sind von dieser in semantischer Hinsicht abhängig. Ein Beispiel für indexikalische Graffitis zeigt Abb. 5: Auf diesem Foto ist der Schriftzug SPASTEN! mit einem Marker an eine Haustür geschrieben worden (24866). Die Platzierung klärt hier über die referenzielle Bedeutung des Substantivs auf: Die Wortsemantik bezieht sich offensichtlich auf die Bewohner des Hauses. Bei einer anderen Platzierung würde sich die Bedeutung des Graffitis dementsprechend verändern.


Abb. 5: Indexikalisches Graffiti

Bei den meisten Szenegraffitis liefert der räumliche Kontext demgegenüber keinen Hinweis für die Interpretation. Dies gilt insbesondere für die Graffitinamen: Der referenzielle Bezug der Graffitinamen ergibt sich nicht aus ihrer Platzierung. Daher ist AUER zuzustimmen, der Graffitis mehrheitlich zu den nicht-indexikalischen Zeichen zählt (2010: 279).10

2.1.5 Öffentlich

Wenn es um eine generelle Beschreibung des Phänomens Graffiti geht, so wird in verschiedenen Publikationen der „öffentliche Raum“ herangezogen, um Graffitis zumindest grob räumlich verorten zu können.1 Dabei ist jedoch oft nicht ganz klar, was genau der Begriff „öffentlicher Raum“ umfasst. Ein Raum kann zunächst mit DE CERTEAU als „ein Ort, mit dem man etwas macht“ verstanden werden (1988: 218). Eine Straße wird beispielsweise erst durch die Passanten, die sich in ihr bewegen, zu einem Raum; Räumlichkeit setzt dementsprechend Bewegung voraus (DE CERTEAU 1988: 218f.). Nicht ganz einfach zu bestimmen ist jedoch, wann ein Raum als öffentlich gilt.2 Es kann selten eindeutig zwischen privaten und öffentlichen Bereichen unterschieden werden. Erschwert wird eine Begriffsbestimmung zusätzlich durch verschiedene Definitionen, bei denen je nach disziplinärem Hintergrund ein anderer Fokus vorliegt.

Für eine generelle Verortung der Graffitis eignet sich eine weit gefasste Definition des öffentlichen Raums, bei der es weniger um die Eigentumsverhältnisse und mehr um die Zugänglichkeit zu Räumen geht. Ein solches Begriffsverständnis wird auch im „Metzler Lexikon Kunstwissenschaft“ zugrunde gelegt, wenn es um die Beschreibung von „Kunst im öffentlichen Raum“ geht. Der öffentliche Raum umfasst demnach diejenigen Bereiche, „die der Bevölkerung ohne Beschränkung zugänglich sind“ (DOGRAMACI 2011: 242). Gleichzeitig gehören zum öffentlichen Raum auch „Zonen reduzierter Zugänglichkeit“ wie Banken und Schulen und sogar private Bereiche wie Hotelhallen und Einkaufspassagen, solange sie von einer größeren Öffentlichkeit besucht werden können (DOGRAMACI 2011: 242).

Den öffentlichen Raum bei einer Verortung von Graffiti zu nennen, ist sinnvoll, weil dieser Aspekt – was mit der Transgressivität der Zeichen einhergeht – für die Akteure selbst äußerst relevant ist. Dies lässt sich exemplarisch an einer Aussage des Hamburger Writers ZAK darlegen, der im Interview gefragt wird, wie wichtig die Umgebung für seine Werke ist: „Sehr wichtig. Ich bin ja kein Studio-Gangster. Graffiti muss draußen sein, damit es lebt, sich frei entfalten kann und wahrgenommen wird.“ (ZAK in Juice 115/2009: 100) Auch FERRELL UND WEIDE, die die Platzierung von Graffitis untersuchen, stellen fest, dass

[a]bove all, graffiti writers seek recognition, and in order to get the recognition they crave, they need people to see their graffiti. Because of this, each act of writing graffiti involves a deliberate decision weighing visibility, location and risk. (2010: 51)

Das Szenegraffiti ist damit an den öffentlichen Raum gebunden. Wie auch ZAKs Aussage anzeigt, geht es primär um die Sichtbarkeit der Werke: Die Graffitis sollen gesehen werden – und zwar sowohl von Szenemitgliedern als auch von Passanten, die, ob gewollt oder ungewollt, ebenfalls zu Rezipienten gemacht werden. Dies zielt darauf ab, die Writer bekannt zu machen, denn – wie LEWISOHN treffend formuliert – „Fame is the name of the game in graffiti writing“ (2008: 43).

Schrift im öffentlichen Raum ist Gegenstand der Linguistic-Landscape-Forschung (vgl. dazu GORTER 2006, BACKHAUS 2007, SHOHAMY UND GORTER 2009, SHOHAMY ET AL. 2010, AUER 2009, 2010). Nach einer viel zitierten Definition von LANDRY UND BOURHIS konstituieren sich Linguistic Landscapes insbesondere durch „[t]he language of public road signs, advertising bill-boards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings“ (1997: 25).3 In dieser frühen Definition werden Graffitis noch nicht als Bestandteil der Linguistic Landscape gewertet. In späteren Publikationen, z.B. bei PENNYCOOK (2009, 2010), finden Graffitis jedoch Berücksichtigung. Allerdings bilden sie innerhalb der Linguistic-Landscape-Forschung nach wie vor einen eher marginalen Untersuchungsgegenstand.

Es wurde bereits darauf hingewiesen – und auch die Definition von LANDRY UND BOURHIS (1997) macht dies deutlich –, dass Graffitis im öffentlichen Raum nicht isoliert stehen, sondern von einer Vielzahl weiterer ortsfester Schrift umgeben sind. Wie das Foto in Abb. 6 zeigt, das im Mannheimer Stadtbezirk Neckarstadt-West aufgenommen wurde, erscheinen Graffitis etwa in direkter Umgebung zu Ladenschildern („Stadtteilbüro“), Postern (Einladung zur „Stadtteilgruppe“), Fensterwerbung („Waschen 7–10 Uhr“, „1,90 €“) und Hausnummern („28A“).


Abb. 6: Verschiedene Formen ortsfester Schriftlichkeit im öffentlichen Raum (31057)

Die Linguistic-Landscape-Forschung unterscheidet diese Formen in Top-down- und Bottom-up-Zeichen, je nachdem, ob sie offiziell von Behörden (Top-down) oder inoffiziell von Unternehmen oder Privatpersonen zu Werbezwecken (Bottom-up) angebracht wurden (GORTER 2006: 3). Daran zeigt sich, dass die Anbringung von Zeichen im öffentlichen Raum auch von der „Agentivität und Macht“ der Zeichenproduzenten zeugt (AUER 2010: 295). Sie symbolisieren „die Macht der Agenten, die sie angebracht oder aufgestellt haben“ (AUER 2010: 295). Da die Autorenschaft der Zeichen für die Rezipienten jedoch gar nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, ist es „die Struktur des Zeichens selbst, die seine Autorität zu einem wesentlichen Maß garantieren muss“ (AUER 2010: 296). Straßenschilder und Verkehrsschilder, für deren Herstellung ein verhältnismäßig großer technischer Aufwand betrieben wird und die somit auch auf dauerhafte Gültigkeit ausgelegt sind, vermitteln dementsprechend mehr Autorität als Zettel (AUER 2010: 296). Noch weniger Autorität geht von Graffitis und anderen handschriftlich hergestellten Zeichen im öffentlichen Raum aus (AUER 2010: 296).